L 3 SB 4739/17

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SB 2727/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 4739/17
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 21.11.2017 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.



Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Herabstufung des Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 20.

Bei der 1965 geborenen Klägerin wurde mit Abhilfebescheid vom 10.10.2006, gestützt auf die versorgungsärztliche Stellungnahme vom September 2006 (Depression: Einzel-GdB 50; Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke: Einzel-GdB 10; degenerative Veränderungen der Wirbelsäule: Einzel-GdB 10) ein Gesamt-GdB von 50 seit 14.07.2006 festgestellt. Mit Bescheid vom 03.12.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.02.2009 setzte der Beklagte den GdB von bisher 50 auf 30 herab, weil sich die Depression gebessert habe. In Umsetzung eines vor dem Sozialgericht Ulm (SG) abgegebenen Anerkenntnisses stellte der Beklagte mit Bescheid vom 28.01.2010 den GdB mit 50 über den 05.12.2008 hinaus fest.

Der Beklagte veranlasste im Herbst 2012 eine Nachprüfung von Amts wegen, holte hierzu Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie eine Stellungnahme der Klägerin zu ihrer derzeitigen Behandlung auf nervenärztlichem Gebiet ein und veranlasste hierzu eine versorgungsärztliche Stellungnahme. Z verwies in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom Januar 2013 darauf, dass sich die Klägerin in keiner psychotherapeutischen Behandlung mehr befinde und eine regelmäßige Einnahme von Psychopharmaka unwahrscheinlich sei, nachdem auch eine ärztliche Verordnung hierzu nicht belegt sei. Es sei davon auszugehen, dass sich die psychische Situation der Klägerin stabilisiert habe. Er empfahl einen Einzel-GdB von 20 für die Depression bei ansonsten unveränderten Einzel-GdB und einen Gesamt-GdB von 20. Nach vorheriger Anhörung hob der Beklagte mit Bescheid vom 14.02.2013 den Bescheid vom 28.01.2010 auf und stellte den GdB ab 19.02.2013 nur noch mit 20 fest. Im anschließenden Widerspruchsverfahren legte die Klägerin einen Befundbericht des G, vom 11.03.2013 vor, wonach die Klägerin sich nach einer vierjährigen Pause erstmalig wieder Anfang März 2013 vorgestellt habe und bei dieser eine rezidivierende depressive Störung, aktuell in Gestalt einer Teilremission einer mittelgradigen Episode, vorliege. Gestützt auf eine weitere versorgungsärztliche Stellungnahme der Ärztin P vom Juli 2013, die die Einschätzung von Z bestätigte, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.09.2013 den Widerspruch der Klägerin zurück. Im anschließenden Klageverfahren vor dem SG (S 9 SB 3125/13) teilte G in seiner schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage vom November 2013 mit, er habe die Klägerin regelmäßig bis zum September 2009 und dann erstmalig wieder am 08.03.2013, ohne Folgetermine, behandelt. Er diagnostizierte eine mittelgradige depressive Episode in Teilremission mit dem Schweregrad leicht bis mittelschwer bei leicht gedrückter Stimmung, nach anamnestischen Angaben leicht reduziertem Antrieb und unauffälliger Psychomotorik. Im Erörterungstermin vor dem SG vom 07.04.2014 legte die Klägerin eine Mehrfertigung eines Arztbriefes des Z1 vom März 2014 vor. In diesem Termin gab der Vertreter des Beklagten folgendes Anerkenntnis ab:

„Der Bescheid vom 14.02.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.09.2013 wird aufgehoben“.

Die Klägerin nahm das Anerkenntnis an. Ausweislich der Niederschrift reichte der Kammervorsitzende die Mehrfertigung des Z1 an den Beklagtenvertreter zur weiteren Veranlassung weiter.

