L 21 AS 1280/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
21
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 41 AS 469/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 21 AS 1280/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 7/14 AS 57/21 R
Datum
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 21.07.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtlichen Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte zwei bestandskräftige abschließende Bewilligungsbescheide (über den Leistungszeitraum vom 01.07.2016 bis 31.12.2016) anlässlich eines Überprüfungsantrages der Kläger aus dem Jahr 2018 gemäß § 44 SGB X zurücknehmen muss, oder ob dem die einjährige Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegensteht.

Mit Bescheid vom 23.10.2015 (in Gestalt der Änderungsbescheide vom 02.12.2015, 09.05.2016 und 30.01.2017) bewilligte der Beklagte den Klägern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter anderem für den Zeitraum vom 01.07.2016 bis 31.10.2016. Für Juli 2016 bewilligte er Leistungen in Höhe von 621,96 EUR, für August 2016 in Höhe von 852,44 EUR und für die Monate September und Oktober 2016 monatlich in Höhe von 621,96 EUR.

Der Bescheid vom 23.10.2015 enthält den Hinweis: „Sie erhalten erneut einen Bescheid, sobald über Ihren Antrag endgültig entschieden werden kann und Ihr Anspruch von den hier bewilligten vorläufigen Leistungen abweicht. Die bis dahin gezahlten vorläufigen Leistungen werden dabei auf die zustehende Leistung angerechnet. Gegebenenfalls sind zu viel gezahlte Leistungen zu erstatten.“ Die Bescheide vom 02.12.2015 und 09.05.2016 enthalten jeweils den Hinweis: „Sie erhalten erneut einen Bescheid, sobald über Ihren Antrag endgültig entschieden werden kann und Ihr Anspruch von den hier bewilligten abweicht. Die bis dahin gezahlten vorläufigen Leistungen werden dabei berücksichtigt. Ich weise Sie darauf hin, dass Sie gegebenenfalls zu viel gezahlte Leistungen erstatten müssen.“

Mit Bescheid vom 06.10.2016 bewilligte der Beklagte den Klägern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter anderem für den Zeitraum vom 01.11.2016 bis 31.12.2016 monatlich in Höhe von 525,44 EUR. Der Bescheid enthält den Hinweis: „Bei der abschließenden Entscheidung werden die bis dahin gezahlten vorläufigen Leistungen auf die zustehenden Leistung angerechnet. Soweit im Bewilligungszeitraum in einzelnen Kalendermonaten vorläufig zu hohe Leistungen erbracht wurden, sind die sich daraus ergebenden Überzahlungen auf die abschließend bewilligten Leistungen anzurechnen, die für andere Kalendermonate dieses Bewilligungszeitraums nachzuzahlen werden. Überzahlungen, die nach der Anrechnung fortbestehen, sind zu erstatten (§ 41a Absatz 6 SGB II).“

Mit Bescheid vom 05.04.2017 bewilligte der Beklagte den Klägern abschließend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter anderem für den Zeitraum vom 01.07.2016 bis 31.10.2016. Mit Bescheid vom 06.07.2017 bewilligte er den Klägern abschließend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter anderem für den Zeitraum vom 01.11.2016 bis 31.12.2016. Die Kläger erhoben hiergegen jeweils keinen Widerspruch, die Bescheide wurden formell bestandskräftig. Beide Bescheide enthalten den Hinweis: „Sie erhalten die abschließende Bewilligung zum vorläufigen Bewilligungsbescheid vom 23.10.2015“ bzw. „zum vorläufigen Bescheid vom 30.01.2017“.

Mit zwei Bescheiden vom 15.02.2018 machte der Beklagte eine Erstattung von Leistungen bei endgültiger Festsetzung des Leistungsanspruchs unter anderem für den Zeitraum vom 01.07.2016 bis 31.10.2016 geltend. Hiergegen sind vor dem Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen Klageverfahren der Klägerin und des Klägers unter den Aktenzeichen S 41 AS 899/18 und S 41 AS 891/18 anhängig, die derzeit ruhen. Mit Bescheiden vom 24.07.2018 machte der Beklagte eine Erstattung von Leistungen bei endgültiger Festsetzung des Leistungsanspruchs unter anderem für den Zeitraum vom 01.11.2016 bis 31.12.2016 geltend; die diesbezüglichen zwei Widerspruchsverfahren ruhen derzeit. Der Beklagte machte mit den beiden Bescheiden vom 15.02.2018 und 24.07.2018 Erstattungsforderungen gegenüber jedem der beiden Kläger monatlich in Höhe von 173,32 € bzw. 172,55 € geltend.

Am 02.08.2018 beantragten die Kläger die Überprüfung der Bescheide vom 05.04.2017 und 06.07.2017 für die Zeiträume vom 01.07.2016 bis 31.10.2016 und vom 01.11.2016 bis 31.12.2016. In den zu überprüfenden Monaten sei sonstiges Einkommen in Höhe von 333,33 EUR angerechnet worden. Ein solches Einkommen habe es nicht gegeben, daher habe es auch nicht angerechnet werden dürfen. Es handele sich um ein Darlehen ihrer Tochter, das sie zurückzahlen müssten, und dies mittlerweile auch getan hätten.

