L 4 KR 307/19

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 44 KR 1013/18
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 307/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Das Fehlen einer vertragsärztlichen Verordnung über die Versorgung mit Cannabisprodukten iSd § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V steht einem Anspruch der Versicherten auf Naturalleistung entgegen.

2. Entsprechendes gilt für Kostenerstattungsansprüche aufgrund einer Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V ein, da ohne vertragsärztliche Verordnung kein genehmigungsfähiger Antrag gegeben ist.

3. Die begründete Einschätzung des Vertragsarztes nach § 31 Abs. 6 Satz 1 Zif. 1b SGB V muss eine Auseinandersetzung mit anderen zur Verfügung stehenden Therapien enthalten. Hierzu erforderlich ist jedenfalls, eine vollständige Auflistung der beim Versicherten bestehenden Erkrankungen, die eine Verordnung von Cannabispräparaten möglicherweise als nicht indiziert erscheinen lassen, und eine qualifizierte Abwägung von Chancen und Risiken der beantragten Behandlung.

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 2. April 2019 aufgehoben und die Klage gegen die Bescheide der Beklagten vom 27. März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Juni 2018 abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten und die künftige Versorgung des Klägers mit Cannabisblüten.

Der 1964 geborene Kläger und Berufungsbeklagte beantragte am 23.01.2018 bei der Beklagten die Versorgung mit unzerkleinerten Cannabisblüten der Sorte Pedanios 22.1. Beigefügt war ein vom Vertragsarzt  Dr. D1 ausgefüllter Arztfragebogen, wonach THC zur Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung, chronischem Schmerzsyndrom und depressiver Störung verordnet werden solle. Hierbei handle es sich um eine schwerwiegende Erkrankung. Behandlungsziel sei die Reduzierung bzw. das Absetzen von Ibuprofen (dreimal tgl. 800 mg). Bislang sei regelmäßig manuelle Therapie, Osteopathie, Ernährungsumstellung und Gymnastik durchgeführt worden. Es gebe keine weiteren, allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechende alternative Behandlungsoptionen. Keine Angabe erfolgte unter Frage 5, welche anderen Erkrankungen gleichzeitig bestünden.

Ebenfalls beigefügt waren Berichte über stationäre Aufenthalte des Klägers in den Jahren 2010 und 2013 wegen komplexer posttraumatischer Belastungsstörung, rezidivierender depressiver Störung mittelgradige Episode, Wirbelsäulensyndrom und Adipositas. Der Kläger konsumiere seit dem 15. Lebensjahr Cannabis und weitere Drogen. Aus einem Bericht des Jahres 2013 geht die Diagnose einer COPD hervor. Der Rheumatologe Dr. R1 konnte bei einer Untersuchung 2013 keine entzündlich-rheumatische Erkrankung feststellen und sah die chronische Schmerzstörung als Manifestation der seelisch-psychischen Belastung und Suchterkrankung des Klägers. Empfohlen wurde durch die Praxis im Jahr 2017 die Anbindung an einen Schmerztherapeuten, ggf. auch Psychotherapeuten.

Die Beklagte teilte dem Kläger am 24.01.2018 mit, sie habe den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) eingeschaltet. Sobald die Stellungnahme vorliege, werde eine abschließende Rückmeldung erteilt. Am 05.03.2018 meldete sich der Kläger bei der Beklagten und bat wegen einer zwischenzeitlich eingetretenen Genehmigungsfiktion um eine Rückmeldung, damit die Therapie begonnen werden könne.

Der MDK erstellte am 06.03.2018 ein sozialmedizinisches Gutachten, wonach der Kläger zwar an mehreren schwerwiegenden Erkrankungen leide, jedoch weitere Therapiealternativen zur Verfügung stünden. Die aktuelle Behandlung der Depression und der posttraumatischen Belastungsstörung könne nicht nachvollzogen werden. Es müsse davon ausgegangen werden, dass hierfür medikamentöse und psychotherapeutische Therapien zur Verfügung stünden. Auch hinsichtlich der Schmerzerkrankung gebe es Therapieoptionen, wie die Einbeziehung eines Schmerztherapeuten oder die Umstellung der Medikation. Es sei auch nicht plausibel begründet worden, dass mit der beantragten Therapie eine Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder schwerwiegende Symptome bestehe. Es gäbe vielmehr auch Risiken, so die Suchterkrankung in der Vorgeschichte und psychiatrische Erkrankungen mit unklarer Therapieanbindung.

