S 9 R 1274/16

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Nürnberg (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 R 1274/16
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 R 331/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 18/22 R
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid

   I. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 57.001,29 € zu zahlen.

  II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

III. Der Streitwert wird auf 57.001,29 € festgesetzt.

T a t b e s t a n d :


Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung von berufsfördernden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für die Versicherte C. in Höhe von 57.001,29 € streitig.

Die 1981 geborene Versicherte hat eine Berufsausbildung als Bäckereifachverkäuferin absolviert und war zuletzt als Helferin in der Reinigung beim Krankenhaus C-Stadt tätig.

Die Versicherte stellte am 30.10.2015 bei der Klägerin einen Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, nachdem in einem Gutachten für die Klägerin von dem Arzt M. am 06.10.2015 dargelegt wurde, dass die Versicherte nur noch unter drei Stunden täglich leistungsfähig sei, jedoch nicht auf Dauer, und die Werkstattfähigkeit gegeben sei. Die Gesundheitsstörungen wurden bezeichnet als "Paranoide Schizophrenie" und "Leichte Intelligenzminderung".

Die Klägerin teilte der Versicherten am 05.11.2015 mit, dass sie zuständiger Träger für die Rehabilitationsmaßnahmen gem. § 14 Abs. 1 SGB IX (Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch) sei. Mit Schreiben vom 16.11.2015 an die Beklagte übersandte die Klägerin eine Kopie des Antrages auf Rehabilitationsleistungen, wies die Beklagte auf die Bearbeitung des Antrages in eigener Zuständigkeit hin und bat die Klägerin um Prüfung der Voraussetzungen gem. § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI (Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch) wegen eines Erstattungsanspruches.

In einer Stellungnahme des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten durch Dr. L. vom 15.01.2016 wurde dann festgestellt, dass die Versicherte ab 30.10.2015 sowohl als Verkaufshilfe als auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch unter drei Stunden täglich leistungsfähig sei und diese Leistungsunfähigkeit wegen der chronischen Leiden auf Dauer bestehe. Mit Schreiben vom 18.02.2016 teilte die Beklagte der Versicherten mit, dass eine Rehabilitationsleistung abgelehnt werde, aber der Antrag als Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung gem. § 116 Abs. 2 SGB VI gelte. Diese Feststellung wurde der Klägerin von der Beklagten mit Schreiben vom 03.03.2016 ebenfalls mitgeteilt.

Daraufhin bat die Klägerin die Beklagte mit Schreiben vom 14.03.2016 um eine Stellungnahme zu § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI. Mit Schreiben vom 23.05.2016 wurde erneut von der Klägerin um Beantwortung ihrer Schreiben vom 16.11.2015 und 14.03.2016 gebeten.

Mit Schreiben vom 14.06.2016 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI nicht vorliegen würden, da eine Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) angezeigt wäre und der Antrag auf Rehabilitationsleistungen in einen Rentenantrag umgedeutet wurde. Der vermeintliche Erstattungsanspruch wurde zurückgewiesen.

Die Klägerin machte daher ihren Erstattungsanspruch mit Schreiben vom 11.07.2016 dem Grund nach geltend, da die Beklagte zuständig wäre. Die Beklagte antwortete auf dieses Schreiben mit ihrem Schreiben vom 28.07.2016, indem sie auf das frühere Schreiben vom 14.06.2016 verwies.

Am 22.08.2016 bat die Klägerin die Beklagte noch einmal, den Erstattungsanspruch anzuerkennen. Mit Schreiben vom 21.09.2016 erkannte die Beklagte zunächst den Erstattungsanspruch dem Grunde nach an, jedoch mit Schreiben vom 27.10.2016 wurde der Erstattungsanspruch abgelehnt.

Mit Bescheid vom 08.11.2016 bewilligte die Beklagte der Versicherten eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10.2015 auf Dauer aufgrund eines Antrages vom 30.10.2015, wobei die volle Erwerbsminderung bereits seit 14.07.2014 vorliegen würde.