Mit Bescheid vom 11.10.2018 entschied der Beklagte, dass die Überprüfung abgelehnt werde. Es seien keine neuen Erkenntnisse oder Tatsachen vorgetragen worden. Die Kläger erhoben hiergegen mit Schreiben vom 17.10.2018 Widerspruch. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24.01.2019 als unbegründet zurück.

Am 15.02.2019 haben die Kläger Klage vor dem SG Gelsenkirchen erhoben, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgen. Zur Begründung wiederholen sie ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren. Ergänzend tragen sie vor, dass die Frist zur Überprüfung der endgültigen Bewilligungsbescheide nicht abgelaufen sei.

Der Beklagte hat erwidert, das Vorbringen der Kläger sei irrelevant. Die Frist zur Überprüfung sei abgelaufen.

Im Erörterungstermin am 07.07.2020 haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

Mit Urteil vom 21.07.2020 hat das SG Gelsenkirchen die Klage ohne mündliche Verhandlung abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt:

Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage erhobene Klage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) sei zulässig, aber unbegründet. Die Bescheide vom 05.04.2017 und 06.07.2017 in Gestalt des Bescheids vom 11.10.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.01.2019 seien rechtmäßig und verletzten die Kläger nicht in ihren Rechten.

Mit der Klage machten die Kläger Überprüfungsansprüche geltend, die als ein Begehren auf die Bewilligung weiterer Sozialleistungen anzusehen seien. Ein Überprüfungsanspruch bestehe jedoch nicht, wenn die Rücknahme des Ausgangsverwaltungsaktes wegen § 44 Abs. 4 SGB X (in Verbindung mit § 40 Abs. 1 SGB II) keinerlei leistungsrechtliche Auswirkungen mehr haben könne.

Eine Rücknahme der Ausgangsverwaltungsakte vom 05.04.2017 und 06.07.2017, mit denen der Beklagte die Leistungen gegenüber den Klägern endgültig festgesetzt habe, hätte keine leistungsrechtlichen Auswirkungen für die Kläger. Ein Anspruch auf weitere Leistungen bestehe nicht, weil die materiell-rechtliche Anspruchsbeschränkung des § 44 Abs. 4 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 S. 2 SGB II im Sinne einer Ausschlussfrist hier greife. Danach könnten Leistungen nach dem SGB II längstens für einen Zeitraum bis zu einem Jahr vor der Rücknahme erbracht werden, wenn der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden sei. Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 44 Abs. 4 S. 1 SGB X sei, dass in Folge der unrichtigen Entscheidung Sozialleistungen nicht erbracht worden sind.

Dies ergebe sich aus dem Wortlaut des § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X, wonach ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen sei, soweit sich im Einzelfall ergebe, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden sei, der sich als unrichtig erweise, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden seien.

Fraglich sei, inwieweit die Vorschrift anzuwenden sei, wenn der Beklagte Erstattungsforderungen geltend mache, die auf der endgültigen Festsetzung von Leistungen beruhten. Das Bundessozialgericht stelle für den Anwendungsbereich der Vorschrift auf den Unterhaltscharakter von Sozialleistungen ab und halte es, weil der Gesetzgeber mit der Vorschrift lediglich die materiell-rechtliche Begrenzung rückwirkender Leistungsansprüche prinzipiell habe regeln wollen, nach dem Zweck der Vorschrift nicht für gerechtfertigt, sie auch auf Fälle auszudehnen, in denen es nicht um rückwirkend zu erbringende Sozialleistungen gehe. Eine analoge Übertragung der Regelung auf die Rücknahme von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden komme daher nicht in Betracht. Dies gelte auch, wenn der Leistungsberechtigte die ursprüngliche Erstattungsforderung beglichen habe (Hinweis auf BSG vom 13.02.2014 – B 4 AS 19/13 R).

Zwar begehrten die Kläger auch die Reduzierung geltend gemachter Erstattungsbeträge. Der vorliegende Fall sei jedoch nicht vergleichbar mit dem von dem Bundessozialgericht entschiedenen Fall, da die Kläger tatsächlich nicht die Überprüfung von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden im Sinne der §§ 44 ff. SGB X, sondern von endgültigen Festsetzungsbescheiden nach vorläufiger Leistungsbewilligung nach § 328 SGB III i.V.m. § 40 Abs. 2 Ziffer 1 SGB II begehrten. Ihr Ziel – die Reduzierung von Erstattungsbeträgen – komme letztendlich der Nachforderung weiterer, aus ihrer Sicht rechtwidrig vorenthaltener Sozialleistungen gleich. Ihr Begehren richte sich damit nicht gegen ein Einbehalten rechtswidrig erlangter Erstattungsbeträge aufgrund der rechtswidrigen Aufhebung eines Verwaltungsaktes durch den Beklagten. Denn erst mit den endgültigen Festsetzungsbescheiden habe der Beklagte Verwaltungsakte erlassen, auf die die Vorschriften der §§ 44 ff. SGB X Anwendung finden.

