L 7 AS 1724/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AS 1631/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 1724/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 98/22 B
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 25.08.2020 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren um die Höhe der Kosten für Unterkunft und Heizung der Klägerin im Zeitraum vom 01.08.2016 bis zum 31.12.2016.

Die am 00.00.1962 geborene Klägerin stand im streitgegenständlichen Zeitraum beim Beklagten im Leistungsbezug. Seit April 2019 erhält sie Leistungen nach dem SGB XII.

Im März 2012 unterrichtete die Klägerin den Beklagten über ihre Wohnsituation in der R-Straße 29, N. Sie teilte mit, dass der zuvor als „ruhiger Kiosk“ genutzte Gewerberaum nunmehr als Gaststätte betrieben werde. Es komme zu Lärmbelästigungen sowie Streitigkeiten mit dem Gaststättenbetreiber. Der Pächter habe sie auch schon bedroht. Dies habe bei ihr zu traumatischen Erlebnissen und einer Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Situation geführt. Ein konkretes Angebot für die Anmietung einer anderen Wohnung hat die Klägerin in diesem Zusammenhang nicht vorgelegt. Der Beklagte hat die Klägerin gebeten, sich wegen der geschilderten Problematik mit ihrem Vermieter bzw. dem Betreiber der Gaststätte in Verbindung zu setzen.

Am 15.11.2012 zog die Klägerin ohne Rücksprache mit dem Beklagten bzw. dessen Zustimmung in die am 27.08.2012 angemietete 63 m² große Wohnung in der O-Straße 47, N, für die zunächst eine monatliche Warmmiete von 660 € (510 € Kaltmiete, 95 € Betriebskosten, 55 € Heizkosten) zu zahlen war. Im hier streitgegenständlichen Zeitraum betrug die monatliche Warmmiete 666 € € (510 € Kaltmiete, 95 € Betriebskosten, 61 € Heizkosten – August bis November 2016) bzw. 683 € (Erhöhung der Heizkosten ab Dezember 2016). Ab dem Zeitpunkt des Umzugs erkannte der Beklagte als Kaltmiete 318 €, die jeweiligen tatsächlichen Betriebs- und Heizkosten sowie den Mehrbedarf für dezentrale Warmwasserversorgung (9,18 €) an. Den monatlichen Differenzbetrag zur Gesamtmiete i.H.v. 192 € bestritt die Klägerin zunächst durch die finanzielle Unterstützung ihrer Mutter und anschließend durch ihr geringfügiges Einkommen als Floristikhilfe bei der F GmbH. Die seit 2012 erlassenen Bescheide sind bestandskräftig geworden.

Die Tätigkeit der Klägerin bei der F GmbH endete mit Wirkung vom 30.06.2015 (Vergleich bei dem Arbeitsgericht Köln vom 03.08.2015 – 9 Ca 3265/15). Mit Schreiben vom 21.09.2015 bat die Klägerin unter Hinweis auf den Zufluss vom 03.09.2015 i.H.v. insgesamt 1.253,63 € (Lohn April bis Juni 2015 sowie Abfindung i.H.v. 200 €) um eine Neuberechnung des Anspruchs für September 2015 und beglich nach Aufhebung des Bewilligungsbescheides für September 2015 den Erstattungsbetrag.

Mit Schreiben vom 01.10.2015 informierte die Klägerin den Beklagten über den Wegfall ihres Einkommens und die seit April 2015 bestehende Arbeitsunfähigkeit, die auf einen Nervenzusammenbruch infolge eines Traumas zurückzuführen sei. Die Klägerin wies darauf hin, dass sie infolge des Nervenzusammenbruchs einen Umzug nicht durchstehe und deshalb in der Wohnung bleiben wolle. Die Klägerin führte weiter aus: „Durch die Änderung in meinen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen beantrage ich die Übernahme der bisher nicht anerkannten Unterkunftskosten (Kaltmiete) i.H.v. 192 € ab dem 01.10.2015“.

Daraufhin teilte der Beklagte mit Schreiben vom 04.11.2015 formlos mit, dass eine rückwirkende Übernahme des Differenzbetrages i.H.v. 192 € nicht erfolgen könne. Das Schreiben enthält weder eine Begründung, Rechtsmittelbelehrung noch eine Bescheidung des Antrags auf Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten ab Oktober 2015.