Die Klägerin gewährte der Versicherten vom 16.11.2015 bis 15.02.2018 Leistungen im Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich (1. und 2. Jahr) in der WfbM der Arbeits- und Begegnungsstätten gGmbH in W..

Mit Klageschrift vom 22.12.2016 reichte die Klägerin Klage beim Sozialgericht Nürnberg ein. Es wurde zunächst nur ein Teilbetrag beziffert und im Übrigen eine Feststellung dem Grunde nach beantragt. Mit Schriftsatz vom 12.04.2018 wurde die Klage jedoch endgültig in Höhe von 57.001,29 € beziffert.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 a Nr. 1 SGB VI vorliegen. Im Sinne des § 11 SGB VI sei die Beklagte immer dann zuständiger Rehabilitationsträger, wenn dem Grunde nach ein Rentenanspruch des Versicherten bestehe, auch wenn noch kein Antrag eingegangen oder eine Rente bewilligt worden sei. Entscheidend seien die Feststellungen zur Zeit der Antragstellung, hierzu verweise sie auf verschiedene Entscheidungen des Sozialgerichts Nürnberg.

Die Klägerin beantragt daher sinngemäß,

die Beklagte zu verurteilen, den Erstattungsanspruch in Höhe von 57.001,29 € zu erfüllen und eine entsprechende Zahlung an die Klägerin zu leisten.

Die Beklagte beantragt,

  die Klage abzuweisen.

Die Beklagte trägt vor, dass kein Erstattungsanspruch der Klägerin bestehe, da nach dem Gesetzeswortlaut § 11 Abs. 2a SGB VI nur in den Fällen einschlägig sei, in denen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben die Zahlung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit verhindern würden, unabhängig davon, ob die Rente dauerhaft oder befristet geleistet wird bzw. werden muss. Im vorliegenden Fall sei durch die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Rahmen der Maßnahme in einer WfbM die Zahlung einer Rente wegen Erwerbsminderung gerade nicht verhindert worden. Die Maßnahme habe am 16.11.2015 begonnen. Der Versicherten habe am 08.11.2016 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt werden müssen, die - bei einem Leistungsfall vom 14.07.2014 - ab 01.10.2015 auf Dauer gewährt wurde.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten sowie auf den Inhalt der Sozialgerichtsakte Bezug genommen.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Der vorliegende Rechtsstreit kann durch Gerichtsbescheid gem. § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden werden. Die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf, der Sachverhalt ist geklärt. Die Beteiligten erklärten im Erörterungstermin ihr Einverständnis mit einer Entscheidung per Gerichtsbescheid.

Die zum örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht Nürnberg erhobene allgemeine Leistungsklage ist zulässig, §§ 51, 54 Abs. 5, 57 Abs. 1 SGG und begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der Aufwendungen für die erbrachten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Höhe von 57.001,29 € für die Versicherte, da die Anspruchsvoraussetzungen gem. § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX (in der bis 31.12.2017 gültigen Fassung; im Folgenden werden die Vorschriften des SGB IX ebenfalls in der bis 31.12.2017 gültigen Fassung genannt, da der Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und der daraus folgende Erstattungsanspruch im Jahr 2015 entstanden ist, auch wenn ein geringer Teil der Leistungen sich auf das Jahr 2018 bezieht) erfüllt sind.

Nach § 14 Abs. 1 SGB IX stellt, wenn Leistungen zur Teilhabe beantragt werden, der Rehabilitationsträger innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrages bei ihm fest, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist; bei den Krankenkassen umfasst die Prüfung auch die Leistungspflicht nach § 40 Abs. 4 SGB V (Sozialgesetzbuch - Fünftes Buch). Stellt er bei der Prüfung fest, dass er für die Leistung nicht zuständig ist, leitet er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zu. Muss für eine solche Feststellung die Ursache der Behinderung geklärt werden und ist diese Klärung in der Frist nach Satz 1 nicht möglich, wird der Antrag unverzüglich dem Rehabilitationsträger zugeleitet, der die Leistung ohne Rücksicht auf die Ursache erbringt. Wird der Antrag bei der Bundesagentur für Arbeit gestellt, werden bei der Prüfung nach den Sätzen 1 und 2 Feststellungen nach § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI und § 22 Abs. 2 SGB III (Sozialgesetzbuch - Drittes Buch) nicht getroffen.