Die Erstattungsregelung in § 41a Abs. 6 S. 3 SGB II stelle eine lex specialis gegenüber § 50 SGB X dar. Die Verwaltung habe hinsichtlich der Rückforderung kein Ermessen auszuüben und der Erstattungspflichtige könne sich auch nicht auf Vertrauensschutz berufen. Erst mit den endgültigen Festsetzungsbescheiden vom 05.04.2017 und 06.07.2017 lägen Verwaltungsakte vor, auf die § 44 Abs. 1 SGB X anzuwenden seien. Die mit den Erstattungsbescheiden vom 15.02.2018 und 24.07.2018 einhergehende Erstattungsforderung sei nicht gleichzusetzen mit der Erstattungsforderung gem. § 50 Abs. 1 SGB X, die auf einem Aufhebungsbescheid gem. § 44 ff. SGB X beruhe, durch den bereits abschließend bewilligte Leistungen rückwirkend aufgehoben werden. Dagegen könne hier eine „Rückgewähr“ geleisteter Erstattungsbeträge nur erfolgreich durchgesetzt werden, wenn der Beklagte zunächst zur Bewilligung höherer Leistungen verpflichtet werde. Im Gegensatz zur Rücknahme eines rechtswidrigen Aufhebungsbescheides nach § 44 Abs. 1 SGB X, die unmittelbar zu einem Leistungsanspruch aus dem rechtswidrig aufgehobenen Bewilligungsbescheid führt, liege im Falle einer Aufhebung eines endgültigen Festsetzungsbescheides kein bestandskräftiger Bewilligungsbescheid vor, der einen Leistungsanspruch begründe. Daran werde ersichtlich, dass letztendlich das Begehren der Kläger auf die Bewilligung bisher nicht zugesprochener Sozialleistungen gerichtet sei. Damit finde die Verfallklausel des § 44 Abs. 4 S. 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 S. 2 SGB II hier Anwendung.

Dabei werde der Zeitpunkt von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Antrag auf Rücknahme des nicht begünstigenden Verwaltungsaktes gestellt worden sei, § 44 Abs. 4 S. 3 SGB X. Die Kläger hätten eine Überprüfung der Bescheide vom 05.04.2017 und 06.07.2017 erst mit Schreiben vom 02.08.2018 beantragt. Die Jahresfrist des § 40 Abs. 1 S. 2 SGB II beginne zum 01.01.2018 und wirkt auf den 01.01.2017 zurück. Der streitige Bewilligungszeitraum liege außerhalb dieser Frist. Da die begehrten Leistungen außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallfrist von einem Jahr liegen, sei die Rücknahme bzw. Abänderung der Bescheide vom 05.04.2017 und 06.07.2017 ausgeschlossen.

Soweit der 7. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 15.11.2018 – L 7 AS 1035/18) die Ansicht vertrete, dass die verkürzte Rückwirkungssperre der Änderung eines Bescheids über die endgültige Festsetzung vorläufig bewilligter Leistungen und der Aufhebung/Änderung eines aus der endgültigen Leistungsbewilligung resultierenden Erstattungsbescheids gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II a.F. i.V.m. § 328 Abs. 3 S. 2 SGB III, § 41a Abs. 6 S. 2 SGB II im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X nicht entgegenstehen könne, folge die Kammer dem nicht. Der 7. Senat habe diese Frage mit der Begründung verneint, die abweichende endgültige Festsetzung von Leistungen mit der Folge der Reduzierung einer Erstattungsforderung stelle keine Erbringung von Leistungen im Sinne des § 44 Abs. 4 SGB X dar; erbringen im Sinne von § 44 Abs. 4 SGB X bedeute vielmehr „tatsächliches Leisten“. Die Korrektur einer endgültigen Festsetzung rechtswidrig zu niedriger Leistungen zur Verringerung einer Erstattungsforderung führe jedoch nicht zur Verpflichtung des Leistungsträgers zur tatsächlichen Gewährung weiterer Leistungen.

Es sei bereits widersprüchlich, wenn der 7. Senat die Voraussetzungen von § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X für gegeben erachte, mithin also bei einer zu niedrig erfolgten endgültigen Festsetzung von Leistungen davon ausgeht, dass Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden seien. Warum „erbracht“ in § 44 Abs. 1 SGB X anders zu verstehen sein solle als in § 44 Abs. 4 SGB X, erläutere der 7. Senat nicht.