In der Folge wies der Kläger mehrmals auf die seiner Meinung nach eingetretenen Genehmigungsfiktion hin und teilte am 20.03.2018 mit, er habe sich in Absprache mit einem Arzt und Apotheker ein Privatrezept ausstellen lassen. Hierfür bitte er um Erstattung. Beigefügt war ein Privatrezept des Dr. D1 vom 14.03.2018 über Cannabisblüten mit einer Apothekenrechnung über den Betrag von 294,00 Euro.

Mit Bescheid vom 27.03.2018 lehnte die Beklagte den Antrag auf Versorgung mit Cannabis nach § 31 Abs. 6 SGB V ab. Der Antrag sei erst mit Vorlage der Verordnung wirksam geworden (vgl. Beschluss des BayLSG vom 14.09.2017, L 20 KR 436/14 B ER). Es bestehe kein Anspruch auf eine Versorgung mit Cannabis oder einem cannabishaltigen Arzneimittel nach § 31 Abs. 6 SGB V, da die Möglichkeiten der Therapie nicht ausgeschöpft seien und nicht plausibel begründet worden sei, dass eine Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder die schwerwiegenden Symptome bestehe. Mit weiterem Bescheid vom 27.03.2018 lehnte die Beklagte auch den Antrag vom 20.03.2018 auf Erstattung der Kosten nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V ab. Erst mit Vorlage der Verordnung vom 20.03.2018 sei eine Frist in Gang gesetzt worden, die am 24.04.2018 ablaufen werde. Es werde darauf hingewiesen, dass eine vertragsärztliche Verordnung auf einem Betäubungsmittelrezept erforderlich sei. Auf Widerspruch des Klägers erließ die Beklagte am 06.06.2018 den Widerspruchsbescheid.

In der Folge übersandte der Kläger weitere Privatrezepte für medizinische Cannabisblüten, auf die die Beklagte mit einem Verweis auf den Widerspruchsbescheid vom 06.06.2018 reagierte.

Im Klageverfahren am Sozialgericht München (SG) hat die Beklagte ein weiteres sozialmedizinisches Gutachten vom 08.08.2018 vorgelegt. Danach stelle der Suchtmittelkonsum eine dysfunktionale Bewältigungsstrategie zur Symptombehandlung der schwerwiegenden Erkrankung dar. Es stünden etablierte medikamentöse und nicht medikamentöse Maßnahmen zur Verfügung wie eine ambulante Psychotherapie bzw. stationäre Intervalltherapie. Eine entsprechende Behandlung gehe aus den Unterlagen nicht hervor, ebenso wenig wie eine fachärztlich psychiatrische Mitbehandlung. Letztlich werde der Suchtmittelkonsum nicht ursächlich behandelt und die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer Suchterkrankung unterstützt.

Auf die mündliche Verhandlung vom 02.04.2019 hat das SG die Bescheide vom 27.03.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.06.2018 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger nach vertragsärztlicher Verordnung mit getrockneten Medizinal-Cannabisblüten zur Inhalation zu versorgen und ihm die nach Eintritt der Genehmigungsfiktion entstandenen Kosten für die von Dr. D1 verordneten Medizinal-Cannabisblüten in Höhe von 699,64 Euro zu erstatten.

Zur Begründung hat das SG ausgeführt, dass der Kläger aufgrund eingetretener Genehmigungsfiktion sowohl Anspruch auf Erstattung der bereits entstandenen Kosten als auch auf künftige Versorgung habe. Der vom Kläger am 23.01.2018 gestellte Antrag sei hinreichend bestimmt gewesen, weil es einer Verordnung zu diesem Zeitpunkt noch nicht bedurft habe. Der Kläger habe die Leistung auch für erforderlich halten dürfen. Für einen Rechtsmissbrauch gebe es keine Anhaltspunkte. Die fingierte Genehmigung sei auch nicht konkludent durch die von der Beklagten erlassenen Bescheide vom 27.03.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben worden. Weder regelten die Bescheide inhaltlich eine Rücknahme noch enthielten sie eine Ermessensausübung. Der Kläger habe demnach Anspruch auf Erstattung der Kosten in Höhe von insgesamt 699,64 Euro und einen Naturalleistungsanspruch bei Vorlage entsprechender vertragsärztlicher Verordnungen.