Mit Bescheid vom 06.05.2014 stellte der Beklagte „in Ausführung des Anerkenntnisses des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 07.04.2014“ den GdB mit 50 über den 18.02.2013 hinaus fest und berücksichtigte dabei folgende, der Bewertung des GdB zu Grunde liegende Funktionsbeeinträchtigungen: Depression, Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Wirbelsäulenverformung. Gestützt auf die Einschätzung der P vom 08.05.2014, wonach auch die neu vorgelegten Befunde keine abweichende Beurteilung rechtfertigen würden, hob der Beklagte nach vorheriger Anhörung mit Bescheid vom 01.07.2014 die Bescheide vom 06.05.2014, 28.01.2010 und 10.10.2006 auf und setzte den GdB ab 04.07.2014 nur noch mit 20 fest. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Prüfung der vorliegenden aktuellen medizinischen Unterlagen bzw. der erhobenen medizinischen Befunde hätten zu dem Ergebnis geführt, dass eine wesentliche Besserung der Depression und der damit einhergehenden Funktionsbeeinträchtigungen eingetreten sei. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29.07.2014 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 26.08.2014 Klage beim SG erhoben und begehrt, ihr weiterhin einen GdB von 50 zuzuerkennen. Das SG hat eine sachverständige Zeugenaussage des B, Klinikum W, veranlasst, in welcher dieser über einen einmaligen Kontakt im November 2015 berichtet und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwer, diagnostiziert hat. Auf den Hinweis der Kammervorsitzenden im Erörterungstermin vom 09.02.2017, maßgebliche Vergleichsgrundlage für die wesentliche Änderung dürfte hier der Zustand, der dem Bescheid vom 06.05.2014 zugrunde gelegen habe, sein, hat der Beklagte mitgeteilt, man habe mit diesem Ausführungsbescheid keine neue Sachentscheidung getroffen; nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) komme einem Ausführungsbescheid ohnehin keine Verwaltungsaktqualität zu.

Mit Urteil vom 21.11.2017 hat das SG den Bescheid vom 01.07.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.07.2014 aufgehoben. Der Beklagte könne die von ihm vorgenommene Aufhebung nicht auf § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) stützen. Die Feststellung einer wesentlichen Änderung sei anhand eines Vergleichs zwischen der Sach- und Rechtslage bei Erlass des Bescheides vom 06.05.2014 und derjenigen zum Zeitpunkt des Aufhebungsbescheides, hier also des Bescheides vom 01.07.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.07.2014, vorzunehmen. Es könne dahingestellt bleiben, ob einem Ausführungsbescheid Verwaltungsaktqualität zukomme. Ein Regelungscharakter sei jedenfalls beizumessen, wenn im Ausführungsbescheid selbständige Feststellungen weiterer Merkmale und Leistungen getroffen würden, so das BSG in seinem Urteil vom 06.05.2010 (B 13 R 16/09 R, juris). Eine solche zusätzliche von dem Ausführungsbescheid getroffene Regelung bestehe vorliegend darin, dass der Beklagte über das bloße Anerkenntnis hinaus zusätzlich den GdB mit 50 über den 18.02.2013 hinaus festgestellt habe. In den Verhältnissen, die dem Bescheid vom 06.05.2014 zugrunde gelegen hätten, sei keine wesentliche Änderung eingetreten, was auch der Beklagte selbst nicht behaupte. Eine Umdeutung der vom Beklagten auf § 48 Abs. 1 SGB X gestützten Aufhebungsentscheidung in eine Abschmelzungsentscheidung nach § 48 Abs. 3 SGB X oder in eine Rücknahme nach § 45 SGB X scheide vorliegend aus; für erstere sei eine entsprechende ausdrückliche Verwaltungsentscheidung Voraussetzung und für eine Rücknahme fehle es an der zwingend vorausgesetzten Ermessenentscheidung des Beklagten.

