L 8 SO 277/18

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG Aurich (NSB)
Aktenzeichen
S 13 SO 32/16
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 8 SO 277/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Zur Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes bei der Auslegung von Rechtsbehelfen. 2. Der Anspruch auf Anerkennung eines (höheren) Mehrbedarfs nach § 30 Abs 5 SGB XII kann einen abtrennbaren Streitgegenstand darstellen. 3. Ein Beteiligtenwechsel wegen der gesetzlichen Änderung der sachlichen Zuständigkeit kommt für in der Vergangenheit geltend gemachte Ansprüche nicht in Betracht, wenn durch die Gesetzesänderung keine umfassende Funktionsnachfolge erfolgt ist (vgl. auch BSG v. 18.11.2015 - B 9 V 1/15 R - juris Rn. 14). 4. Zur Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung nach § 30 Abs 5 SGB XII; hier verneint für die sog Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität bzw. Nicht-Zöliakie-Weizensensivität (NCGS).

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 1. November 2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Im Streit ist die Anerkennung eines höheren Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung aufgrund einer Glutenunverträglichkeit für die Zeit von August 2015 bis Januar 2017.

Die 1979 geborene, alleinstehende Klägerin lebte seit Anfang 2013 in der im Kreisgebiet des Beklagten liegenden Gemeinde H. (im Folgenden Gemeinde) in einer etwa 50 qm großen Mietwohnung, für die sie im streitgegenständlichen Zeitraum monatlich eine Kaltmiete von 272,00 € sowie Nebenkosten von 75,16 € zu entrichten hatte. Seit ihrem Umzug dorthin bezog sie vom Beklagten bzw. von der von ihm für diese Aufgaben herangezogenen Gemeinde Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (Grundsicherungsleistungen) unter Berücksichtigung ihrer Rente wegen voller Erwerbsminderung, deren monatlicher Auszahlungsbetrag sich von August 2015 bis Februar 2016 auf 498,79 € (zuvor 490,18 €), von März bis Juni 2016 auf 495,43 € und von Juli 2016 bis Januar 2017 auf 516,46 € belief. Hintergrund der vollen Erwerbsminderung der Klägerin sind ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die auf operative Korrekturen bei Blasenfehlbildung (Blasenextrophobie) im Säuglingsalter und einem Harnblasenersatz mit Bauchdeckenkatheterisierung (im Alter von zwölf Jahren) zurückzuführen sind und sich u.a. durch chronische Harnwegsinfekte bzw. Nierenbeckenentzündungen auszeichnen. Wegen der zusätzlichen Erkrankung an Multiple Sklerose und ihres stark eingeschränkten Allgemeinzustandes wurde beim Bezug der Grundsicherungsleistungen ab Februar 2014 ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung (Aufbaukost, eiweißdefinierte Kost) zunächst in Höhe von 10 % des Regelsatzes nach der Regelbedarfsstufe 1 berücksichtigt, so auch für die Zeit von Februar 2015 bis Januar 2016 durch (bestandskräftige) Bescheide der Gemeinde vom 19.1.2015 und 25.1.2016 (bewilligte Grundsicherungsleistungen u.a. für die Zeit von August bis Dezember 2015 i.H.v. 327,17 € und für Januar 2016 i.H.v. 333,28 €). Nach Vorlage einer Bescheinigung ihres Hausarztes, Dr. I., Facharzt für Allgemeinmedizin, H., aus August 2015 über eine deutlich eingeschränkte Nierenfunktion (Niereninsuffizienz) und das Beschwerdebild „Zöliakie/Sprue (Unverträglichkeit von Gluten und Glutensensivität)“ berücksichtigte die Gemeinde auf die Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Beklagten (Amtsärztin Dr. J.) vom 15.10.2015 wegen der Niereninsuffizienz einen um weitere 10 % des Regelsatzes nach der Regelbedarfsstufe 1 erhöhten Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung und bewilligte der Klägerin Grundsicherungsleistungen durch (zwei) Bescheide vom 28.1.2016, zum einen für die Zeit von August bis Dezember 2015 (327,17 € je Monat) sowie Januar 2016 (333,28 €) und zum anderen für Februar 2016 (343,27 €), März bis Juli 2016 (333,17 € je Monat), August 2016 (343,27 €) sowie September 2016 bis Januar 2017 (333,17 € je Monat). Dem gegen „ihren“ Bescheid vom 28.1.2016 wegen des nicht berücksichtigten Mehrbedarfs aufgrund Glutensensivität eingelegten Widerspruch half die Gemeinde nicht ab; dieser hatte nach einer weiteren Stellungnahme des Gesundheitsamtes (Amtsärztin Dr. J. vom 7.4.2016) wegen des fehlenden Nachweises einer Glutenunverträglichkeit in der Sache keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 3.5.2016).