Mit Schreiben vom 17.12.2015 teilte die Klägerin sodann mit, ihr sei durchaus bekannt, dass eine rückwirkende Übernahme des Differenzbetrages nicht möglich sei. Gleichzeitig bat sie nochmals darum, ihren Antrag vom 01.10.2015 – Übernahme der Unterkunftskosten ab Oktober 2015, d.h. für die Zukunft –, zu bescheiden.

Mit Bescheid vom 21.12.2016 setzte der Beklagte auf Antrag der Klägerin vom 23.01.2015 die Leistungen für die Zeit vom 01.03.2015 bis 29.02.2016, nachdem alle Einkommensnachweise vorlagen, endgültig fest. Mit Schreiben vom 17.01.2017, beim Beklagten eingegangen am 25.01.2017, legte die Klägerin Widerspruch gegen den Bewilligungsbescheid vom 21.12.2016 ein. Über diesen Widerspruch hat der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.04.2022 entschieden. Die Klägerin hat hiergegen Klage beim Sozialgericht Köln erhoben (S 11 AS 1369/22).

Den zugleich mit Schreiben vom 17.01.2017 gestellten „Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X bis 01.01.2016“ lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 01.02.2017 ab. Die Bescheide seien nicht zu beanstanden. Im dagegen geführten Widerspruchsverfahren wurden die angefochtenen Bewilligungen mit Bescheid vom 17.04.2018 dahingehend geändert, dass der Beklagte für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis 31.07.2016 höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung bewilligt hat. Für die Zeit ab dem 01.08.2016 verblieb es bei der bisherigen Bewilligung. Mit Widerspruchsbescheid ebenfalls vom 17.04.2018 wies der Beklagte den Widerspruch – soweit ihm nicht durch den Bescheid vom 17.04.2018 abgeholfen worden war – zurück. Dagegen hat die Klägerin keine Klage erhoben.

Die Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, stellte am 15.11.2018 einen Antrag nach § 44 SGB X auf „Überprüfung des Widerspruchsbescheides vom 17.04.2018“ und begehrte die Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten für August 2016 bis Dezember 2016. Der Beklagte lehnte eine Neubescheidung insoweit mit Bescheid vom 20.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.03.2019 ab.

Die Klägerin hat am 16.04.2019 Klage beim Sozialgericht Köln erhoben. Sie ist der Ansicht, die einjährige Frist des § 40 SGB II i.V.m. § 44 SGB X sei hinsichtlich des Widerspruchsbescheides vom 17.04.2018 noch nicht abgelaufen. Abzustellen sei auf den Zeitpunkt der zu überprüfenden Entscheidung.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 17.04.2018 in der Fassung des Ablehnungsbescheides vom 20.02.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.03.2019 zu verurteilen, die Kosten der Unterkunft für den Zeitraum 01.08.2016 – 31.12.2016 in Höhe von 574 € zu übernehmen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen

Er hat auf den Inhalt der streitigen Bescheide und die Frist des § 44 SGB X i.V.m.
§ 40 SGB II verwiesen.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 25.08.2020 abgewiesen. Der Beklagte habe mit Bescheid vom 20.02.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.03.2019 zu Recht eine Überprüfung der Leistungsgewährung für die Zeit vom 01.08.2016 bis zum 31.12.2016 zu Recht wegen Fristablaufs abgelehnt.

Bei der Berechnung der Frist sei nicht auf das Datum des zu überprüfenden Bescheides abzustellen. Ausgehend von dem 2018 gestellten Antrag nach § 44 SGB X seien Leistungen für das gesamte Jahr 2017 zu überprüfen und gegebenenfalls zu gewähren, unabhängig davon, wann über die Leistungsgewährung entschieden wurde. Eine „Überprüfung der Überprüfung“ führe nicht zu einer Fristverlängerung. Es komme nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes nicht auf den Zeitpunkt des zu überprüfenden Bescheides, sondern auf den Zeitpunkt des Überprüfungsantrags selbst an. Von diesem ausgehend werde die (Vierjahres)Frist des § 44 SGB X bzw. die Jahresfrist nach § 40 SGB II berechnet. Damit scheide eine Überprüfung der Leistungen für die Zeit vor dem 01.01.2017 aus.

