L 7 AS 1715/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AS 4749/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 1715/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 25.08.2020 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren (noch) um die Höhe der Kosten für Unterkunft und Heizung der Klägerin im Zeitraum vom 15.11.2012 bis zum 28.02.2015.

Die am 00.00.1962 geborene Klägerin stand im streitgegenständlichen Zeitraum beim Beklagten im Leistungsbezug. Seit April 2019 erhält sie Leistungen nach dem SGB XII.

Im März 2012 unterrichtete die Klägerin den Beklagten über ihre Wohnsituation in der R-Straße 29, N. Sie teilte mit, dass der zuvor als „ruhiger Kiosk“ genutzte Gewerberaum nunmehr als Gaststätte betrieben werde. Es komme zu Lärmbelästigungen sowie Streitigkeiten mit dem Gaststättenbetreiber. Der Pächter habe sie auch schon bedroht. Dies habe bei ihr zu traumatischen Erlebnissen und einer Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Situation geführt. Ein konkretes Angebot für die Anmietung einer anderen Wohnung hat die Klägerin in diesem Zusammenhang nicht vorgelegt. Der Beklagte hat die Klägerin gebeten, sich wegen der geschilderten Problematik mit ihrem Vermieter bzw. dem Betreiber der Gaststätte in Verbindung zu setzen.

Am 15.11.2012 zog die Klägerin ohne Rücksprache mit dem Beklagten bzw. dessen Zustimmung in die am 27.08.2012 angemietete 63 m² große Wohnung in der O-Straße 47, N, für die bis Oktober 2013 eine monatliche Warmmiete von 660 € (510 € Kaltmiete, 95 € Betriebskosten, 55 € Heizkosten) im November 2013 bis November 2014 von 666 € (Anhebung des Heizkostenabschlags von 55 auf 61 €) und ab Dezember 2014 von 701 € (weitere Erhöhung der Heizkosten auf 96 €) zu zahlen war. Ab dem Zeitpunkt des Umzugs erkannte der Beklagte als Kaltmiete 318 €, die tatsächlichen Betriebs- und Heizkosten sowie den Mehrbedarf für dezentrale Warmwasserversorgung (9,18 €) an. Den monatlichen Differenzbetrag zur Gesamtmiete i.H.v. 192 € bestritt die Klägerin zunächst durch die finanzielle Unterstützung ihrer Mutter und anschließend durch ihr geringfügiges Einkommen als Floristikhilfe bei der F GmbH. Die seit 2012 erlassenen Bescheide sind bestandskräftig geworden.

Die Tätigkeit der Klägerin bei der F GmbH endete mit Wirkung vom 30.06.2015 (Vergleich bei dem Arbeitsgericht Köln vom 03.08.2015 – 9 Ca 3265/15). Mit Schreiben vom 21.09.2015 bat die Klägerin unter Hinweis auf den Zufluss vom 03.09.2015 i.H.v. insgesamt 1.253,63 € (Lohn April bis Juni 2015 sowie Abfindung i.H.v. 200 €) um eine Neuberechnung des Anspruchs für September 2015 und beglich nach Aufhebung des Bewilligungsbescheides für September 2015 den Erstattungsbetrag.

Mit Schreiben vom 01.10.2015 informierte die Klägerin den Beklagten über den Wegfall ihres Einkommens und die seit April 2015 bestehende Arbeitsunfähigkeit, die auf einen Nervenzusammenbruch infolge eines Traumas zurückzuführen sei. Die Klägerin wies darauf hin, dass sie infolge des Nervenzusammenbruchs einen Umzug nicht durchstehe und deshalb in der Wohnung bleiben möchte. Die Klägerin führte weiter aus: „Durch die Änderung in meinen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen beantrage ich die Übernahme der bisher nicht anerkannten Unterkunftskosten (Kaltmiete) i.H.v. 192 € ab dem 01.10.2015“.

Daraufhin teilte der Beklagte mit Schreiben vom 04.11.2015 formlos mit, dass eine rückwirkende Übernahme des Differenzbetrages i.H.v. 192 € nicht erfolgen könne. Das Schreiben enthält weder eine Begründung, Rechtsmittelbelehrung noch eine Bescheidung des Antrags auf Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten ab Oktober 2015.