 

Nach Erhebung der auf die Anerkennung eines höheren Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung gerichteten Klage beim Sozialgericht (SG) Aurich (am 25.5.2016) hat die Gemeinde der Klägerin aufgrund von Rentenanpassungen (ab März 2016) durch Änderungsbescheid vom 21.6.2016 Grundsicherungsleistungen für die Zeit von März bis Juni (336,53 € je Monat), Juli (315,50 €) und August 2016 (325,60 €) sowie für September 2016 bis Januar 2017 (315,50 €) bewilligt. Ein im Juli 2016 von der Klägerin in diesem Zusammenhang eingeleitetes Eilverfahren hatte mangels Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit der Sache (Anordnungsgrund) keinen Erfolg (Beschluss des SG vom 26.8.2016 - S 13 SO 51/16 ER -). Nach Beiziehung von Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte Dr. I. vom 8.8.2016, K., Facharzt für Neurologie, L., vom 15.8.2016, M., Facharzt für Urologie, vom 23.8.2016 sowie des Universitätsklinikums N. (UMM), Zentrum für Kinder- und Jugendurologie, vom 16.8.2016 sowie des Dr. O., Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie, Diagnostische Radiologie, Proktologie, des Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) Klinikum P. vom 11.1.2018 hat das SG die Klage nach gescheiterten Vergleichsverhandlungen (in der mündlichen Verhandlung am 19.9.2018) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil vom 1.11.2018 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, Gegenstand des Verfahrens seien höhere Leistungen wegen des allein streitigen ernährungsbedingten Mehrbedarfs aufgrund einer Glutenunverträglichkeit (i.S. eines separaten Streitgegenstandes) für die Zeit von August 2015 bis Januar 2017, weil der Widerspruch der Klägerin nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz so auszulegen sei, dass er sich gegen beide, also die diesen Zeitraum insgesamt regelnden Bescheide der Gemeinde vom 28.1.2016 gerichtet hat. Nach Ermittlung des medizinischen Sachverhalts sei eine Zöliakie insbesondere aufgrund der Diagnose nach Blutuntersuchung (negative Antikörperbestimmung) des Dr. O. vom 11.1.2018 ausgeschlossen. Eine mögliche Glutenunverträglichkeit bei unauffälliger Antikörperbestimmung (auch genannt als „Nicht-Zöliakie-Gluten-/Weizen-Sensivität“ - NCGS) sei nicht nachgewiesen. Dies gehe zu Lasten der Klägerin. Unter Berücksichtigung der von ihr eingereichten (weiteren) Bescheinigung des Dr. O. vom 7.3.2018 könne eine solche Diagnose nur durch eine gezielte Konfrontation mit Allergenen (Einnahme von Gluten) mit möglichen und unter Umständen dauerhaften Schädigungen im Verdauungstrakt, insbesondere im Dünndarm, und zweimalige Dünndarmspiegelung erfolgen. Die Einschätzung des Dr.  O., selbst hierdurch könnte es zu keiner weiteren Klärung der Diagnose kommen, teilte das SG nicht. Allerdings hat es von einer entsprechenden Beweiserhebung wegen des damit einhergehenden Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit der Klägerin und mit Hinweis auf Grenzen der Amtsermittlungspflicht in solchen Fällen abgesehen, ohne dem (schriftsätzlich) gestellten Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens stattzugeben.