Mit ihrer Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (BayLSG) hat die Beklagte auf die Notwendigkeit einer vertragsärztlichen Betäubungsmittelverordnung bereits bei Antragstellung verwiesen. Es müsse bereits eine Konkretisierung des zu verabreichenden Produkts durch den Vertragsarzt erfolgen, was im Umkehrschluss bedeute, dass bei jeder Erstverordnung eines neuen Präparates nach § 31 Abs. 6 SGB V eine Genehmigung der Krankenkasse erforderlich sei. Die Regelung umfasse nämlich nicht nur Cannabisblüten, sondern u.a. Extrakte, Dronabinol, Sativex, Marinol, Nabilon. Bei jeder qualitativen Veränderung der Verordnungen, also etwa bei einem Wechsel von Dronabinol auf Blüten, sei nach der Änderung durch das GSAV (Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung) eine Genehmigung erforderlich. Anders wäre die letzte gesetzliche Änderung zu § 31 Abs. 6 SGB V nicht zu erklären. Abgewichen werden könne auch nicht von der Notwendigkeit eines Betäubungsmittelrezeptes. Die aktuelle Version der Betäubungsmittelverordnung (BtMVV) verlange nur noch, dass das Rezept bei der Vorlage in der Apotheke nicht älter als sieben Tage sein dürfe. Wenn die Krankenkasse das betreffende Rezept in Kopie erhalte, um darüber zu entscheiden, dann sei auch die Einhaltung der Fristen der BtMVV trotz eines Genehmigungsverfahrens möglich. Hieraus folge, dass auch im Hinblick auf § 13 Abs. 3a SGB V so lange kein hinreichend bestimmter Antrag auf eine Leistung gestellt worden sei, als eine entsprechende Verordnung nicht vorgelegt werde. Dies sei hier erst am 20.03.2018 erfolgt.

Im Übrigen erfülle der Kläger nicht die Leistungsvoraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V. Er sei bei weitem nicht austherapiert, da eine Psychotherapie in den letzten Jahren nicht durchgeführt worden und eine Medikation nur für ca. 15 Monate erfolgt sei. Nach der Gesetzesbegründung solle das Entstehen oder Erhalten einer Betäubungsmittelabhängigkeit, die hier zweifellos bestehe, möglichst ausgeschlossen werden (Bundestagsdrucks. 18/8965 S. 15).

Auf den Hinweis zur geänderten Rechtsprechung des BSG zur Reichweite der Genehmigungsfiktion (Urteil vom 26.05.2020 B 1 KR 9/18 R) hat der Vertreter des Klägers dargelegt, dieser Rechtsprechung sei nicht zu folgen, weil sie gegen das Willkürverbot verstoße. Vom Kläger sind weitere (reguläre) Privatrezepte und Apothekenrechnungen über Cannabisblüten für den Zeitraum 19.03.2018 bis 24.11.2021 in Höhe von insgesamt 3.656.12 Euro vorgelegt worden. Den Antrag der Beklagten, die Vollstreckung nach § 199 Abs. 2 SGG auszusetzen, hat der Senat mit Beschluss vom 12.02.2021 bei Sicherheitsleistung durch den Kläger in Höhe von 4.000,00 Euro abgelehnt.

In der mündlichen Verhandlung vom 03.03.2022 hat die Vertreterin der Beklagten ausgeführt, in der Zeit von April 2019 bis Februar 2021 habe die Beklagte Cannabis als Sachleistung bzw. im Wege der Kostenerstattung in Höhe von ca. 15.000 Euro geleistet. Da eine Sicherheitsleistung durch den Kläger nicht erfolgt sei, habe die Beklagte danach nicht mehr geleistet. Erstattet worden seien auch die im Klageverfahren geltend gemachten Kosten in Höhe von 699,64 Euro. In Bezug auf eine mögliche Rückforderung werde zu berücksichtigen sein, dass sich der Kläger wohl auf die damalige Rechtsprechung zur Genehmigungsfiktion habe verlassen können und er gegenwärtig eine Erwerbsminderungsrente und SGB XII-Leistungen beziehe. Der Kläger hat angegeben, er habe vor dem Cannabisbezug in erheblichem Umfang Ibuprofen genommen. Aus gesundheitlichen Gründen sei eine Umstellung der Medikation erforderlich gewesen. Man habe sich dann bei der Beklagten erkundigt, wie ein Antrag auf Cannabis zu stellen sei; genauso sei man vorgegangen. Die Beklagtenvertreterin hat eine Falschberatung bestritten.


Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München aufzuheben und die Klage gegen die Bescheide vom 27.03.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.06.2018 aufzuheben.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Akten und gewechselten Schriftsätze verwiesen.

 

 


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Die angegriffenen Bescheide sind nicht zu beanstanden. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Erstattung von in der Vergangenheit entstandenen Kosten noch einen Sachleistungsanspruch auf zukünftige Versorgung mit Cannabisblüten.

1.
Es besteht kein Kostenerstattungsanspruch aufgrund Genehmigungsfiktion gemäß § 13 Abs. 3a Satz 1, 6 und  7 SGB V. Danach hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MDK eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden (§ 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V). Nach Ablauf der Frist gilt die Leistung gemäß § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V als genehmigt, wenn keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes für die Nichteinhaltung der Frist erfolgt. Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist die erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet.

Vorliegend ist scheitert der Anspruch auf Kostenerstattung aufgrund Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V daran, dass der vom Kläger am 23.01.2018 gestellte Antrag nicht die notwendige vertragsärztliche Verordnung enthielt und damit nicht die Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V in Gang setzen konnte. Wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 05.09.2018 L 4 KR 705/17), kann die Fiktion des § 13 Abs. 3a SGBV nur dann greifen, wenn nicht nur die notwendige Bestimmtheit des Antrags in Bezug auf das Behandlungsziel und Behandlungsmittel gegeben ist, sondern auch offenkundige, zusätzliche formale Erfordernisse erfüllt sind, die das jeweilige materielle Recht als Voraussetzung für eine Leistungsgewährung vorsehen kann. In diesem Sinne hat der Senat die notwendigen Feststellungen eines Arztes und die Vorlage eines Behandlungsplans im Rahmen der Entscheidung über Leistungen der künstlichen Befruchtung als offenkundig erforderlich erachtet und bei Fehlen dieser Erfordernisse den Eintritt der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V im Ergebnis ausgeschlossen (vgl. hierzu auch das darauffolgende Urteil des BSG vom 27.08.2019 - B 1 KR 8/19 R).
 
Der Senat geht davon aus, dass § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V, der seit dem 10.03.2017 den Anspruch der Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf Cannabispräparate regelt (Art. 4 Nr. 2 G v. 6.3.2017 I 403), die Notwendigkeit einer vertragsärztlichen (Betäubungsmittel-) Verordnung schon im Genehmigungsverfahren beinhaltet mit der Folge, dass ein fiktionsfähiger Antrag nur dann gegeben ist, wenn Cannabis nicht nur auf einem privatärztlichen Rezept, sondern vertragsärztlich verordnet wird (vgl. auch Beschluss des 5. Senats des BayLSG vom 23. Mai 2018 - L 5 KR 190/18 B ER -, zur vertragsärztlichen Betäubungsmittelverordnung: Beschluss des LSG Baden-Württemberg v. 19.09.2017 - L 11 KR 3414/17 ER, Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 31 SGB V Rnr. 127). Dies ergibt sich sowohl aus Wortlaut und systematischem Zusammenhang sowie aus Sinn und Zweck der Regelung.

Die Norm des § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V bestimmt, dass die Leistung bei der ersten Verordnung der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse bedarf, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist. Der Wortlaut ist in Bezug auf die zeitliche Reihenfolge von Verordnung und Genehmigung nicht eindeutig; es kann ihm aber entnommen werden, dass Verordnung und Genehmigung bei der "Leistung", also bei der Beschaffung, vorzulegen sind. Systematisch spricht für eine vertragsärztliche Verordnung vor der Genehmigung jedenfalls die Neuregelung in Satz 4 des § 31 Abs. 6 SGB V (idF des Gesetzes vom 09.08.2019, BGBl. I 1202), wonach Leistungen auf Grundlage einer vertragsärztlichen Verordnung bei einer Anpassung der Dosierung bzw. bei einem Wechsel der getrockneten Blüten nicht (mehr) einer erneuten Genehmigung bedürfen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass weiterhin eine Genehmigung etwa beim Wechsel von getrockneten Blüten auf ein Cannabisextrakt erforderlich ist. Indem der Gesetzgeber bei der Neuregelung des Genehmigungsverfahrens herausgestellt hat, dass es sich um Leistungen auf Grundlage einer vertragsärztlichen Verordnung handeln muss, weist er aus Sicht des Senats darauf hin, dass schon zur Genehmigung eine vertragsärztliche Verordnung vorliegen muss. Wenn aber schon im Zusammenhang mit dem Wechsel von Cannabisprodukten geregelt wurde, dass eine vertragsärztliche Verordnung im Genehmigungsverfahren vorhanden sein muss, dann kann erst Recht davon ausgegangen werden, dass auch im Genehmigungsverfahren nach § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V eine vertragsärztliche Verordnung erforderlich ist.