Gegen das dem Beklagten am 30.11.2017 zugestellte Urteil hat dieser am 14.12.2017 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und zur Begründung vorgetragen, man habe sich aus rein rechtlichen Gründen (fehlerhafte Bezeichnung der aufzuhebenden Bescheide) verpflichtet, den Bescheid vom 14.02.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.09.2013 aufzuheben. Der Ausführungsbescheid vom 06.05.2014 habe nach der Rechtsprechung des BSG keine Verwaltungsaktqualität. Ausführungsbescheide würden nur der Umsetzung eines Urteils ins interne Verwaltungssystem dienen und hätten dementsprechend nur deklaratorischen Charakter. Insbesondere sei dem Ausführungsbescheid vom 06.05.2014 keine weitere Sachaufklärung vorausgegangen und sei erkennbar nur die Umsetzung des Ergebnisses des Klageverfahrens gewollt gewesen. Die Feststellung eines GdB von 50 über den 18.02.2013 hinaus habe lediglich der Klarstellung für die Klägerin gedient und stelle keine selbständige Feststellung weiterer Merkmale über Leistungen dar.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 21.11.2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin hat keinen Antrag gestellt.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten und die vorgelegte Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung des Beklagten ist nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist aber nicht begründet.

Streitgegenständlich ist vorliegend der Bescheid vom 01.07.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.07.2014, mit dem die Beklagte unter (teilweiser) Aufhebung der Bescheide vom 10.10.2006, 28.01.2010 und 06.05.2014 den GdB ab 04.07.2014 mit nur noch 20 festgestellt hat. Zurecht und mit zutreffenden Erwägungen hat das SG in der angefochtenen Entscheidung die streitgegenständlichen Bescheide aufgehoben, weil eine wesentliche tatsächliche Änderung, auf Grund derer der Klägerin nur noch ein GdB von 20 zusteht, nicht vorliegt.

Rechtsgrundlage für die Herabsetzung des Gesamt-GdB ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 69 Abs. 1 und 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der bis zum 14.01.2015 geltenden Fassung (a.F.). Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse liegt vor, wenn sich durch das Hinzutreten neuer Gesundheitsstörungen oder eine Verschlimmerung der anerkannten Gesundheitsstörungen der Gesundheitszustand des behinderten Menschen verschlechtert oder er sich durch den Wegfall oder eine Besserung bereits anerkannter Gesundheitsstörungen gebessert hat. Von einer wesentlichen Änderung im Gesundheitszustand ist auszugehen, wenn aus dieser die Erhöhung oder Herabsetzung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt. Ob dies der Fall ist, ist durch einen Vergleich der für die letzte bindend gewordene Feststellung maßgebenden Befunde mit den jetzt vorliegenden Befunden zu ermitteln.

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung (a.F.) sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F. stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F. gilt ergänzend, dass der GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt wird. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX a.F. die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung hierbei nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung gilt diese Ermächtigung für die allgemeine – also nicht nur für die medizinische – Bewertung des GdB und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen sowie auch für die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 159 Abs. 7 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung, dass – soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 17 BVG in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung beziehungsweise § 30 Abs. 16 BVG in der ab dem 01.07.2011 geltenden Fassung erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) sowie 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX a.F. nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX a.F. und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris). Nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Nach dieser Maßgabe hat der Beklagte den maßgeblichen Bescheid vom 06.05.2014 zu Unrecht gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X aufgehoben. Denn im entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides als letzter maßgeblicher Verwaltungsentscheidung (BSG, Urteil vom 11.08.2015, B 9 SB 2/15 R, juris) lag eine wesentliche Änderung als materiell-rechtliche Voraussetzung des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht vor.