 

Gegen die am 14.11.2018 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin vom 14.12.2018. Über ihr erstinstanzliches Vorbringen hinaus macht sie geltend, das Problem einer sicheren Diagnose der von einer Zöliakie zu unterscheidenden anderen Formen der Gluten- oder Weizenunverträglichkeiten sei allgemein bekannt. Unter Vorlage einer (sie nicht betreffenden) Ambulanzkarte des Landeskrankenhaus Q., Abteilung für Innere Medizin, (wohl) aus dem Jahr 2015 und eines Auszuges aus einem (ebenfalls sie nicht betreffenden) Schwerbehindertenausweis bzw. Feststellungsbescheid trägt sie vor, es gebe in Österreich Methoden einer sicheren Diagnose und Anerkennung einer Glutensensivität auf andere Weise (wohl ohne Nahrungsmittelkonfrontationstest). Insoweit halte sie an ihrem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens fest.

 

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

 

das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 1.11.2018 aufzuheben, die Bescheide der Gemeinde H. vom 28.1.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 3.5.2016 sowie des Änderungsbescheides der Gemeinde H. vom 21.6.2016 zu ändern und

 

den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin zusätzlich zu den bereits bewilligten Leistungen nach dem SGB XII einen um 20 % des für die Klägerin maßgebenden Regelsatzes höheren Mehrbedarf wegen Gluten- und Glutamatunverträglichkeit zu bewilligen.

 

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

 

          die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält die Entscheidung des SG, nun auch unter Berufung auf die 2020 neu aufgelegten Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung des Mehrbedarfs bei kostenaufwändiger Ernährung (5. Aufl., DV 12/20, abrufbar unter https://www.deutscher-verein.de; im Weiteren Empfehlungen), für zutreffend.

 

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung einer die Empfehlungen ergänzenden Stellungnahme des Deutschen Vereins, nach der es unter Verweis auf das von diesem übersandte Gutachten „Krankenkostzulage“ der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin e.V. (DGEM) vom 18.12.2019 keine gesicherten Kriterien zur Diagnose der sog. „Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität“ bzw. „Nicht-Zöliakie-Weizensensivität“ (kurz NCGS bzw. NCWS, im Weiteren nur NCGS) gebe und die damit einhergehenden gastrointestinalen Beschwerden durch verschiedene im Weizen vorkommende Inhaltsstoffe (und nicht unbedingt durch Gluten) ausgelöst werden könnten.

 

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (Schriftsätze vom 8. und 17.6.2022).

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte, der Gerichtsakte des beim SG geführten Eilverfahrens (- S 13 SO 51/16 ER -) und der Verwaltungsakte (ein Band) Bezug genommen.

 

EnTscheidungsgründe

 

Der Senat entscheidet mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs. 2 SGG).

 

Die form- und fristgerecht (§ 151) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere ohne Zulassung statthafte (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG) Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

 

Gegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4, § 56 SGG) sind die Bescheide der Gemeinde vom 28.1.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 3.5.2016 (§ 95 SGG), durch die der Klägerin einerseits für August 2015 bis Januar 2016 und andererseits für Februar 2016 bis Januar 2017 monatlich Grundsicherungsleistungen in unterschiedlicher Höhe bewilligt worden sind. Das SG hat seiner Entscheidung zutreffend zu Grunde gelegt, dass sich der Widerspruch der Klägerin vom 3.2.2016 nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz (zur Berücksichtigung dieses Grundsatzes bei der Auslegung von Rechtsbehelfen vgl. etwa BSG, Beschluss vom 26.7.2018 - B 8 SO 46/18 B - juris Rn. 2) - trotz der Bezugnahme auf wohl nur einen („ihren“) Bescheid - gegen beide Ausgangsentscheidungen der Gemeinde (vom gleichen Datum) gerichtet hat, weil dem Anliegen der Klägerin, höhere Mehrbedarfsleistungen auch für einen längeren Zeitraum zu erhalten, im Zweifel möglichst umfassend Rechnung getragen werden muss. Im Weiteren ist der Änderungsbescheid der Gemeinde vom 21.6.2016 über die Grundsicherungsleistungen für März 2016 bis Januar 2017 gemäß § 96 Abs. 1 SGG als Folgebescheid Gegenstand des Verfahrens (geworden).