Gegen das am 16.10.2020 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 12.11.2020 Berufung eingelegt. Allein maßgebend für die Fristberechnung sei, dass der Antrag nach § 44  SGB X in Bezug auf den Widerspruchsbescheid vom 17.04.2018 innerhalb der Jahresfrist gestellt worden sei. Unerheblich sei, ob der Antrag nach § 44 SGB X hinsichtlich eines Bescheides oder Widerspruchsbescheides gestellt werde.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 25.08.2020 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung des Widerspruchsbescheides vom 17.04.2018 in der Fassung des Ablehnungsbescheides vom 20.02.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.03.2019 zu verurteilen, die Kosten der Unterkunft für den Zeitraum 01.08.2016 bis zum 31.12.2016 i.H.v. 574 € zu übernehmen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er schließt sich den Ausführungen des Sozialgerichts an.

Der Senat hat die Beteiligten unter dem 07.02.2022 zu einer Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG angehört.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrigen Gerichtsakten sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.

 

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann die Berufung – nach Anhörung der Beteiligten – gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss zurückweisen, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Maßgeblich sind allein Rechtsfragen, die anhand des Akteninhalts beantwortet werden können. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, sich hierzu zu äußern.

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

Streitgegenstand ist der Bescheid vom 20.02.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.03.2019, mit dem der Beklagte den (erneuten Überprüfungs)Antrag der Klägerin vom 15.11.2018 auf nachträgliche Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten unter Hinweis auf § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X ablehnte.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin ist nicht beschwert i.S.v. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der angefochtene Bescheid vom Bescheid vom 20.02.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.03.2019 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rücknahme des zur Überprüfung gestellten Widerspruchsbescheides vom 17.04.2018, weil ihr eigentliches Begehren auf Übernahme der Unterkunftskosten in tatsächlicher Höhe für die Zeit von August 2016 bis Dezember 2016 nach § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X ausgeschlossen ist.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, das bei Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Nach § 44 Abs. 4 SGB X werden Sozialleistungen für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (Satz 2). Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, an Stelle der Rücknahme der Antrag (Satz 3). Für Leistungen nach dem SGB II ist zu beachten, dass nach § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II anstelle des Zeitraums von vier Jahren nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X ein Zeitraum von einem Jahr tritt.

Maßgeblich für die Fristberechnung nach § 44 Abs. 4 SGB X ist allein der Antrag der Klägerin vom 15.11.2018 auf Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten für die Zeit von August 2016 bis Dezember 2016. Die Verfallfrist ist unabhängig von zuvor gestellten Überprüfungsanträgen von dem jeweils aktuellen Überprüfungsantrag aus zu berechnen (BSG Urteil vom 12.10.2016 – B 4 AS 37/15 R; Aubel in JurisPK-SGB II, § 40 SGB II, Rn. 67 f.) Unbeachtlich hierfür ist somit  der erstmalig gestellte Überprüfungsantrag vom 17.01.2017. Dieser lebt durch den wiederholend gestellten Antrag aus 2018 nicht wieder auf. Ausgehend vom Überprüfungsantrag vom 15.11.2018 können der Klägerin allenfalls Leistungen für die Zeit ab dem 01.01.2017 erbracht werden. Die Rücknahme der Bewilligungsbescheide und Nachzahlung kann jedoch nicht für die von der Klägerin begehrte Zeit vor dem 01.01.2017 erfolgen.

Soweit die Klägerin die Auffassung vertritt, maßgeblich für die Frist des §§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides vom 17.04.2018, verkennt sie auch in Anbetracht des eindeutigen Wortlautes des § 44 SGB X, dass diese Frist allein an den Ablauf des Zeitraums (hier den Zeitraum von August 2016 bis Dezember 2016) anknüpft, für den weitere Leistungen begehrt werden.

Der Senat weist abschließend darauf hin, dass durch die Fristenregelung nicht nur ein Anspruch auf rückwirkende Leistungen nach Ablauf der Frist ausgeschlossen wird, sondern in den Fällen, in denen aufgrund der Frist kein Anspruch mehr auf rückwirkende Leistungen besteht,  bereits ein Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsaktes ausscheidet (Baumeister in Schlegel/Voelzke jurisPK – SGB X § 44 Rn. 121 mwN; Aubel in Schlegel/Voelzke jurisPK – SGB II § 40 Rn. 67).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

 

 

Rechtskraft
Aus
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