Vor allem setze sich der 7. Senat nicht mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Anwendung der (verkürzten) Rückwirkungssperre auf die Umwandlung eines Darlehens in einen Zuschuss auseinander (Hinweis auf BSG vom 28.02.2013 – B 8 SO 4/12 R). Ebenso wie das Darlehen im Verhältnis zum Zuschuss stellten vorläufig bewilligte Leistungen gegenüber endgültigen Leistungen ein aliud dar, so dass bei zu niedrig erfolgter endgültiger Festsetzung eine (andere) Sozialleistung im Sinne von § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X zu Unrecht nicht erbracht worden, aber konsequenterweise nur innerhalb der zeitlichen Grenzen von § 44 Abs. 4 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II rückwirkend zu erbringen sei. Richtigerweise unterliege deshalb die Änderung einer endgültigen Festsetzung von Leistungen nach vorläufiger Bewilligung gemäß § 44 Abs. 1 SGB X den zeitlichen Grenzen von § 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II (Hinweis auf Aubel in: jurisPK-SGB II, § 40 Rn. 60, Stand: 01.03.2020).

Gegen dieses ihrem Prozessbevollmächtigten am 18.08.2020 zugestellte Urteil haben die Kläger am 07.09.2020 Berufung erhoben.

Zur Begründung haben sie ausgeführt, der Beklagte habe in den endgültigen Bewilligungsbescheiden zu Unrecht ein monatliches Einkommen von 333,33 € berücksichtigt. Hierbei habe es sich nicht um Einkommen, sondern um ein Darlehen der Tochter gehandelt. Bei einer Korrektur würden sich die Erstattungsforderungen des Beklagten von 173,32 € bzw. 172,55 € monatlich um monatlich 166,67 € reduzieren. Die Neufestsetzung der Leistungen werde nicht begehrt, um weitere Sozialleistungen zu erhalten, sondern um die Erstattungsforderung des Beklagten zu reduzieren. In dieser Konstellation sei § 44 Abs. 4 SGB X nach der Rechtsprechung des 7. Senates des LSG NRW (Urteil vom 25.11.2018 – L 7 AS 1035/18) nicht anzuwenden. Die hiergegen erhobene Revision (B 14 AS 1/19 R) habe der Beklagte zurückgenommen, offenbar um eine für ihn nachteilige höchstrichterliche Entscheidung zu vermeiden.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 21.07.2020 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 11.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.01.2019 zu verpflichten, die Bescheide vom 05.04.2017 und 06.07.2017 zu ändern und ihnen für den Zeitraum vom 01.07.2016 bis zum 31.12.2016 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt vor, der 19. Senat des LSG NRW (L 19 AS 2181/16) stütze seine Rechtsauffassung. Träfe die Argumentation der Kläger zu, dass es hier nicht um eine Nachzahlung von Sozialleistungen gehe, wäre die Anwendung des § 44 SGB X nach seinem Absatz 1 bereits tatbestandlich ausgeschlossen. Die Rechtsprechung des 7. Senates des LSG NRW werde auch in der Literatur kritisiert. Es beruhe hier allein auf organisatorischen Gründen, dass zwischen Erlass der abschließenden Bescheide und der Erstattungsbescheide Zeit vergangen sei. Bei dem Beklagten seien hierfür zwei unterschiedliche Teams zuständig, zum einen das Leistungsteam und zum anderen das Erstattungsteam.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

 

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Kläger ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.

1. Dem Begehren der Kläger entspricht als statthafte Rechtsschutzform eine kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Fall 1 und 2, Abs. 4, § 56 SGG; vgl. BSG vom 12.10.2016 – B 4 AS 37/15 R, Rn. 11; BSG vom 30.01.2020 – B 2 U 2/18 R, Rn. 9 m.w.N.). Die Kläger begehren die gerichtliche Aufhebung des Bescheids vom 11.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.01.2019, mit dem der Beklagte es auf ihren gemäß § 44 SGB X gestellten Überprüfungsantrag abgelehnt hat, die formell bestandskräftigen abschließenden bzw. endgültigen Bewilligungsbescheide vom 05.04.2017 und 06.07.2017 zu ändern und den Klägern für den Zeitraum vom 01.07.2016 bis zum 31.12.2016 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

2. Das SG hat diese zulässige Klage der Kläger zu Recht als unbegründet abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 11.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.01.2019 ist rechtmäßig. Der Beklagte hat damit den gemäß § 44 SGB X (i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II) gestellten Überprüfungsantrag der Kläger aus dem Jahr 2018 zu Recht abgelehnt. Der Beklagte war aufgrund der einjährigen Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht verpflichtet, SGB II-Leistungen rückwirkend für das Jahr 2016 zu erbringen. Der Beklagte war damit nicht verpflichtet, die formell bestandskräftigen (§ 77 SGG) und abschließenden Bewilligungsbescheide vom 05.04.2017 und 06.07.2017 zu ändern und den Klägern für den Zeitraum vom 01.07.2016 bis zum 31.12.2016 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X.

Der so genannte Überprüfungsantrag nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X setzt tatbestandlich damit zweierlei voraus: Erstens einen „Rechtsfehler und/oder falsche Sachverhaltsgrundlage“ (BSG vom 12.10.2016 – B 4 AS 37/15 R, Rn. 13) und zweitens eine zu Unrecht unterbliebene Erbringung von Sozialleistungen (oder – hier nicht relevant - zu Unrecht erfolgte Beitragserhebung).