 

Der Streitgegenstand ist wirksam beschränkt auf die Anerkennung eines höheren pauschalierten Mehrbedarfs nach § 30 Abs. 5 SGB XII (zur Abtrennbarkeit als eigener Streitgegenstand im Sozialhilferecht vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 25.4.2018 - B 8 SO 25/16 R - juris Rn. 12 m.w.N.; anders bei einer behördlichen Ablehnung dieses Teilbedarfs, vgl. Senatsbeschluss vom 11.12.2014 - L 8 SO 106/14 B - juris Rn. 7 sowie Senatsurteil vom 26.1.2021 - L 8 SO 286/17 - juris Rn. 25; die Änderungen der leistungsrechtlichen Begriffe im Grundsicherungsrecht zum 1.1.2016, BGBl. I 2015, 2557, sind insoweit unerheblich, vgl. Coseriu/Filges in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 19 Rn. 95 m.w.N.); ein Anspruch auf höhere Grundsicherungsleistungen unter jedem denkbaren Gesichtspunkt ist daher nicht im Streit. Die Klägerin hatte mit dem zunächst angekündigten Antrag (Klageschrift vom 23.5.2016) Leistungen nach dem SGB XII „nach den gesetzlichen Vorgaben“ begehrt; nachdem schon das SG von einer Beschränkung des Streitgegenstandes ausgegangen war (vgl. Urteil des SG, S. 4), ist diese (spätestens) mit dem in zweiter Instanz in der Berufungsbegründung vom 9.7.2019 gestellten Antrag erfolgt, der sich in der Sache - „zusätzlich zu den bisherigen Leistungen“ - (allein) auf „einen weiteren Mehrbedarf wegen Gluten- und Glutamatunverträglichkeit“ bezieht. Wegen der geltend gemachten krankheitsbedingten Mehrkosten bei der Ernährung ist damit nicht über eine abweichende Regelsatzfeststellung nach § 42, § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII zu befinden, die aber ohnehin nicht in Betracht kommt, soweit - wie hier - der sachliche Anwendungsbereich des § 30 Abs. 5 SGB XII (dem Grunde nach) eröffnet ist. Die mit der streitgegenständlichen Teilbarkeit einhergehende Frage, auf welchen Bedarf bzw. in welcher Reihenfolge und zu welchen Teilen einzusetzendes Einkommen oder Vermögen auf (Teil-)Bedarfe anzurechnen wäre (vgl. dazu BSG, Urteil vom 26.8.2008 - B 8/9b SO 10/06 R - juris Rn. 15 f.; Coseriu/Filges in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 27 Rn. 42), muss hier nicht beantwortet werden; bezogen auf die zusätzlich begehrten Mehrbedarfsleistungen stellt sie sich bei einer - wie hier - erfolglosen Rechtsverfolgung nicht.

 

Die Klage richtet sich zutreffend gegen den Beklagten, der für den streitgegenständlichen Zeitraum als örtlicher Träger der Sozialhilfe (§ 3 Abs. 2 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 1 Abs. 2 Satz 1 des zum 1.1.2020 außer Kraft getretenen Niedersächsischen Gesetzes zur Ausführung des SGB XII - Nds. AG SGB XII - vom 16.12.2004, Nds. GVBl. 2004, 644) sachlich (§ 46b Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 1 Abs. 1 und 2 Satz 1, § 6 Abs. 1 Nds. AG SGB XII) und örtlich (§ 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 6a Satz 1 Nds. AG SGB XII) für die Entscheidung über den Anspruch der Klägerin nach dem Vierten Kapitel des SGB XII zuständig (gewesen) ist. Das Inkrafttreten des Niedersächsischen Gesetzes zur Ausführung des SGB IX und des SGB XII (Nds. AG SGB IX/XII vom 24.10.2019, Nds. GVBl. S. 300) mit Wirkung vom 1.1.2020, nach dem die sachliche Zuständigkeit für Leistungen der Sozialhilfe an Leistungsberechtigte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, grundsätzlich - wie auch hier - auf das Land Niedersachsen als überörtlichen Träger der Sozialhilfe übergegangen ist (§ 46b Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 2 Abs. 3, § 3 Abs. 1 Satz 1 Nds. AG SGB IX/XII), führt nicht zu einem Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes, weil durch diese Gesetzesänderung keine umfassende Funktionsnachfolge auch für in der Vergangenheit geltend gemachte Ansprüche erfolgt ist (vgl. dazu BSG, Urteil vom 18.11.2015 - B 9 V 1/15 R - juris Rn. 14). Ungeachtet dessen müsste sich eine Klage auch nach neuem Recht gegen den beklagten Kreis richten, weil dieser seit 2020 über die Leistungen der Grundsicherung im Rahmen der Heranziehung für das Land Niedersachsen im eigenen Namen entscheidet und damit im Außenverhältnis verpflichtet ist (§ 2 Abs. 2 Satz 1, § 4 Abs. 2 Nr. 1, § 6 Abs. 4 Nds. AG SGB IX/SGB XII; sog. Wahrnehmungszuständigkeit, vgl. etwa BSG, Urteil vom 30.8.2017 - B 14 AS 31/16 R - juris Rn. 14 m.w.N.).