Dabei ist das SG zu Recht von der Sach- und Rechtslage, die dem Erlass des Bescheides vom 06.05.2014 zugrunde gelegen hat, als maßgeblichem Bezugspunkt für die Frage einer wesentlichen Änderung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides vom 29.07.2014 ausgegangen. Denn bei dem Bescheid vom 06.05.2014 handelt es sich um den letzten, der Aufhebungsentscheidung vorangehenden Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt vor, wenn der Verwaltungsakt in rechtlicher Hinsicht über den Zeitpunkt seiner Bekanntgabe hinaus Wirkung erzeugt, d.h., wenn er nicht nur ein einmaliges Ge- oder Verbot oder eine einmalige Gestaltung der Rechtslage regelt, sondern ein auf Dauer berechnetes oder in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis begründet oder inhaltlich verändert (jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 48 Rn. 54 m.w.N.). Nach diesem Maßstab stellt der Bescheid vom 06.05.2014 einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dar, weil er über die bloße, bereits mit Anerkenntnis im Erörterungstermin vom 07.04.2014 verfügte Aufhebung des Bescheides vom 14.02.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.09.2013 hinaus das Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft über den 18.02.2013 hinaus festgestellt hat. Insbesondere fehlte es dem Bescheid vom 06.05.2014 auch nicht mangels einer Regelung an einer Verwaltungaktqualität. Das SG hat in seiner Entscheidung zutreffend dargelegt, weshalb, ungeachtet der Frage, ob einem Ausführungsbescheid generell Verwaltungsaktqualität zukommt, jedenfalls im vorliegenden Falle auf Grund der im Bescheid getroffenen, über die bloße Ausführung des Anerkenntnisses hinausgehenden Regelungen ein Regelungscharakter gegeben ist. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die diesbezüglichen Ausführungen Bezug und weist die Berufung insoweit aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).

Eine abweichende Beurteilung ist auch nicht auf Grund des Berufungsvorbringens des Beklagten gerechtfertigt.

Soweit der Beklagte eine eigenständige Regelung im Bescheid vom 06.05.2014 deshalb verneint, weil diesem Bescheid keine weitere Sachaufklärung vorausgegangen sei und die Feststellung eines GdB von 50 über den 18.02.2013 hinaus lediglich der Klarstellung für die Klägerin gedient habe, für welche man bewusst Formulierungen gewählt habe, die nachvollziehbar die aktuelle Rechtslage darstellen sollten, verkennt der Beklagte, dass bei der Auslegung von Verwaltungsakten in Anwendung der für Willenserklärungen maßgeblichen Grundsätze (§§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches [BGB]) vom objektiven Sinngehalt ihrer Erklärungen auszugehen ist, wie sie der Empfänger bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalls objektiv verstehen musste. Maßgeblich ist demnach nicht der Empfängerhorizont der Klägerin, sondern derjenige eines verständigen objektiven Erklärungsempfängers. Aus Sicht eines solchen objektivierten Erklärungsempfängers enthielt der Bescheid vom 06.05.2014, wie vom SG bereits dargelegt, über die nochmalige (rein deklaratorische) Umsetzung des vor dem SG abgegebenen Anerkenntnisses (Aufhebung des Bescheides vom 14.02.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.09.2013) die weitere Feststellung, dass der GdB auch künftig 50 betragen solle.

Für eine solche Auslegung spricht über die vom SG dargelegten Gründe hinaus der Umstand, dass der Bescheid vom 06.05.2014 erst einen Monat später ergangen ist und im Begründungsteil ausdrücklich auf die der Bewertung des GdB zugrundeliegenden Funktionsbeeinträchtigungen hingewiesen worden ist. Nachdem die Klägerin im Erörterungstermin vor dem SG vom 07.04.2014 eine Mehrfertigung eines von ihr für relevant erachteten Arztbriefes des Z1 übergeben hat, welcher seitens des Kammervorsitzenden an den Beklagtenvertreter „zur weiteren Veranlassung“ weitergereicht worden ist, und angesichts der im Begründungsteil ausdrücklich benannten Funktionsbeeinträchtigungen, die den GdB von 50 über den 18.02.2013 hinaus tragen würden, durfte ein objektiver Erklärungsempfänger von einer neuerlichen medizinischen Würdigung des Sachverhalts und deren Umsetzung im Bescheid vom 06.05.2014 durch die Regelung „über den 18.02.2013 hinaus“ ausgehen.