Mit Schreiben vom 17.12.2015 teilte die Klägerin sodann mit, ihr sei durchaus bekannt, dass eine rückwirkende Übernahme des Differenzbetrages nicht möglich sei. Gleichzeitig bat sie nochmals darum, ihren Antrag vom 01.10.2015 – Übernahme der Unterkunftskosten ab Oktober 2015, d.h. für die Zukunft –, zu bescheiden.

Mit Bescheid vom 21.12.2016 setzte der Beklagte auf Antrag der Klägerin vom 23.01.2015 die Leistungen für die Zeit vom 01.03.2015 bis 29.02.2016, nachdem alle Einkommensnachweise vorlagen, endgültig fest. Mit Schreiben vom 17.01.2017, beim Beklagten eingegangen am 25.01.2017, legte die Klägerin Widerspruch gegen den Bewilligungsbescheid vom 21.12.2016 ein. Über diesen Widerspruch hat der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.04.2022 entschieden. Die Klägerin hat hiergegen Klage beim Sozialgericht Köln erhoben (S 11 AS 1369/22).

Den zugleich mit Schreiben vom 17.01.2017 gestellten „Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X bis 01.01.2016“ lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 01.02.2017 ab. Die Bescheide seien nicht zu beanstanden. Im dagegen geführten Widerspruchsverfahren wurden die angefochtenen Bewilligungen mit Bescheid vom 17.04.2018 dahingehend geändert, dass der Beklagte für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis 31.07.2016 höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung bewilligt hat. Für die Zeit ab dem 01.08.2016 verblieb es bei der bisherigen Bewilligung. Mit Widerspruchsbescheid ebenfalls vom 17.04.2018 wies der Beklagte den Widerspruch – soweit ihm nicht durch den Bescheid vom 17.04.2018 abgeholfen worden war – zurück. Dagegen hat die Klägerin keine Klage erhoben.

Die Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, stellte am 15.11.2018 einen Antrag nach § 44 SGB X auf „Überprüfung des Widerspruchsbescheides vom 17.04.2018“ und begehrte die Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten für August 2016 bis Dezember 2016. Der Beklagte lehnte eine Neubescheidung insoweit mit Bescheid vom 20.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.03.2019 ab. Die dagegen erhobene Klage wurde mit Urteil des Sozialgerichts Köln vom 25.08.2020 abgewiesen (S 11 AS 1631/19); das Berufungsverfahren ist beim Senat anhängig (L 7 AS 1724/20).

Mit Schreiben vom 08.03.2017 beantragte die Klägerin ausdrücklich die Übernahme der vollständigen Miete rückwirkend ab dem 15.11.2012. Sie berief sich auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Sie sei falsch beraten und nicht auf ihre „rechtlichen Möglichkeiten“ hingewiesen worden.

Mit Bescheid vom 04.04.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.11.2017 lehnte der Beklagte die Überprüfung der Leistungsgewährung für die Zeit vom 15.11.2012 bis zum 31.12.2015 unter Hinweis auf § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II ab. Der Überprüfungsantrag sei erstmals im März 2017 gestellt worden, so dass die Leistungen nur ab dem 01.01.2016 geprüft und gegebenenfalls nacherbracht werden könnten. Für die Zeit vor dem 01.01.2016 habe aufgrund des Fristablaufs keine Prüfung mehr zu erfolgen.

Die Klägerin hat – nunmehr vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten – am 29.11.2017 Klage beim Sozialgericht Köln erhoben. Sie ist der Ansicht, die Schreiben vom 01.10.2015 und 17.12.2015 enthielten bereits Überprüfungsanträge nach § 44 SGB X. Somit hätte eine Überprüfung bis zum 01.01.2014 erfolgen müssen. Zudem berufe sie sich auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Der Beklagte sei seiner Beratungspflicht in Kenntnis ihrer Wohnsituation nicht nachgekommen. Vielmehr habe er darauf verwiesen, dass sie gegen die von der Gaststätte ausgehende Lärmbelästigung und Bedrohung durch deren Betreiber zivilrechtlich vorgehen müsse. Sie habe am 29.11.2012 nochmals beim Beklagten vorgesprochen. Zu diesem Termin sei sie von Herrn S begleitet worden. Dieser könne bestätigen, dass an diesem Termin keine Beratung stattgefunden habe. Bei der Vorsprache am 29.11.2012 habe man ihr lediglich mitgeteilt, dass der Beklagte den Umzug nicht genehmigen könne. Die Deckelung der Kosten der Unterkunft und Heizung sei unzulässig, weil die Stadt N nicht über ein schlüssiges Konzept verfüge. Auf jeden Fall sei ab Juni 2013 eine Bruttokaltmiete i.H.v. 488 € zu zahlen.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 04.04.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.11.2017 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit vom 15.11.2012 bis zum 31.12.2015 die tatsächlichen Kosten der Unterkunft zu gewähren, hilfsweise, der Klägerin für die Zeit vom 15.11.2012 bis zum 31.12.2015 Kosten der Unterkunft in Höhe von 488 € zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat auf die Frist des § 44 SGB X verwiesen. Zudem liege keine Verletzung der Beratungspflicht vor. Die Klägerin sei im Anschluss auf eine per Mail gestellte Anfrage vom 05.03.2012 für den 16.03.2012 ausdrücklich zu dem Thema „Wohnungssuche“ zum Gespräch eingeladen worden. Die Vorsprache am 29.11.2012 habe ebenso wenig eine Beratungspflicht begründet. Dieser Termin sei zeitlich nach dem Umzug gewesen. Der Klägerin sei aufgezeigt worden, dass der Umzug nicht nachträglich genehmigt werden könne. Gründe dafür seien ihr mitgeteilt worden.