Nach § 14 Abs. 2 SGB IX stellt, wenn der Antrag nicht weitergeleitet wird, der Rehabilitationsträger den Rehabilitationsbedarf unverzüglich fest. Muss für diese Feststellung ein Gutachten eingeholt werden, entscheidet der Rehabilitationsträger innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang. Wird der Antrag weitergeleitet, gelten die Sätze 1 und 2 für den Rehabilitationsträger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist, entsprechend; die in Satz 1 genannte Frist beginnt mit dem Eingang bei diesem Rehabilitationsträger. Ist für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs ein Gutachten erforderlich, wird die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens getroffen. Kann der Rehabilitationsträger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist, für die beantragte Leistung nicht Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 SGB IX sein, klärt er unverzüglich mit dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger, von wem und in welcher Weise über den Antrag innerhalb der Fristen nach den Sätzen 2 und 4 entschieden wird und unterrichtet hierüber den Antragsteller.

Nach § 14 Abs. 4 SGB IX erstattet, wenn nach Bewilligung der Leistung durch einen Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX festgestellt wurde, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist, dieser dem Rehabilitationsträger, der die Leistung erbracht hat, dessen Aufwendungen nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften. Die Bundesagentur für Arbeit leitet für die Klärung nach Satz 1 Anträge auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zur Feststellung nach § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI an die Träger der Rentenversicherung nur weiter, wenn sie konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass der Träger der Rentenversicherung zur Leistung einer Rente unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage verpflichtet sein könnte. Für unzuständige Rehabilitationsträger, die eine Leistung nach Absatz 2 Satz 1 und 2 erbracht haben, ist § 105 SGB X nicht anzuwenden, es sei denn, die Rehabilitationsträger vereinbaren Abweichendes.

Nach § 42 SGB IX erbringen die Leistungen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich einer WfbM (Nr. 1) die Bundesagentur für Arbeit, soweit nicht eine der in den Nummern 2 bis 4 genannten Träger zuständig ist, (Nr. 2) die Träger der Unfallversicherung im Rahmen ihrer Zuständigkeit für durch Arbeitsunfälle Verletzte und von Berufskrankheiten Betroffene, (Nr. 3) die Träger der Rentenversicherung unter den Voraussetzungen der §§ 11 bis 13 SGB VI, (Nr. 4) die Träger der Kriegsopferfürsorge unter den Voraussetzungen der §§ 26 und 26a des Bundesversorgungsgesetzes. Nach § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI werden seitens der Deutschen Rentenversicherung Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben an Versicherte auch erbracht, wenn ohne diese Leistungen Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu leisten wäre.

Nach diesen Vorschriften ergibt sich vorliegend der Erstattungsanspruch der Klägerin. Dieser folgt aus § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX, welcher § 102 SGB X verdrängt. Die Versicherte hatte bei der Klägerin einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gestellt. Gem. § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellt die Klägerin fest, ob sie für die Leistungen tatsächlich zuständig ist. Dabei prüft sie, ob die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bei der Versicherten gem. § 11 Abs. 1 SGB VI vorliegen. Im Rahmen dieser Zuständigkeitsprüfung prüft die Klägerin, soweit sie der erstangegangene Rehabilitationsträger ist, allerdings nach § 14 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 4 Satz 2 SGB IX nicht, ob die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI konkret vorliegen. In einem solchen Fall kann sie in Vorleistung gehen, leitet aber den Antrag zur Prüfung an die Rentenversicherung weiter. Dies ist vorliegend so erfolgt. Die Klägerin hat vorbehaltlich einer Zuständigkeit der Beklagten gem. § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI ihre Zuständigkeit angenommen und vorläufig die Leistungen zur Teilhabe an die Versicherte erbracht. Den vorläufigen Charakter der Leistungsgewährung hat die Klägerin auch dadurch deutlich gemacht, dass sie die Beklagte am 16.11.2015 bat, eine Überprüfung, ob eine Zuständigkeit der Beklagten gem. § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI gegeben sei, vorzunehmen und zugleich die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs angekündigt hat. Die Vorläufigkeit ergibt sich auch aus der gesetzlichen Vorschrift des § 14 SGB IX, da die Klägerin als erstangegangener Rehabilitationsträger im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung gem. § 14 Abs. 1 Satz 4 SGB IX eben gerade nicht eine Feststellung nach § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI treffen kann.