Für die Notwendigkeit der Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung bereits bei Antragstellung oder zumindest bis zum Abschluss des Genehmigungsverfahrens sprechen aber vor allem auch Sinn und Zweck der Norm. Der Gesetzgeber hat dem Genehmigungsverfahren im Rahmen der Versorgung der Versicherten mit Cannabisprodukten eine zentrale Rolle zugewiesen. Abweichend von der Systematik des Arzneimittelrechts, wie es in § 31 Abs. 1 bis 5 SGB V und der Arzneimittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) geregelt ist (Richtlinie über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung - AM-RL), wurde trotz - oder gerade wegen - der gewollten weitreichenden Behandlungsprämisse des Vertragsarztes (vgl. § 31 Abs. 6 Zif. 1b SGB V) für die Versorgung mit Cannabispräparaten ein Genehmigungsverfahren durch die Krankenkasse für erforderlich erachtet. Der Gesetzgeber hat das Erfordernis einer Genehmigung bereits im Primärrecht geregelt und nicht etwa nach § 92 Abs. Abs. 1 Zif. 6 SGB V die weitere Ausgestaltung dem GBA überlassen, so wie dies etwa bei der Genehmigung von Leistungen nach § 6 Abs. 2 der Häusliche Krankenpflege (HKP) -Richtlinie oder von Krankentransportleistungen nach § 9 den Krankentransport-Richtlinien der Fall ist. Vor diesem Hintergrund wäre es aber nicht verständlich, wenn gerade bei der Versorgung der Versicherten mit Betäubungsmitteln auf die Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung zur Genehmigung verzichtet worden wäre. Denn nur mit einer solchen Verordnung dokumentiert der Vertragsarzt, dass er Verantwortung für die beantragte Behandlung im System der GKV übernimmt. Mit der Ausstellung eines Privatrezepts überantwortet der Arzt dagegen diese Verantwortung, die ihm § 31 Abs. 6 Satz 1 Zif. 1b SGB V ausdrücklich zuweist, dem Versicherten.

Der Senat erachtet das Fehlen der vertragsärztlichen Verordnung im Antragsverfahren für derart gravierend, dass es auch den Eintritt der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V und damit einen Kostenerstattungsanspruch des Klägers nach Satz 7 der Vorschrift ausschließt. Dies gilt trotz des Umstands, dass die Frage, ob ein vertragsärztliches Betäubungsmittelrezept bereits im Genehmigungsverfahren vorhanden sein muss, umstritten ist und einer obergerichtlichen Klärung oder Klarstellung durch den Gesetzgeber bedarf. Für ein Beratungsverschulden der Beklagten liegen ausreichende Hinweise im Übrigen nicht vor.

Da danach bereits die formalen Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V nicht gegeben sind, kommt auch ein hierauf darauf gestützter Sachleistungsanspruch, wie er vom Klägerbevollmächtigten weiter vertreten wird, nicht in Betracht. In Anbetracht der von der Klägerseite geäußerten Kritik zur neueren Rechtsprechung des BSG weist der Senat darauf hin, dass er ausdrücklich der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 25.03.2021 - B 1 KR 22/20 R) folgt, wonach sich die Reichweite der Genehmigungsfiktion in einem Kostenerstattungsanspruch erschöpft und einen Anspruch auf Sachleistung nicht miteinschließt. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen nicht, da auch der Kostenerstattungsanspruch nach der Vorschrift des § 13 Abs. 3 SGB V unbestritten keine Sachleistung umfasst und ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz und das Willkürverbot nicht erkennbar ist.

2.
Dem Kläger steht auch kein anderer Anspruch auf Erstattung aufgewendeter Kosten zur Seite. Da der Kläger nicht das Verfahren der Kostenerstattung nach § 13 Abs. 2 SGB V gewählt hat, kommt allein noch ein Anspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V in Betracht. Danach hat die Krankenkasse die Kosten für selbstbeschaffte Leistungen in der Höhe zu erstatten, die dadurch entstanden sind, dass sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (Alt. 1) oder die Leistung zu Unrecht abgelehnt worden ist (Alt. 2).

