L 9 R 666/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 8 R 275/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 666/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 5. Februar 2021 wird verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1962 in B geborene Kläger, der die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, ist 1993 aus K nach F gezogen. In B war er als gelernter Agrartechniker beschäftigt, in Deutschland als Maurer mit Gesellenbrief bzw. LKW-Fahrer. Nach eigenen Angaben war er zudem in den Jahren 2010, 2011 und 2014 bis 2018, teilweise nur für wenige Monate, in der S beschäftigt.

Einen Antrag des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung vom 25.06.2017 lehnte die Beklagte mit einem an den bevollmächtigten Rechtsanwalt übersandten Bescheid vom 04.10.2018 und mit der Begründung ab, die Mindestzahl von 36 Monaten Pflichtbeiträgen sei im maßgeblichen Zeitraum vom 01.06.2011 bis 24.06.2017 nicht erreicht, weil nur 17 Monate an Pflichtbeiträgen festgestellt seien.

Hiergegen legte der Kläger am 29.10.2018 Widerspruch ein.

Mit einem am 13.02.2019 bei der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg eingegangenen Antrag vom 05.02.2019, die diesen mit Schreiben vom 21.02.2019 an die Beklagte weiterleitete, beantragte der Kläger erneut die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Diesen Antrag lehnte die Beklagte – wiederum mit der Begründung, der Kläger erfülle die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Rente nicht – mit Bescheid vom 20.03.2019 ab. Der Bescheid wurde dem Kläger an eine Adresse in der S übersandt.

Mit Schreiben vom 02.05.2019 zeigte der bevollmächtigte Anwalt die Mandatsniederlegung an.

Mit Widerspruchsbescheid vom 03.09.2019 wies die Beklagte den Widerspruch gegen „den Bescheid … vom 04.10.2018 in Gestalt des Bescheides vom 20.03.2019“ zurück. Dieser Widerspruchsbescheid wurde laut Aktenvermerk am 03.09.2019 ausgefertigt und am 04.09.2019 zur Post gegeben.

Am 24.01.2020 hat der Kläger beim Sozialgericht Freiburg (SG) vorgesprochen und die hier streitige Untätigkeitsklage erhoben mit dem Antrag, die Beklagte zu verurteilen, einen Widerspruchsbescheid zu erlassen.

Die Beklagte hat hiergegen erwidert, dass eine Untätigkeit der Beklagten nicht vorliege, weil über die Rentenanträge des Klägers mit den Bescheiden vom 04.10.2018 und 20.03.2019 sowie dem Widerspruchsbescheid vom 03.09.2019 entschieden worden sei. Der Widerspruchsbescheid sei an die Anschrift J-Straße 7, in F adressiert worden. Dies sei die zuletzt bekannte und aus dem Akteninhalt hervorgehende Anschrift gewesen.

Das SG hat eine erweiterte Melderegisterauskunft bei der Stadt F beigezogen, die eine Meldung unter dieser Adresse seit dem 26.02.2018 bestätigte.

Der Kläger selbst hat dies unter Vorlage einer weiteren Meldebescheinigung bestätigt und ein Schreiben des Betreuungsbüros K1, in H, vorgelegt, mit dem handschriftlichen Vermerk „Das ist meine gesetzliche Betreuer“. Ferner hat er mit am 16.10.2020 beim SG eingegangen Schreiben ausgeführt, er erhebe Klage gegen den nunmehr vorliegenden abschlägigen Widerspruchsbescheid. Die Klage ist vom SG unter dem Aktenzeichen S 8 R 3622/20 geführt und mit Gerichtbescheid vom 05.02.2020 abgewiesen worden; die Berufung ist unter dem Aktenzeichen L 9 R 667/22 beim Senat anhängig.

Ohne weiteres Anschreiben ist am 27.10.2020 der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 03.09.2019 beim SG eingegangen.

Das SG hat Herrn K1 von dem anhängigen Verfahren Kenntnis gegeben, worauf dieser den Betreuerausweis zu den Akten gereicht hat. Der Aufgabenkreis umfasst Gesundheitsfürsorge, Postangelegenheiten in den eingerichteten Aufgabenkreisen, Umgang mit Ämtern, Behörden und Versicherungen sowie Wohnungsangelegenheiten; der Betreuer vertritt den Betroffenen im Rahmen seines Aufgabenkreises gerichtlich und außergerichtlich. Ferner hat er mitgeteilt, die Sache mit dem Kläger besprochen zu haben, dieser wolle die Klage aber nicht zurückziehen.