Tatsächlich war die Beklagte für die Erbringung der gewährten Leistungen an den Versicherten auch zuständig.

Unstreitig liegen bei der Versicherten die Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 SGB VI nicht vor, da die Versicherte weder die erforderliche Wartezeit von 15 Jahren erfüllt hatte, noch eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bezogen hat.

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen waren bei der Versicherten jedoch nach § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI erfüllt (vgl. zu vergleichbaren Sachverhalten die Urteile des SG Nürnberg vom 27.05.2009, Az: S 18 R 4428/06 und vom 20.08.2013, Az: S 14 R 1433/11, sowie vom 23.07.2015, Az: S 12 R 738/14). Danach hat die Beklagte Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auch an Versicherte zu erbringen, wenn ohne diese Leistungen Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu leisten wäre. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung des Vorliegens dieser Voraussetzungen ist der Zeitpunkt der Antragstellung auf Leistungen zur Teilhabe.

Zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt 30.10.2015 drohte der Versicherten nach den medizinischen Feststellungen der Klägerin bereits unmittelbar eine Erwerbsminderung und damit eine Berentung. Nach der Prognose zu diesem Zeitpunkt war jedoch eine Besserung nicht völlig unwahrscheinlich. Denn der Arzt M. bestätigte in seinem Gutachten vom 06.10.2015 eine Werkstattfähigkeit. Er sah jedoch die Erwerbsminderung nicht auf Dauer. Zwar hat die Beklagte durch Dr. L. am 15.01.2016 festgestellt, dass die bei der Versicherten vorliegende Erwerbsminderung auf Dauer bei einem Leistungsfall am 14.07.2014 gegeben sei, entscheidend ist aber der Zeitpunkt der Antragstellung, vgl. SG Nürnberg, Urteil vom 23.07.2015 - S 12 R 738/14. Wenn später die Beklagte zu dem Schluss kommt, dass eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auch rückwirkend zu leisten sei, kann dies nicht zulasten einer Prognoseentscheidung zum Zeitpunkt der Antragstellung gehen, vgl. SG Nürnberg, Urteil vom 27.05.2009 - S 18 R 4428/06.

Die Beklagte geht zu Unrecht davon aus, dass sie nicht zuständig ist, weil bei der Versicherten am 08.11.2016 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung festgestellt wurde und eine Rente durch die berufliche Reha-Maßnahme gerade nicht abgewendet werden konnte.

Nach den Ausführungen in der Bundesdrucksache 12/3423, Seite 60-61 wird durch den § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI eine Leistungspflicht der Beklagten für Versicherte geschaffen, die noch keine Rente beziehen, aber die Anspruchsvoraussetzungen hierfür erfüllen, wobei eine Rentenantragstellung noch nicht vorliegen muss. Entscheidend für die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen ist, wie bereits ausgeführt, eine Prognose zum Zeitpunkt der Antragstellung. Zu diesem Zeitpunkt drohte vorliegend aus medizinischer Sicht unmittelbar eine Minderung der Erwerbsfähigkeit der Versicherten. Dies hat der Arzt M. in seinem Gutachten festgestellt. Eine Werkstattfähigkeit wurde bejaht. Die Prognose hinsichtlich der Frage, ob die Versicherte wieder auf den ersten Arbeitsmarkt zurückkehren kann, wurde positiv beurteilt, da er die Leistungsminderung zwar über sechs Monate sah, jedoch nicht auf Dauer.