Vorliegend gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Versorgung mit Cannabisblüten nach der ersten Alternative des § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V unaufschiebbar war. Unaufschiebbarkeit im Sinne dieser Vorschrift verlangt, dass die beantragte Leistung im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Erbringung so dringlich ist, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubes mehr besteht, um vor der Beschaffung die Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten. Ein Zuwarten darf dem Versicherten aus medizinischen Gründen nicht mehr zumutbar sein, weil der angestrebte Behandlungserfolg zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr eintreten kann oder zum Beispiel wegen der Intensität der Schmerzen ein auch nur vorübergehendes weiteres Zuwarten nicht mehr zuzumuten ist. Unaufschiebbar kann dabei auch eine zunächst nicht eilbedürftige Behandlung werden, wenn der Versicherte mit der Ausführung so lange wartet, bis die Leistung zwingend erbracht werden muss, um den mit ihr angestrebten Erfolg noch zu erreichen oder um sicherzustellen, dass er noch innerhalb eines therapeutischen Zeitfensters die benötigte Behandlung erhalten wird (vgl. Urteil des BSG vom 08.09.2015 - B 1 KR 14/14 R). Hier sind die vom Kläger am 14.03.2018 aufgewendeten Kosten in Höhe von 294,00 Euro noch vor Erlass des Bescheids der Beklagten vom 27.03.2018 entstanden. Es gibt allerdings keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger ein weiteres Zuwarten aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zumutbar war.

Die Beklagte hat die Leistung auch nicht zu Unrecht abgelehnt (§ 13 Abs. 3 Satz 2 Alt. 2 SGB V). Der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch.

Wie oben dargelegt, steht einem Naturalleistungsanspruch im hier streitigen Genehmigungsverfahren schon entgegen, dass keine vertragsärztlichen (Betäubungsmittel)-Verordnungen vorgelegt worden sind und damit die formalen Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V nicht erfüllt sind. Da solche Verordnungen auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht ausgestellt worden sind, muss der Senat hier nicht entscheiden, bis wann Versicherte die Vertragsverordnungen vorlegen müssen und ob dies ggfs. noch im gerichtlichen Verfahren möglich ist.

Unabhängig hiervon sind auch die weiteren Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Satz 1 Zif. 1a SGB V nicht erfüllt. Mit dem MDK kann zwar davon ausgegangen werden, dass jedenfalls in Gestalt der posttraumatischen Belastungsstörung und ggfs. auch der Schmerzerkrankung eine schwerwiegende Erkrankung im Sinn der Vorschrift gegeben ist. Allerdings stehen nach den überzeugenden Feststellungen des MDK für die Behandlung der Erkrankungen allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistungen in Form von weiteren medikamentösen, psychotherapeutischen und schmerztherapeutischen Therapien zur Verfügung. Nicht nachzuvollziehen ist daher, dass aus Sicht des behandelnden Arztes der Leistungskatalog nach Verordnung von manueller Therapie, Osteopathie, Ernährungsumstellung und Gymnastik ausgeschöpft war.

Schon aus diesem Grund genügt der von Dr. D1 ausgefüllte Antragsbogen nicht den Erfordernissen des § 31 Abs. 6 Satz 1 Zif. 1b SGB V. Danach haben Versicherte trotz Bestehens einer allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden Therapie Anspruch auf die beantragte Cannabisversorgung, wenn im Einzelfall mit einer begründeten Einschätzung des Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Klägers dargelegt wird, dass diese Therapie nicht zur Anwendung kommen kann. Hier erfolgte keine Auseinandersetzung des Arztes mit anderen medikamentösen oder therapeutischen Optionen, wie zum Beispiel einer speziellen Schmerztherapie. Hinzu kommt, dass der Bogen nicht vollständig ausgefüllt wurde, weil auch die Frage zu anderen Erkrankungen, etwa einer früher diagnostizierten COPD, nicht beantwortet wurde. Auch eine Abwägung von Chancen und Risiken der Behandlung ist nicht erkennbar. Hierzu genügt jedenfalls nicht die Übersendung von Befunden und Behandlungsberichten, über deren Vollständigkeit keine Klarheit besteht.


3.
Aus den oben dargelegten Gründen kann der Kläger auch keinen Sachleistungsanspruch nach § 27 Abs. Abs. 1 Zif. 3, § 31 Abs. 6 SGB V für eine zukünftige Versorgung geltend machen.

Die Berufung der Beklagten hat daher in vollem Umfang Erfolg.

Die Kostentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Zif. 1 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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