Mit an den Betreuer K1 und die Beklagte zugestellten Schreiben hat das SG auf die Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, hingewiesen und mit Gerichtsbescheid vom 05.02.2021 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Untätigkeitsklage sei unzulässig. Gegenstand dieser Klage sei allein die Bescheidung eines Antrags oder Widerspruchs. Die Beklagte aber habe zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 24.01.2020 bereits über den Widerspruch des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 03.09.2019 entschieden gehabt. Die Umstellung der Klage stelle eine Klageänderung dar; ihre Zulässigkeit sei an § 99 Abs. 1 und 2 SGG zu messen. Sachdienlichkeit liege nicht vor, da die Untätigkeitsklage von Anfang an unzulässig gewesen sei.

Gegen den dem Betreuer K1 mit Zustellungsurkunde vom 11.02.2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger mit einem am 01.03.2022 beim SG eingegangenen Schreiben Berufung eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand beantragt. Er hat ausgeführt, ein paar Monate im Ausland und sehr krank gewesen zu sein.

Der Betreuer K1 hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, dass seine Zuständigkeit als rechtlicher Betreuer am 15.04.2021 geendet habe. Er habe seinen letzten persönlichen Termin mit dem Kläger am 06.02.2021 gehabt, bevor ab 13.04.2021 Rechtsanwalt B1 die Betreuung übernommen habe. In der Zeit dazwischen habe der Kläger Terminangebote zu einem persönlichen Treffen nicht angenommen. Er habe dem Kläger in diesem Termin die Korrespondenz mit dem SG ausgehändigt und darauf hingewiesen, dass es zu einer Abweisung der Klagen kommen werde. Die Gerichtsbescheide habe er am 11.02.2021 an dessen Postadresse bei der Notunterkunft der Stadt F gesandt. Es sei von dort nicht retourniert worden. In dem in Mehrfertigung vorgelegten Begleitschreiben wies der Betreuer den Kläger auf den Beginn der Rechtsmittelfrist hin.

Das Amtsgericht F hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, dass eine Betreuung mit Beschluss vom 05.11.2021 aufgehoben worden sei. Derzeit werde erneut geprüft, ob eine Betreuung eingerichtet werden müsse. Ein angefordertes Gutachten liege noch nicht vor.

Der Kläger hat ausgeführt, er habe die Berufung nicht fristgerecht einlegen können, weil er unter gesetzlicher Betreuung gestanden habe und sein Betreuer (Rechtsanwalt B1, in F) nicht aktiv geworden sei. Eine gesetzliche Betreuung sei beantragt, eine weitere Nachricht habe er noch nicht erhalten.

Herr T, Amt für Soziales - Zentrum für wohnungslose Menschen -, hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, dass die Ausgabe von Dokumenten nicht dokumentiert werde. Wenn es zu einer Stornierung der Postadresse komme, sende er förmliche Zustellungen mit einem Begleitschreiben an die Absender zurück.

Unter dem 03.08.2022 hat sich der vom Amtsgericht F zum gesetzlichen Betreuer bestellte Herr L unter Vorlage seines Betreuerausweises legitimiert. Sein Aufgabenkreis umfasst die Entgegennahme, das Öffnen und Anhalten der Post, die Gesundheitsfürsorge, Heimangelegenheiten, Vermögenssorge, die Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgem und Wohnungsangelegenheiten. Der Betreuer vertritt zudem den Betroffenen im Rahmen seines Aufgabenkreises gerichtlich und außergerichtlich.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 5. Februar 2021 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 4. Oktober 2018 in Gestalt des Bescheides vom 20. März 2019 und des Widerspruchsbescheides vom 3. September 2019 zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat zur Begründung auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden verwiesen und hält die Berufung für unzulässig.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.



Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist unzulässig, weil sie verspätet eingelegt worden ist.

Gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist die Berufung beim Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist beim Sozialgericht eingelegt wird (§ 151 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Berufungsfrist gemäß § 151 Abs. 1 SGG ist hier versäumt.

Die Berechnung der Berufungsfrist richtet sich nach § 64 SGG. Die Frist beginnt mit dem Tage nach der Zustellung des Urteils/des Gerichtsbescheides zu laufen (§ 64 Abs. 1 SGG) und endet mit dem Ablauf desjenigen Tages, welcher nach Benennung oder Zahl dem Tage entspricht, in den das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt (§ 64 Abs. 2 SGG). Fällt das Ende einer Frist auf einen Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag oder einen Sonnabend, so endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages (§ 64 Abs. 3 SGG).

Der angefochtene Gerichtsbescheid enthält eine zutreffende Rechtsmittelbelehrung. Sowohl die Frist für die Berufung, die Form der Berufungseinlegung und die Stellen, bei denen die Berufung eingelegt werden kann, sind zutreffend benannt (§ 66 Abs. 1 SGG).

Der Gerichtsbescheid des SG vom 05.02.2021 ist dem gesetzlichen Vertreter des Klägers, zu dessen Aufgabenkreis ausweislich des Betreuerausweises
Umgang mit Ämtern, Behörden und Versicherungen und Postangelegenheiten in den eingerichteten Aufgabenkreisen gehörte und der den Kläger im Rahmen dieser Aufgabenkreise gerichtlich und außergerichtlich vertrat, ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 11.02.2021, am 11.02.2021 zugestellt worden. Nach § 64 Abs. 1 SGG hat der Lauf der Berufungsfrist mit dem Tage nach der Zustellung, also am 12.02.2021, begonnen und nach § 64 Abs. 2 Satz 1 SGG mit Ablauf des 11.03.2021 geendet. Die im Urteil enthaltene Rechtsmittelbelehrung ist vollständig und weist insbesondere auf die Monatsfrist des § 151 SGG hin.

Die Berufung ist indes erst am 01.03.2022 beim SG (§ 151 Abs. 2 SGG) eingegangen und daher verspätet eingelegt worden.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 Abs. 1 SGG. Nach dieser Vorschrift ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 67 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die Tatsachen zur Begründung der Wiedereinsetzung sollen glaubhaft gemacht werden (§ 67 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Kläger war jedenfalls nicht ohne Verschulden gehindert, die Berufungsfrist einzuhalten. Die Berufungsfrist ist nur dann ohne Verschulden nicht eingehalten, wenn diejenige Sorgfalt angewandt wird, die einem gewissenhaften Prozessführenden nach den gesamten Umständen nach allgemeiner Verkehrsanschauung vernünftigerweise zuzumuten ist, so dass auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt durch einen gewissenhaft Prozessführenden die Versäumnis der Verfahrensfrist nicht vermeidbar gewesen ist (BSG, Urteil vom 27.05.2008 - B 2 U 5/07 R -, juris, MKLS/Keller, 13. Aufl. 2020, SGG § 67 Rn. 3 m.w.N.).

Abzustellen ist hier auf den damaligen gesetzlichen Vertreter des Klägers. Der Betreuer ist innerhalb seines Aufgabenkreises gesetzlicher Vertreter des Betreuten. Der Aufgabenkreis des damaligen Betreuers war hier auch betroffen, wie oben bereits festgestellt wurde.
 
Der Betreuer war nicht ohne Verschulden verhindert, die Frist für die Berufungseinlegung einzuhalten. Insoweit ist allein auf das Fristversäumnis abzustellen und nicht (auch) darüber zu entscheiden, ob eine solche Berufungseinlegung geboten gewesen ist, nachdem auch die prozessrechtlichen Voraussetzungen vom SG verneint worden waren. Jedenfalls war es dem damaligen Betreuer ohne weiteres möglich, Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG einzulegen, um die Rechte des Klägers zu sichern; gerade und auch, weil sich der Kläger mit diesem auf dessen Schreiben vom 11.02.2021 nicht in Verbindung setzte.

Da somit die Berufungsfrist nicht ohne Verschulden des Klägers nicht eingehalten worden ist, verwirft der Senat die nicht fristgemäß eingelegte Berufung als unzulässig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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