 

Die Klägerin ist dem Grunde nach leistungsberechtigt nach §§ 19 Abs. 2, 41 ff. SGB XII, weil sie das 18. Lebensjahr vollendet hat, wegen einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert i.S. des § 43 Abs. 2 SGB VI ist und bei ihr unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann (§ 41 Abs. 1 und 3 SGB XII in der vom 1.1.2016 bis 12.12.2019 geltenden Fassung, BGBl. I 2557).  Sie hat im streitgegenständlichen Zeitraum über kein nach § 90 SGB XII einzusetzendes Vermögen verfügt und ist nicht in der Lage gewesen, ihren notwendigen Lebensunterhalt (vollständig) aus der Erwerbsminderungsrente zu bestreiten. Der geltend gemachte Anspruch auf höhere Mehrbedarfsleistungen wegen kostenaufwändiger Ernährung gemäß § 42 Satz 1 Nr. 2 SGB XII i.V.m. § 30 Abs. 5 SGB XII, als ihr durch die angefochtenen Bescheide in monatlicher Höhe von 20 % des Regelsatzes nach der Regelbedarfsstufe 1 bereits bewilligt worden sind, steht der Klägerin nicht zu.

 

Nach § 30 Abs. 5 SGB XII (hier in der vom 1.1.2011 bis 31.12.2019 geltenden Fassung vom 24.3.2011, BGBl. I 453) wird für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder von einer Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Nach der Rechtsprechung des BSG ist Voraussetzung für die Anerkennung eines solchen Mehrbedarfs eine bestehende oder eine drohende Erkrankung oder Behinderung, die eine besondere Ernährung ("Krankenkost") bedingt, mit der gegenüber der in der Bevölkerung üblichen, im Regelbedarf zum Ausdruck kommenden Ernährung höhere Kosten einhergehen (vgl. etwa BSG, Urteil vom 14.2.2013 - B 14 AS 48/12 R - juris Rn. 12 ff.). Nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen (u.a. den vom SG eingeholten Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte Dr. I. vom 8.8.2016, K. vom 15.8.2016, M. vom 23.8.2016 sowie des UMM, Zentrum für Kinder- und Jugendurologie, vom 16.8.2016 sowie des Dr. O. des MVZ Klinikum P. vom 11.1.2018) bestehen bei der Klägerin diverse Gesundheitsbeeinträchtigungen; im Hinblick auf den geltend gemachten Mehrbedarf stehen im Vordergrund die Multiple Sklerose und eine schon langjährig bestehende Niereninsuffizienz. Aufgrund dieser Erkrankungen ist bereits ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung von 20 % des Regelsatzes nach der Regelbedarfsstufe 1 anerkannt worden, weil mit der Multiple Sklerose eine schwere konsumierende Erkrankung mit erheblicher Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes vorgelegen und die Niereninsuffizienz eine eiweißdefinierte Kost erfordert haben soll. Die Bewilligung der entsprechenden Mehrbedarfsleistungen ist auch unter Berücksichtigung der o.g. Empfehlungen des Deutschen Vereins nicht zu Ungunsten der Klägerin erfolgt. Die Empfehlungen erfüllen weder nach ihrer Konzeption noch nach ihrer Entstehungsgeschichte die Anforderungen an antizipierte Sachverständigengutachten erfüllen, die von den Gerichten in normähnlicher Weise angewandt werden könnten (vgl. BSG, Urteil vom 14.2.2013 - B 14 AS 48/12 R - juris Rn. 16 m.w.N.); sie sind eine in der Verwaltungspraxis etablierte generelle Orientierungshilfe, die im Normalfall eine gleichmäßige und schnelle Bearbeitung geltend