Das Sozialgericht hat im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 25.08.2020 darauf hingewiesen, dass der Antrag der Klägerin vom 01.10.2015 auf Zahlung der tatsächlichen Unterkunftskosten für die Zeit von Oktober 2015 bis Dezember 2015 noch nicht beschieden worden sei.

Das diesbezügliche Klageverfahren (Bescheid vom 12.01.2021, Widerspruchsbescheid vom 05.05.2021) ist beim Sozialgericht anhängig (S 11 AS 1835/21). Das Verfahren ruht (Beschluss vom 10.06.2021).

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 25.08.2020 abgewiesen. Die Bescheide vom 04.04.2017 und 13.11.2017 seien rechtmäßig. Der Beklagte habe den Antrag nach § 44 SGB X aus Januar 2017 gerichtet auf Gewährung der tatsächlichen Unterkunftskosten für die Zeit vom 15.11.2012 bis zum 31.12.2015 zu Recht wegen Fristablauf abgelehnt. Eine Überprüfung und Erbringung von Alg II sei ab Januar 2016 möglich. Die Schreiben der Klägerin aus Oktober und Dezember 2015 seien nicht als Überprüfungsanträge zu werten. Zu beachten sei auch, dass, sofern man die Grundlagen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs annehme - was aufgrund der nicht ausreichend konkret dargelegten Beratungspflichtverletzung nicht bejaht werde – die Regelungen über die Vierjahresfrist nach
§ 44 SGB X bzw. dann auch über die Jahresfrist nach § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II analog anzuwenden wären, so dass ein Anspruch nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ausgeschlossen wäre.

Gegen das am 16.10.2020 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 12.11.2020 Berufung eingelegt. Das Meistbegünstigungsprinzip gebiete es, die Schreiben von Oktober und Dezember 2015 als Überprüfungsanträge zu werten. Auch sei die Beratungspflicht verletzt. Sie sei darauf verwiesen worden, ihre zivilrechtlichen Probleme selbst zu lösen. Für die Zeit vom 15.11.2012 bis zum 28.02.2015 stünden ihr höhere Unterkunftskosten zu.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 25.08.2020 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 04.04.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.11.2017 zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 15.11.2012 bis zum 28.02.2015 die tatsächlichen Kosten der Unterkunft zu zahlen,

hilfsweise, ihr für die Zeit vom 15.11.2012 bis zum 28.02.2015 Kosten der Unterkunft in Höhe von 488 € zu zahlen,  

weiter hilfsweise, den Beklagten zu verurteilen, über den Antrag vom 01.10.2015 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er schließt sich den Ausführungen des Sozialgerichts an.

Der Senat hat die Beteiligten unter dem 26.01.2022 und 08.06.2022 zu einer Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG angehört.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrigen Gerichtsakten sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.

 

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann die Berufung – nach Anhörung der Beteiligten – gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss zurückweisen, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Maßgeblich sind allein Rechtsfragen, die anhand des Akteninhalts beantwortet werden können. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, sich hierzu zu äußern.

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

Streitgegenstand ist der Bescheid vom 04.04.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.11.2017, mit dem der Beklagte den Antrag der Klägerin vom 08.03.2017 nach § 44 SGB X auf nachträgliche Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten unter Hinweis auf § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X ablehnte.