Hier fehlt es an der zweiten Voraussetzung, der zu Unrecht unterbliebenen Erbringung von Sozialleistungen. Der Beklagte war aufgrund der einjährigen Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht verpflichtet, den Klägern auf ihren Überprüfungsantrag aus dem Jahr 2018 SGB II-Leistungen rückwirkend für das Jahr 2016 zu erbringen. Ob die Beklagte bei Erlass der abschließenden Bewilligungsbescheide vom 05.04.2017 und 06.07.2017 das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist (erste Voraussetzung des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X), kann daher dahinstehen.

a) Maßgeblich ist das im Zeitpunkt der (begehrten) Aufhebung geltende Recht (BSG vom 14.05.2020 – B 14 AS 10/19 R, Rn. 9). Die einjährige Ausschlussfrist des § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (zu ihrer fehlenden Rückwirkung BSG vom 14.05.2020 – B 14 AS 10/19 R, Rn. 11 ff.) ist durch das Neunte Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht (9. SGB II-ÄndG) vom 26.07.2016 (BGBl. I S. 1824) zum 01.08.2016 in Kraft getreten und erfasst damit zeitlich und sachlich den Überprüfungsantrag der Kläger aus dem Jahr 2018.

b) Gemäß § 44 Abs. 4 SGB X gilt: Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

Die verwaltungsverfahrensrechtliche Sonderregelung des § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ordnet für das SGB II an: § 44 SGB X gilt mit der Maßgabe, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X ein Zeitraum von einem Jahr tritt. Dies hat zur Konsequenz, dass der Beklagte aufgrund der einjährigen Ausschluss- bzw. Verfallsfrist des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht verpflichtet war, den Klägern auf ihren Überprüfungsantrag aus dem Jahr 2018 SGB II-Leistungen rückwirkend für das Jahr 2016 zu erbringen.

Die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X ist eine materielle Ausschlussfrist. Dies gilt auch dann, wenn die damaligen Verwaltungsakte rechtswidrig waren. „Nach gefestigter Rechtsprechung des BSG hat die Verwaltung schon eine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs. 1 SGB X nicht mehr zu treffen, wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung ausschließlich Leistungen für Zeiten betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallsfrist liegen. Die Unanwendbarkeit der "Vollzugsregelung des § 44 Abs. 4 SGB X" steht dann einer isolierten Rücknahme entgegen (…). Die Rücknahme steht unter dem Vorbehalt, dass Sozialleistungen nach § 44 Abs. 4 SGB X noch zu erbringen sind (…). Dies gilt in gleicher Weise bei der Verkürzung der rückwirkenden Leistungserbringung auf einen Zeitraum bis zu einem Jahr nach § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II“ (BSG vom 12.10.2016 – B 4 AS 37/15 R, Rn. 16; ferner BSG vom 23.02.2017 – B 4 AS 57/15 R, Rn. 23; Schütze in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 44 Rn. 40; alle m.w.N.).

Dies begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (BSG vom 12.10.2016 – B 4 AS 37/15 R, Rn. 17). Der Gesetzgebung war es von Verfassungs wegen nicht verwehrt, im Rahmen des § 44 Abs. 4 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II der formellen Rechtssicherheit den Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit einzuräumen.

c) Entgegen der Rechtsauffassung der Kläger ist die einjährige Ausschluss- bzw. Verfallsfrist des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hier anwendbar. Die Rechtsprechung des BSG steht dem nicht entgegen.

aa) Das BSG hat entschieden, dass die für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts geltende Verfallsfrist des § 44 Abs. 4 SGB X die Überprüfung von Aufhebungsbescheiden nicht erfasst (BSG vom 13.02.2014 – B 4 AS 19/13 R).

Zwar werde die Überprüfung von Aufhebungsentscheidungen vom Anwendungsbereich des § 44 Abs. 1 SGB X erfasst. Dazu hat das BSG ausgeführt, dass „diese Regelung entsprechende Anwendung findet, soweit mit einem Aufhebungsbescheid eine Leistungsbewilligung zurückgenommen worden ist. Die entsprechende Anwendung folgt (…) aus dem Regelungszweck der Vorschrift, die nicht nur Fälle erfasst, in denen den Betroffenen ein rechtlicher Nachteil durch unrechtmäßiges Vorenthalten einer Sozialleistung entstanden ist, sondern auch solche, in denen der Bürger zwar Sozialleistungen erhalten hat, die Leistungsbewilligung nachträglich jedoch zurückgenommen worden ist“ (BSG vom 13.02.2014 – B 4 AS 19/13 R, Rn. 14).