gemachter Mehrbedarfe im Bereich der Krankenkost erlauben (BSG, Urteil vom 27.2.2008 - B 14/7b AS 32/06 R - juris Rn. 39) und „den Umfang der Ermittlungen im Einzelfall“ steuern (BSG, Urteil vom 14.2.2013 - B 14 AS 48/12 R - juris Rn. 16; zum Ganzen auch Harich in jurisPR-SozR 25/2013 Anm. 2; zur Bedeutung der Empfehlungen als Orientierungshilfe im Rahmen der freien Beweiswürdigung vgl. auch Senatsurteil vom 24.6.2021 - L 8 SO 131/19 -; LSG Hamburg, Urteil vom 6.12.2018 - L 4 AS 168/16 - juris Rn. 58, 63 m.w.N.; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 10.1.2019 - L 15 AS 262/16 - juris Rn. 30). Auch nach der aktuellen Fassung der Empfehlungen vom 16.9.2020 (5. Aufl. 2020, veröffentlicht unter www.deutscher-verein.de) entspricht bei zahlreichen Erkrankungen, für die nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins von 1997 noch Krankenkostzulagen vorgesehen waren (z.B. bei Hyperlipidämie, Hyperurikämie und Hypertonie lipidsenkende, purinreduzierte bzw. natriumdefinierte Kost), eine mit Mehrkosten verbundene besondere Kostform nicht mehr dem aktuellen medizinisch-ernährungswissenschaftlichen Kenntnisstand, vielmehr genügt regelmäßig eine näher beschriebene „Vollkost“, die auch als „Normalernährung“ bezeichnet wird (vgl. Empfehlungen 2020, S. 9). Diese führt nicht zu einem erhöhten Ernährungsaufwand, weil der auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe bemessene Regelsatz den für diese Ernährungsform notwendigen finanziellen Aufwand deckt (vgl. hierzu die Empfehlungen 2020, S. 9 f.).

 

Danach liegt es auf Grundlage der Empfehlungen 2020 nahe, dass aufgrund der o.g. Erkrankungen der Klägerin Mehrkosten mit der Ernährung einhergehen. Insbesondere kann aufgrund der Erkrankung an Multiple Sklerose mit Beeinträchtigungen des Allgemeinzustandes eine spezifische Ernährungstherapie wegen „krankheitsassoziierter Mangelernährung“ (früher „konsumierende Erkrankungen und gestörte Nährstoffaufnahme“ genannt, vgl. Empfehlungen 2020, S. 11) erforderlich sein. Nach den Empfehlungen orientiert sich die Ernährungstherapie bei Mangelernährung an der Vollkost und sie besteht in der Modifikation der Nahrung durch Erhöhung der Kaloriendichte. Hieraus ergeben sich im Vergleich zur Vollkosternährung Mehrkosten; der Deutsche Verein empfiehlt insoweit die Anerkennung eines Mehrbedarfs i.H.v. 10 % der Regelbedarfsstufe 1 (vgl. Empfehlungen 2020, S. 11 f.). Bei einer Niereninsuffizienz ohne Dialysetherapie wird ernährungswissenschaftlich eine Beschränkung der Eiweiß- und Kochsalzzufuhr empfohlen, die regelmäßig keine Mehrkosten verursacht (Empfehlungen 2020, S. 13). Anders verhält es sich bei einer terminalen Niereninsuffizienz mit Dialyse, weil auch bei diesem Krankheitsbild durch eine Ernährungstherapie Mangelernährung vermieden werden muss und sich durch die Dialyse ein erhöhter Proteinbedarf bei Begrenzung der Flüssigkeitsaufnahme und der Kochsalzzufuhr ergibt. Liegt bei der terminalen Niereninsuffizienz mit Dialysetherapie - wie häufig - auch eine krankheitsassoziierte Mangelernährung vor, empfiehlt der Deutsche Verein einen kumulierten Mehrbedarf von 15 % der Regelbedarfsstufe 1 (vgl. Empfehlungen 2020, S. 13 f.).