Das Begehren der Klägerin ist im Berufungsverfahren noch darauf gerichtet, nach Aufhebung des ablehnenden Überprüfungsbescheides vom 04.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.11.2017 eine Überprüfung sämtlicher Bewilligungsbescheide für den Zeitraum vom 15.11.2012 bis 28.02.2015 sowie die Zahlung von monatlich weiteren 192 € zu erreichen. Richtige Klageart ist insoweit eine kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (BSG Urteile vom 29.03.2022 – B 4 AS 2/21 R und vom 12.10.2016 – B 4 AS 37/15 R).

Nicht Gegenstand des Klage- und Berufungsverfahren ist die Höhe der Kosten für Unterkunft und Heizung von März 2015 bis Dezember 2015. Die Klägerin hat im Berufungsverfahren das Begehren gegenüber dem Klageverfahren begrenzt auf den Zeitraum vom 15.11.2012 bis zum 28.02.2015. Zudem sind die Ansprüche der Klägerin für die Zeit von Oktober 2015 bis Dezember 2015 (Bescheid vom 12.01.2021, Widerspruchsbescheid vom 05.05.2021) bzw. für März 2015 bis Februar 2016 (Bescheid vom 21.12.2016, Widerspruchsbescheid vom 26.04.2022) beim Sozialgericht Köln ruhend gestellt bzw. anhängig (S 11 AS 1835/21 bzw. S 11 AS 1369/22).

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin ist nicht beschwert i.S.v. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der angefochtene Bescheid vom 04.04.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.11.2017 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Übernahme der Unterkunftskosten in tatsächlicher Höhe bzw. i.H.v. 488 € monatlich oder auf „Bescheidung des Antrags vom 01.10.2015 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts“. Der Beklagte hat zu Recht unter Hinweis auf den Fristablauf ohne Prüfung der Sach- und Rechtslage die Überprüfung abgelehnt.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, das bei Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Nach § 44 Abs. 4 SGB X werden Sozialleistungen für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (Satz 2). Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, an Stelle der Rücknahme der Antrag (Satz 3). Für Leistungen nach dem SGB II ist zu beachten, dass nach § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II anstelle des Zeitraums von vier Jahren nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X ein Zeitraum von einem Jahr tritt.

Mit Schreiben vom 08.03.2017 beantragte die Klägerin persönlich die Übernahme der tatsächlichen Miete ab dem 15.11.2012 unter dem Gesichtspunkt des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Dieser Antrag ist als Antrag nach § 44 SGB X zu werten. Unter Berücksichtigung der §§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X und 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist der Beginn der Jahresfrist der 01.01.2016. Damit können allenfalls Leistungen für die Zeit ab dem 01.01.2016 erbracht werden. Die Rücknahme der Bewilligungsbescheide und Nachzahlung kann jedoch nicht für die Zeit vor dem 01.01.2016 erfolgen.

Eine Überprüfung der vom Beklagten erlassenen Bewilligungsbescheide nach § 44 SGB X Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs.1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für die Zeit ab 01.01.2014 scheidet ebenfalls aus. Entgegen der Ansicht der Klägerin spricht nichts dafür, die Schreiben der Klägerin vom 01.10.2015 und 17.12.2015 bereits als Antrag nach § 44 SGB X zu qualifizieren. Dabei verkennt der Senat nicht, dass ein im Verwaltungsverfahren bzw. im Klageverfahren gestellter Antrag unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Meistbegünstigung auszulegen ist (vgl. hierzu BSG Urteile vom 06.04.2011 – B 4 AS 19/10 R und vom 26.08.2008 – B 8/9b SO 18/07 R; Schmidt in Meyer-Ladewig, SGG, 13. Auflage 2020, § 92 Rn. 12, § 78 Rn. 4, § 123 Rn. 3). Danach ist ein Antrag unabhängig vom Wortlaut unter Berücksichtigung des wirklichen Willens so auszulegen (§ 123 SGG), dass das Begehren möglichst weitgehend zum Tragen kommt. Die Gerichte haben sich nicht daran zu orientieren, was als Klageantrag zulässig ist, sondern was nach dem klägerischen Vorbringen begehrt wird, soweit jeder vernünftige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung anpassen würde und keine Gründe für ein anderes Verhalten vorliegen. Danach ist nicht an dem Wortlaut einer Erklärung zu haften, sondern der wirkliche Wille zu erforschen und zu berücksichtigen, soweit er für das Gericht und die Beteiligten erkennbar ist. Dabei muss der für das Gericht und die übrigen Beteiligten erkennbare gesamte Klagevortrag einschließlich der Verwaltungsvorgänge herangezogen werden. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass ein Kläger ohne Rücksicht auf den Wortlaut des Antrags all die Leistungen begehrt, die ihm den größten Nutzen bringen können.