Nicht anwendbar sei aber die Verfallsfrist des § 44 Abs. 4 SGB X auf die Überprüfung von Aufhebungsentscheidungen. Das BSG legt Absatz 1 und Absatz 4 des § 44 Abs. 1 SGB X damit – aufgrund ihrer unterschiedlichen Regelungsabsichten - unterschiedlich aus, obwohl beide voraussetzen, dass Sozialleistungen zu Unrecht (nicht) „erbracht“ worden sein müssen. Der Einwand des Beklagten, auf der Grundlage der Argumentation der Kläger müsste schon der Anwendungsbereich des § 44 Abs. 1 SGB X nicht eröffnet sein, verfängt daher nicht. Zur Begründung hat das BSG ausgeführt (Urteil vom 13.02.2014 – B 4 AS 19/13 R, Rn. 20):

„Eine entsprechende Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf die vorliegende Gestaltung scheidet allerdings aus, denn Voraussetzung für die Anwendbarkeit der genannten Regelung ist stets, dass infolge der unrichtigen Entscheidung Sozialleistungen nicht erbracht worden sind (…). Der Senat folgt auch insoweit der überzeugenden Entscheidung des 11. Senats des BSG (SozR 3-1300 § 44 Nr. 19), der eine Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X ausgeschlossen hat, soweit eine Erstattungsforderung des Leistungsträgers gegen einen Leistungsbezieher über eine bestimmte Geldsumme streitig ist. Danach rechtfertigt es insbesondere der Zweck der Vorschrift nicht, sie auch auf Fälle auszudehnen, in denen es nicht um rückwirkend zu erbringende Sozialleistungen geht. Denn der Gesetzgeber wollte mit der Vorschrift lediglich die materiell-rechtliche Begrenzung rückwirkender Leistungsansprüche prinzipiell für vier Jahre regeln (BT-Drucks 8/2034 S. 34). Die analoge Übertragung der Regelung auf die Rücknahme von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden scheitert deshalb daran, dass ein dem geregelten nicht vergleichbarer Sachverhalt zu beurteilen ist. Denn die Klägerin fordert nicht die rückwirkende Gewährung von Sozialleistungen, sondern die Rückzahlung eines zu Unrecht geleisteten Erstattungsbetrages […]. Die Nachzahlung von rechtswidrig vorenthaltenen Sozialleistungen kann dem Einbehalten von rechtswidrig erlangten Erstattungsbeträgen wertungsmäßig nicht gleichgestellt werden“ (BSG a.a.O., Rn. H20 f.).

bb) Der vorliegende Sachverhalt ist mit einer solchen Situation eines Aufhebungsbescheides nicht vergleichbar.

Die Kläger begehren die nachträgliche Bewilligung von – aus ihrer Sicht – rechtswidrig vorenthaltenen Sozialleistungen. Sie begehren nicht die Rückzahlung von zu Unrecht geleisteten Erstattungsbeträgen. Die nachträgliche Bewilligung von Sozialleistungen im Rahmen einer abschließenden, endgültigen Entscheidung gemäß § 41a Abs. 3 SGB II erfüllt die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Die Kläger begehren, dass ihnen Sozialleistungen rückwirkend erbracht werden i.S.d. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X.

Die hier gegebene Besonderheit der vorläufigen und sodann abschließenden Leistungserbringung gemäß § 41a SGB II rechtfertigt entgegen der Rechtsauffassung der Kläger kein anderes Ergebnis. Diese Situation ist wertungsmäßig nicht anders zu beurteilen und behandeln als der „Normalfall“, in dem Leistungen (bei vollständig aufgeklärtem bzw. feststehendem Sachverhalt) sogleich endgültig bewilligt werden.

Bei der abschließenden Entscheidung war hier nicht § 328 SGB III, sondern der (wie bereits dargelegt) zum 01.08.2016 in Kraft getretene § 41a Abs. 3 Satz 1 SGB II anzuwenden. Soweit die hier streitigen Entscheidungen des Beklagten nach dem 01.08.2016 getroffen worden sind, folgt dies aus dem Geltungszeitraumprinzip, im Übrigen aus der Übergangsvorschrift des § 80 Abs. 2 Nr. 2 SGB II. Nach dieser Regelung ist § 41a SGB II für die abschließende Entscheidung über zunächst vorläufig beschiedene Leistungsansprüche für Bewilligungszeiträume, die - wie hier der Fall - vor dem 1. August 2016 noch nicht beendet sind, anzuwenden. Die Regelungen über die Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten gemäß §§ 44 ff. SGB X sind im Rahmen des § 41a SGB II auf vorläufige Bewilligungen auch anwendbar (vgl. dazu auch Bundestag-Drucksache 18/8041, S. 51), allerdings gemäß § 41a Abs. 2 Satz 4 SGB II ohne Vertrauensschutzgesichtspunkte.

Dies ändert aber nichts daran, dass auch bei einer vorläufigen und sodann abschließenden Leistungsbewilligung über die nachträgliche „Erbringung“ von Sozialleistungen i.S.d. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X gestritten wird, wenn ein Leistungsempfänger nachträglich eine Gewährung höherer Sozialleistungen begehrt.