 

Ob im Fall der Klägerin die in den Empfehlungen genannten Voraussetzungen für die Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung vorliegen, kann im Ergebnis dahinstehen. Belastbare Daten für eine sichere Diagnose einer Mangelernährung oder die Durchführung spezifischer Therapien liegen auch auf Grundlage der umfangreichen medizinischen Unterlagen nicht vor. Die Bescheinigung des Dr. I. vom 11.8.2015 lässt auf einen im Grenzbereich liegenden Body-Mass-Index (BMI) von 20 schließen (vgl. zu den phänotypischen Kriterien einer Mangelernährung die Empfehlungen 2020, S. 12), im Übrigen sind auch auf gerichtliche Frage nach der Entwicklung des Körpergewichts der Klägerin seit 2013 (Verfügung des SG vom 6.7.2017) keine konkreten Angaben gemacht worden (vgl. Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten vom 2.8.2017: ein genauer BMI könne derzeit nicht benannt werden, die Klägerin habe aber weiter an Gewicht verloren). Für eine Dialysepflicht bzw. insoweit durchgeführte Therapie liegen keine Anhaltspunkte vor. Jedenfalls ist es der Klägerin durch die Gewährung von Mehrbedarfsleistungen in monatlicher Höhe von 20 % der Regelbedarfsstufe 1 ohne Zweifel ermöglicht worden, etwaige Mehrkosten wegen einer aufgrund krankheitsassoziierter Mangelernährung und Niereninsuffizienz erforderlichen Ernährungstherapie zu decken.

 

Die weiteren Gesundheitsbeeinträchtigungen der Klägerin bedingen keinen (höheren) Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung i.S. des § 30 Abs. 5 SGB XII. Eine Zöliakie, also eine genetisch-determinierte autoimmunologisch vermittelte chronisch-entzündliche Darmerkrankung, die durch den Verzehr von Gluten indiziert wird, allein durch eine lebenslange streng glutenfreie Ernährung therapiert werden kann und mit der gegenüber einer normalen Vollkost Mehrkosten entsprechend 20 % der Regelbedarfsstufe 1 einhergehen sollen (vgl. Empfehlungen 2020, S. 14), liegt nach der Bestimmung der im Normalbereich liegenden transglutaminase- und Gliadin-Antikörper bei der Klägerin nicht vor (vgl. den Bericht des Internisten und Gastroenterologen Dr. O. des MVZ Klinikum P. vom 11.1.2018).

 