Unter Beachtung dieser Grundsätze vermag der Senat in den persönlich verfassten Schreiben der Klägerin vom 01.10.2015 und 17.12.2015 keine (rückwirkenden) Überprüfungsanträge nach § 44 SGB X erkennen. Bereits nach dem Wortlaut des Schreibens aus Oktober 2015 begehrt die Klägerin unter ausdrücklichem Hinweis auf die Änderung in ihren gesundheitlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Übernahme der bisher nicht anerkannten Unterkunftskosten i.H.v.192 € monatlich ausdrücklich ab Oktober 2015. Der Antrag ist somit – ohne dass Auslegungsspielräume gesehen werden könnten – gegenwarts- und zukunftsgerichtet gestellt. Auch der weitere Inhalt des Verwaltungsvorgangs enthält nach Einschätzung des Senats keine Anhaltspunkte für eine hiervon abweichende Auslegung unter Berücksichtigung eines erkennbar vom Wortlaut der Schreiben der Klägerin abweichenden wirklichen Willens. Sie hat, nachdem der Beklagte ihr mit Schreiben vom 04.11.2015 mitteilte, dass eine rückwirkende Übernahme des Differenzbetrages zur tatsächlichen Miete nicht in Betracht komme, mit Schreiben vom 17.12.2015 unmissverständlich ausgeführt, dass ihr bekannt sei, dass eine rückwirkende Zahlung der tatsächlichen Unterkunftskosten nicht möglich sei und nochmals die Bescheidung des noch offenen Antrages auf Zahlung von weiteren 192 € ab Oktober 2015 („für die Zukunft ab 10.2015)“) angemahnt. Etwas anderes lässt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt, dass die Klägerin persönlich die Schreiben verfasste, begründen. Die Schriftsätze sind sprachlich klar und eindeutig formuliert und geben auch aus dem Gesamtzusammenhang keinen Anlass, dass nicht nur für die Gegenwart/ Zukunft, sondern auch rückwirkend, d.h. für die Zeit, in der der Differenzbetrag von der Mutter bzw. durch das Einkommen aus der geringfügigen Tätigkeit der Klägerin bestritten wurde, nunmehr eine Überprüfung der Leistungsbescheide ab November 2012 begehrt wird. Die Klägerin hat vielmehr eindeutig im Oktober 2015 den Willen kundgetan, erst zukünftig einen um 192 € erhöhten Unterkunftsbedarf zu erhalten.

Der Klägerin steht auch kein Anspruch auf Zahlung der Unterkunftskosten in tatsächlicher Höhe bzw. i.H.v. 488 € monatlich für den Zeitraum vom 15.11.2012 bis 28.02.2015 aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu.

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Leistungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder des konkreten Sozialrechtsverhältnisses gegenüber dem Berechtigten obliegenden Haupt- oder Nebenpflichten, insbesondere zur Auskunft und Beratung, ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Der sozialrechtlich Herstellungsanspruch setzt voraus, dass der Sozialleistungsträger eine ihm aufgrund des Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft (§§ 14, 15 SGB I), verletzt hat. Ferner ist erforderlich, dass zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Schließlich muss der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können. Die Korrektur durch den Herstellungsanspruch darf dem jeweiligen Gesetzeszweck nicht widersprechen (BSG Urteile vom 18.01.2011 – B 4 AS 29/10 R, vom 18.01.2011 – B 4 AS 99/10 R Rn. 24 und vom 31.10.2007 - B 14/11b AS 63/06 R).