Während bei einer sofortigen endgültigen Entscheidung Leistungen erst bewilligt und dann erbracht, also im Falle von Geldleistungen gezahlt werden, ist dies bei der vorläufigen und sodann abschließenden Entscheidung anders. Hier wird erst vorläufig bewilligt, dann gezahlt, später abschließend entschieden und danach entweder nachgezahlt oder zurückgefordert. Es wäre gekünstelt und konstruiert, diesen Vorgang rechtlich zu zerlegen. Wenn ein Leistungsempfänger sich gegen eine abschließende Bewilligung (§ 41a Abs. 3 SGB II) wendet und höhere Leistungen begehrt, will er genauso wie bei einer von Anfang an abschließenden Leistungsbewilligung, dass ihm nachträglich Sozialleistungen „erbracht“ werden.

Die vorläufige und die abschließende Entscheidung gehören zudem rechtlich zusammen. Der vorläufige Bescheid erledigt sich auf sonstige Weise im Sinne des § 39 Abs. 2 SGB X durch den Erlass des endgültigen (abschließenden) Bescheides; der endgültige Bescheid ersetzt den vorläufigen Bescheid (u.a. BSG vom 10.05.2011 - B 4 AS 139/10 R). Es ist deshalb nicht angezeigt, sie bei der Anwendung des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X künstlich getrennt zu betrachten. Im Übrigen hängt es von den jeweiligen Besonderheiten des Falles und im Ergebnis auch von Zufälligkeiten ab, ob ein Leistungsempfänger, der erfolgreich nachträglich eine höhere abschließende Bewilligung (§ 41a Abs. 3 SGB II) durchsetzt, eine Nachzahlung von Leistungen erhält, die als nachträgliche Erbringung unstreitig unter § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X fallen muss, oder ob sich dadurch „nur“ eine Erstattungsforderung (§ 41a Abs. 6 Satz 3 SGB II) reduziert. Das Ergebnis ist in beiden Fällen dasselbe, in beiden Fällen hat der Leistungsempfänger nachträglich weitere, höhere Sozialleistungen erhalten, wenn auch nur im ersten Fall „in die Hand“.

Es ist kein Grund dafür zu erkennen, wieso diese beiden Fallgestaltungen bei der Anwendung der Ausschlussfrist bzw. Verfallsklausel des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X unterschiedlich behandelt werden müssten. Im Gegenteil, der Sinn und Zweck des § 44 Abs. 4 SGB X spricht gerade dagegen: In beiden Fallgestaltungen geht es um rückwirkende Leistungsansprüche. Der Gesetzgeber wollte mit § 44 Abs. 4 SGB X „die materiell-rechtliche Begrenzung rückwirkender Leistungsansprüche prinzipiell für vier Jahre regeln“ (BSG vom 13.02.2014 – B 4 AS 19/13 R, Rn. 20 unter Verweis auf BT-Drucks 8/2034 S. 34).

Für den erkennenden Senat ist bei der Auslegung des § 44 Abs. 4 SGB X somit maßgeblich, ob über den Anspruch auf Sozialleistungen (sein Bestehen oder sein Umfang) gestritten wird, also über das Recht, von einem Leistungsträger ein Tun oder Unterlassen zu verlangen (vgl. § 194 Abs. 1 BGB). In welcher Art und Weise der Anspruch sodann tatsächlich durch Leistung bzw. Zahlung (ggf. noch) zu erfüllen ist (entsprechend § 362 BGB), ist demgegenüber nachrangig.

Eine Lesart des § 44 Abs. 4 SGB X in der Weise, dass „Erbringen“ im Sinne von § 44 Abs. 4 SGB X nur „tatsächliches Leisten“ bedeute (LSG NRW vom 15.11.2018 - L 7 AS 1035/18 - juris Rn. 40; zustimmend Baumeister in: jurisPK-SGB X, § 44 Rn. 116.2.), wird dem dargelegten Sinn und Zweck des § 44 Abs. 4 SGB X zur Überzeugung des Senates daher nicht gerecht (ebenso im Erg. Aubel in: jurisPK-SGB II, § 40 Rn. 60 (Stand: 08.03.2021)). Soweit der 7. Senat des LSG NRW ausgeführt hat, der Kläger habe „ein rechtliches Interesse an der nachträglichen Korrektur des Festsetzungsbescheides“ (a.a.O. Rn. 39), hat der 7. Senat damit im Ergebnis eine eigene Wertentscheidung gesetzt, obwohl der Gesetzgeber – wie zuvor dargelegt - nach Ablauf der einjährigen Verfallsfrist des § 44 Abs. 4 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II das Gegenteil für richtig hält. Die Regelung des § 44 SGB X enthält zur Überzeugung des erkennenden Senates gerade keine Anordnung, wonach bei einem „rechtlichen Interesse an der nachträglichen Korrektur eines Bescheides“ in jedem Fall eine Überprüfung zulässig sein soll und erfolgen muss.