Die von der Klägerin geltend gemachte Gluten- und Glutamatunverträglichkeit, also eine NCGS, die unabhängig von der o.g. Antikörperbestimmung bzw. einer Zöliakie im klassischen Sinne vorliegen soll, rechtfertigt ebenfalls nicht die Anerkennung eines Mehrbedarfs i.S. des § 30 Abs. 5 SGB XII (so auch die Empfehlungen 2020, S. 11 f.), selbst wenn eine NCGS auf Grundlage der nachvollziehbaren Angaben der Klägerin zu ihrer Ernährungsumstellung (seit etwa 2013) und der ärztlichen Berichte als gesichert zugrunde gelegt werden würde. Bei der NCGS, für die eine allgemeingültige Definition bisher nicht existiert, werden - trotz des sicheren Ausschlusses einer Zöliakie - chronische (Bauch-)Beschwerden mit der Aufnahme glutenhaltiger Lebensmittel in Verbindung gebracht mit einer deutlichen Linderung der Symptome bei Einhalten einer glutenfreien Diät (dazu allg. Andresen, Menge, Layer, Die „Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität“ (NCGS), AVP 2018, 78 ff.). Nach dem im Rahmen der gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung vom Deutschen Verein beigezogenen Gutachten „Krankenkostzulage“ der DGEM zur Quantifizierung des Mehrbedarfs aufgrund kostenaufwändiger Ernährung in der Sozialhilfe vom 18.12.2019 (S. 9) gibt es gegenwärtig keine gesicherten Kriterien zur Diagnose einer NCGS, weil die gastrointestinalen Beschwerden auf verschiedene im Weizen vorhandene Inhaltsstoffe zurückzuführen sein können. Aus diesem Grund ist nach derzeitigen medizinischen Erkenntnissen eine strenge glutenfreie Diät bei einer NCGS nicht generell empfohlen bzw. erforderlich und auch nicht zielführend, weil bei diesem Beschwerdebild eine sorgfältige Differentialdiagnostik erfolgen sollte, ggf. mit der vorübergehenden Umstellung der Ernährung auf „FODMAPS arme“ Lebensmittel, also dem weitgehenden Verzicht auf schnell vergärende Kohlenhydrate, wie sie etwa in Süßigkeiten, Brot (besonders Weizen), Milchprodukten, Steinobst oder Kohl vorkommen (Gutachten der DGEM, a.a.O.; vgl. auch zu der erforderlichen Ermittlung einer individuellen Toleranzgrenze durch graduelle Reexposition von Glutenprodukten Andresen, Menge, Layer, a.a.O., S. 81). Für Betroffene, die eine eingeschränkte Kostform praktizieren, steht daneben im Vordergrund, eine professionelle Ernährungsberatung in Anspruch zu nehmen, um Mangel- und Fehlernahrung vorzubeugen (vgl. Gutachten der DGEM, a.a.O.). Bei Vorliegen einer NCGS - auch im Fall der Klägerin - reicht eine sich an der Vollkost orientierende, (bloß) glutenreduzierte Ernährung aus; dies unterscheidet die NCGS wesentlich von der Erkrankung Zöliakie, bei der eine lebenslange streng glutenfreie Ernährung erforderlich ist. Ein kostenaufwändiger Mehrbedarf bedingt die NCGS entsprechend den aktuellen Empfehlungen in der Regel - wie auch hier - nicht (so jüngst auch Senatsbeschluss vom 9.6.2022 - L 8 SO 24/21 B -).

 

Anlass zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen besteht bei dieser Sachlage nicht. Insbesondere ist dem schriftsätzlich gestellten Antrag der Klägerin, ein Sachverständigengutachten einzuholen zu der Frage, ob sie an einer NCGS erkrankt ist und inwieweit sich die aufgrund ihrer weiteren Erkrankungen notwendigen Ernährungsformen ergänzen, nicht weiter nachzugehen, weil es - wie bereits dargelegt - keine gesicherten Kriterien zur Diagnose einer NCGS gibt (bezogen auf die Klägerin vgl. auch das Schreiben des sie behandelnden Arztes Dr. med. R. des MVZ S. vom 7.3.2018, nach dem auch die dort beschriebene Methode bzw. die Dünndarm-Histologie ggf. zu keiner weiteren Klärung der Diagnose führen würde). In den von der Klägerin vorgelegten (sie nicht betreffenden) österreichischen Unterlagen (Ambulanzkarte des Landeskrankenhaus Q.; Schwerbehindertenausweis bzw. Feststellungsbescheid) ist lediglich eine NCGS (womöglich fehlerhaft) festgestellt worden, ohne dass hieraus Schlüsse auf das Vorhandensein einer sicheren Diagnosemöglichkeit gezogen werden können. Ungeachtet dessen besteht hier ein Anspruch auf einen (höheren) Mehrbedarf nach § 30 Abs. 5 SGB XII selbst dann nicht, wenn bei der Klägerin die Diagnose einer NCGS als gesichert zugrunde gelegt wird (s.o.).

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Insbesondere kommt der womöglich eine Vielzahl von Leistungsfällen betreffenden (Tat-)Frage, ob mit einer NCGS ein ernährungsbedingter Mehrbedarf i.S. des § 30 Abs. 5 SGB XII einhergeht, in rechtlicher Hinsicht keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung i.S. des § 160 Abs. 2 zu (zu diesem Erfordernis vgl. etwa BSG, Beschluss vom 4.4.2018 - B 12 KR 97/17 B - juris Rn. 16; BSG, Beschluss vom 7.10.2005 - B 1 KR 107/04 B - juris Rn. 7 f.; Voelzke in jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, § 160 SGG Rn. 90 f. m.w.N.).

Rechtskraft
Aus
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