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Beklagte hat im Jahr 2012 unter Berücksichtigung des Vortrags der Klägerin keine Beratungspflicht verletzt. Im März 2012 hat die Klägerin nach eigenem Vorbringen und nach dem Akteninhalt gegenüber dem Beklagten zwar ihre schwierige Wohnsituation geschildert, aber weder ein konkretes Wohnungsangebot vorgelegt noch ansonsten geltend gemacht, dass sie die Wohnung wechseln möchte. Daher bestand nach Aktenlage kein Anlass, die Klägerin zu den rechtlichen Rahmenbedingungen bei der Suche einer anderen Wohnung und des Umzugs zu beraten. Vielmehr hat der Beklagte ausgehend von den Schwierigkeiten mit dem Pächter der Gaststätte, die Klägerin gebeten, die Probleme vor Ort bzw. mit dem Pächter bzw. dem Vermieter zu lösen, was unter Zugrundelegung der Selbsthilfeobliegenheit eines Leistungsempfängers bei zivilrechtlichen/ nachbarschaftlichen Auseinandersetzungen nicht zu beanstanden ist (vgl. Beschluss des Senats vom 10.02.2010 – L 7 B 424/09 AS). Eine Beratungspflicht bestand ebenso wenig im November 2012. Zu diesem Zeitpunkt war die Klägerin bereits umgezogen. Eine Zustimmung zu dem Umzug bzw. Genehmigung war somit nicht mehr möglich. Eine Verletzung der Beratungspflicht des Beklagten im November 2012 unterstellt, fehlt es jedoch auch an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und dem Nachteil des Betroffenen. Die Klägerin macht weder geltend, noch ist dies sonst ersichtlich, dass sie über die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Umzugszusicherung nicht Bescheid wusste. Darüber hinaus ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass sie bei entsprechender Beratung durch den Beklagten den Umzug in eine angemessene Wohnung beantragt und vollzogen hätte (vgl. zur Kausalität: BSG Urteil vom 31.10.2017 – B 14/11b AS 63/06 R). Für die Vorsprache im November 2012 ist dies schon deswegen evident, weil nach dem Umzug – auch bei einer umfassenden Beratung – eine Umzugszusicherung vor dem Umzug nicht mehr möglich war.

Schließlich ist weder dargetan noch sonst ersichtlich, dass der Nachteil der Klägerin durch eine zulässige Amtshandlung ausgeglichen werden könnte. Dies gilt insbesondere für die Vorsprache am 29.11.2012, weil angesichts des zu diesem Zeitpunkt bereits vollzogenen Umzugs mangels vorheriger Antragstellung die Erteilung der Umzugszusicherung keine zulässige Amtshandlung gewesen wäre. Daher bedarf es auch keiner weiteren Ermittlung, z.B. durch Vernehmung des Herrn S, der die Klägerin im November 2012 zu dem Gespräch bei dem Beklagten begleitete. Denn unterstellt, es hat im November 2012 keine Beratung stattgefunden, kann die Klägerin hieraus nach dem Dargelegten keinen Anspruch auf Zahlung weiterer Unterkunftskosten herleiten. Ob sich aus den Schreiben aus Oktober 2015 und Dezember 2015 eine Pflicht zur Beratung ergibt, bedarf keiner Entscheidung. Denn die Klägerin hat den Streitgegenstand bis zum 28.02.2015 begrenzt.

Unabhängig davon, dass die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hier nicht vorliegen, weist der Senat darauf hin, dass die Klägerin einem Zirkelschluss unterliegt. Denn auch der Herstellungsanspruch kommt nach § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X dann nicht zur Anwendung, wenn es um Leistungen geht, die länger als ein Jahr zurückliegen. Selbst wenn die Versäumung der Frist nach § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X auf einem Fehlverhalten der Behörde beruht, kann ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nicht zu einer mehr als ein Jahr rückwirkenden nachträglichen Leistungspflicht führen. Denn die Verletzung einer Nebenpflicht kann nicht weiterreichende Folgen haben als die Verletzung der Hauptpflicht (so für § 44 Abs. 4 SGB X ausdrücklich: BSG Beschluss vom 04.07.2017 – B 10 EG 20/16 B).

Über den weiter hilfsweise gestellten Antrag war nicht zu entscheiden, da die Bescheide vom 04.04.2017 und 13.11.2017 wie dargelegt rechtmäßig sind.

Mangels sachinhaltlicher Prüfung konnte der Senat offen lassen, ob sich Zuschüsse, die dem Grundsicherungsberechtigten von Verwandten (hier der Mutter) zweckbestimmt zur Absenkung der Mietlasten gezahlt werden, bedarfsmindernd auswirken bzw. dem Leistungsberechtigten wirtschaftlich als Einkommen zufließen (vgl. Senatsurteil vom 01.07.2021 – L 7 AS 1322/20 Rn. 44).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

 

 

Rechtskraft
Aus
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