Nicht überzeugend ist auch das Argument, hier gehe „es nicht um die Geltendmachung eines Nachzahlungsanspruchs des Bürgers, sondern um eine Rückforderung von Sozialleistungen“ (Baumeister in: jurisPK-SGB X, § 44 Rn. 116.2.). Denn hier geht es um die Überprüfung eines Bescheides, mit dem Leistungen nach vorläufiger Bewilligung gemäß § 41a Abs. 3 SGB II abschließend bewilligt, also gewährt (vgl. dazu erneut BSG vom 13.02.2014 – B 4 AS 19/13 R, Rn. 21) worden sind, nicht dagegen um die nachfolgende und rechtlich eigenständige Erstattungsforderung gemäß § 41a Abs. 6 Satz 3 SGB II.

cc) Für einen Rechtsmissbrauch des Beklagten besteht kein Anhaltspunkt.

In der Rechtsprechung und Literatur wird erwogen, ob es rechtsmissbräuchlich sei, wenn der Grundsicherungsträger mit der endgültigen Festsetzung der Leistungen zunächst keine Erstattungsforderungen erhebe, sondern den Erstattungsbescheid erst zu einem Zeitpunkt erlasse, zu dem die endgültige Leistungsfestsetzung bereits bestandskräftig sei und wegen Ablaufs der Jahresfrist auch nicht mehr nach § 44 SGB X beseitigt werden könne (Aubel in: jurisPK-SGB II, § 40 Rn. 61 (Stand: 08.03.2021); offen lassend LSG NRW vom 15.11.2018 - L 7 AS 1035/18, Rn. 42). Die Systematik der genannten Regelungen spreche dafür, dass, wenn sich aus der endgültigen Festsetzung ein Erstattungsanspruch des Grundsicherungsträgers ergebe, dieser grundsätzlich in zeitlichem Zusammenhang mit der endgültigen Festsetzung geltend zu machen sei. Jedenfalls dann, wenn in dem Bescheid über die endgültige Festsetzung jeglicher Hinweis darauf fehle, dass infolge der endgültigen Festsetzungen die ursprünglich vorläufig bewilligten Leistungen teilweise zu erstatten seien, und Anhaltspunkte dafür bestünden, dass der Grundsicherungsträger die Leistungsempfänger bewusst im Unklaren über das Bestehen eines Erstattungsanspruchs belassen und den Ablauf der Jahresfrist abwarten wollte, sei das Verfahren unfair und widerspreche rechtsstaatlichen Grundsätzen. Der Grundsicherungsträger müsse in diesem Fall von einer Erstattungsforderung, die sich bei rechtmäßiger endgültiger Festsetzung gerade nicht ergeben hätte, absehen (Aubel a.a.O.).

Ob dem zu folgen ist, musste der Senat nicht entscheiden. Denn im vorliegenden Fall besteht für einen derartigen Rechtsmissbrauch kein Anhaltspunkt. Zwar enthalten die endgültigen Bescheide keinen Hinweis auf eine mögliche Erstattungspflicht. Die Kläger sind von dem Beklagten aber mit den vorläufigen Bewilligungen, nämlich mit Bescheiden vom 23.10.2015, 02.12.2015, 09.05.2016 und 06.10.2016 - also vier Mal - darauf hingewiesen worden, dass sie erneut einen Bescheid erhalten werden, sobald über ihren Antrag endgültig entschieden werden kann und ihr Anspruch von den vorläufig bewilligten Leistungen abweicht. Der Beklagte hat jedes Mal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Kläger gegebenenfalls zu viel gezahlte Leistungen bzw. Überzahlungen erstatten müssen.

Der Senat ist auch der Auffassung, dass die Entscheidung über die abschließende Festsetzung (§ 41a Abs. 3 Satz 1 SGB II) und eine eventuelle Erstattung (§ 41a Abs. 5 Satz 3 SGB II) möglichst zeitlich zusammen oder jedenfalls in kurzem zeitlichen Abstand zueinander erfolgen sollten, um den Adressaten die Konsequenz der abschließenden Entscheidung zu verdeutlichen. Im Falle der Kläger hätten die Kläger aber aufgrund der genannten mehrfachen Hinweise des Beklagten durch ein Nebeneinanderlegen von vorläufiger Bewilligung und abschließender Entscheidung erkennen können und müssen, dass die abschließende Entscheidung SGB II-Leistungen in geringerer Höhe festsetzt als die vorläufige Bewilligung mit der Folge, dass eine Überzahlung eingetreten ist, die sie zu erstatten haben. Insofern kann von einem Rechtsmissbrauch des Beklagten nicht die Rede sein. Der Beklagte hat die Kläger als Leistungsempfänger nicht bewusst im Unklaren über das Bestehen eines Erstattungsanspruchs belassen, sondern sie explizit darauf hingewiesen.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

4. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), lagen vor. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Die streitige Frage nach der Anwendbarkeit des § 44 Abs. 4 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist höchstrichterlich für die vorliegende Fallkonstellation nach wie vor nicht beantwortet. Das anhängige Revisionsverfahren B 14 AS 1/19 R (Vorinstanz: LSG NRW vom 15.11.2018 – L 7 AS 1035/18) endete ohne eine Entscheidung des BSG in der Sache.

 

Rechtskraft
Aus
Saved