Andererseits lässt sich dem Bescheid vom 06.05.2014 noch nicht einmal andeutungsweise entnehmen, dass die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft über den 18.02.2013 hinaus lediglich aus formalen Gründen erfolgt sei und eine inhaltliche Prüfung der Fortdauer der Schwerbehinderteneigenschaft noch erfolge. Dies wiegt umso schwerer, als es, wie bereits ausgeführt, angesichts des bereits im Termin vor dem SG abgegebenen Anerkenntnisses keiner Umsetzung in einem Ausführungsbescheid bedurfte.

Der Bescheid vom 06.05.2014 besitzt deshalb entgegen der Auffassung des Beklagten nicht nur deklaratorischen Charakter, sondern enthielt aus Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers eine Sachentscheidung des Inhalts, dass die Schwerbehinderteneigenschaft fortdauern solle. Damit ist die zum Zeitpunkt dieses Bescheides gegebene Sach- und Rechtslage Bezugspunkt für die Frage, ob eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen und/oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist. Dies ist, wie bereits das SG in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausgeführt hat und was auch vom Beklagten nicht in Zweifel gezogen wird, indes nicht der Fall. Vielmehr lag eine wesentliche Änderung in Gestalt einer teilweisen Remission der depressiven Störung spätestens bei Erlass des Widerspruchsbescheides vom 10.09.2013 vor. So hat der behandelnde G über eine Vorsprache der Klägerin am 08.03.2013, nach vier Jahren Behandlungspause, berichtet, im Rahmen derer er eine Teilremission der depressiven Episode, angesichts des von der Klägerin gebotenen Bilds einer mäßig ausgeprägten, chronifiziert wirkenden Depression nachvollziehbar, festgestellt hat. In seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 27.11.2013 hat G die Teilremission bestätigt und anhand des von ihm erhobenen Befundes (Stimmung nur leicht gedrückt bei nur nach anamnestischen Angaben leicht reduziertem Antrieb und unauffälliger Psychomotorik) zutreffend als leicht- bis allenfalls mittelschwer eingeschätzt. Daher konnte bereits zu diesem Zeitpunkt von einer stärker behindernden seelischen Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit als Voraussetzung für einen Einzel-GdB von wenigstens 30 für die seelische Erkrankung (vgl. VG, Teil B Nr. 3.7), geschweige denn von einer schweren Störung, nicht mehr ausgegangen werden, so zutreffend die Versorgungsärztin P. Eine weitere relevante Besserung in den gesundheitlichen Verhältnissen der Klägerin im Zeitraum von Mai 2014 bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides vom 29.07.2014 ist dagegen nicht ersichtlich und wird vom Beklagten auch nicht vorgetragen.

Mögliche spätere Änderungen im Gesundheitszustand der Klägerin, welche die sachverständige Zeugenaussage des B vom Dezember 2015 nahelegen könnte, sind für den hier zu entscheidenden Rechtsstreit ohne Bedeutung, da sie nach dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (siehe oben) liegen.

Damit ist in den Verhältnissen, die dem Bescheid vom 06.05.2014 zugrunde lagen, keine wesentliche Änderung in den hier einzig interessierenden gesundheitlichen Verhältnissen der Klägerin eingetreten und liegen die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 SGB X nicht vor. Eine Umdeutung in eine Abschmelzungsentscheidung nach § 48 Abs. 3 SGB X oder in eine Rücknahme nach § 45 SGB X scheidet aus den vom SG zutreffend dargelegten Gründen, welche sich der Senat in vollem Umfang zu eigen macht, aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt, dass der Beklagte auch im Berufungsverfahren erfolglos geblieben ist.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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