Im Rahmen einer systematischen Auslegung des § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI ergibt sich zudem auch nicht, dass eine Zuständigkeit der Beklagten nicht gegeben ist, wenn ein Versicherter Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer Maßnahme in einer WfbM erhält. § 11 SGB VI regelt die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bzw. die Zuständigkeit der Beklagten für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. § 11 Abs. 2a SGB VI wurde eingefügt, um Lücken bei der Zuständigkeit der Beklagten zu schließen. Dies betrifft vorrangig diejenigen - meist jüngeren - Versicherten, die die allgemeine Wartezeit von 15 Jahren noch nicht erfüllt haben, noch keine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beziehen, aber unmittelbar vor einer Berentung stehen. Zwar soll gem. § 11 Abs. 2a SGB VI bei Leistungen zur Teilhabe grundsätzlich Ziel sein, die Berentung zu vermeiden. Dies ist generell auch Sinn und Zweck von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Eine Erfolgsverpflichtung lässt sich dem § 11 Abs. 2a SGB VI jedoch gerade nicht entnehmen und kann auch im Wege einer systematischen Auslegung nicht hineingelesen werden. Dies gilt insbesondere, da die Zuständigkeit der Beklagten bei Beziehern einer Rente wegen Erwerbsminderung gem. § 11 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI ohnehin gegeben ist. Sinn und Zweck von § 11 Abs. 2a SGB VI ist vielmehr, die berufliche Eingliederung des Versicherten zu stärken und den Rentenversicherungsträger dazu zu bewegen, Leistungen zur Teilhabe auch den Versicherten zu gewähren, denen eine Berentung wegen verminderter Erwerbsfähigkeit droht. Dies gilt unabhängig von einer später trotzdem eintretenden Erwerbsminderung. Maßgeblich kann letztlich nur sein, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung es nicht aussichtslos erscheint, dass durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben eine Rente wegen Erwerbsminderung abgewendet werden kann. Dies kann vorliegend dem Gutachten und Prognoseentscheidung von dem Arzt M. entnommen werden.

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Tatsache, dass ein behinderter Mensch in einer WfbM tätig ist, nicht den Schluss rechtfertigt, dass auch (auf Dauer) verminderte Erwerbsfähigkeit vorliegt (BSG SozR 3-2600 § 44 Nr. 6). Außerdem spricht der Umstand, dass der Versicherte nur für Tätigkeiten in einer WfbM in Betracht kommt, nicht dagegen, dass eine "positive" Prognose im Sinne des § 10 Abs. 1 Nr. 2b SGB VI gestellt werden kann (LSG B-Stadt-Brandenburg, Urteil vom 10.02.2011, L 8 AL 142/08). Die Leistungen im Eingangsbereich und im Berufsbildungsbereich der WfbM gehören gerade zum Leistungskatalog der gesetzlichen Rentenversicherung, § 16 SGB VI iVm § 40 SGB IX (SG Augsburg, Urteil vom 27.03.2014, S 7 AL 188/11).

Leistungen im Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich einer anerkannten WfbM können daher vom Rentenversicherungsträger auch für Versicherte erbracht werden, bei denen die bestehende Erwerbsminderung zwar nicht zu beheben, jedoch ein Verbleib in der Produktionsstufe der WfbM zu erreichen ist (Stähler in jurisPK-SGBVI, 2. Aufl. 2013, § 16 SGB VI Rn. 28 und Kater in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 97. EL Dezember 2017, § 16 SGB VI Rn. 59). Infolgedessen stellt auch § 16 SGB VI iVm § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX mit Verweisung auf die Voraussetzungen der §§ 11 bis 13 SGB VI eine Sonderregelung zu § 10 SGB VI dar, indem anstelle der Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt lediglich die Erreichung von Wettbewerbsfähigkeit des Versicherten auf dem besonders geschützten Arbeitsmarkt der WfbM als prognostisch erreichbares Rehabilitationsziel verlangt wird (Stähler, a.a.O.) Zielsetzung ist, dass erwartet werden kann, dass der behinderte Mensch nach Teilnahme an der Leistung in der Lage ist, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich vertretbarer Arbeitsleistung im Sinne des § 136 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zu erbringen und damit versicherungspflichtig im Sinne des § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI tätig sein zu können. Ferner ist zu berücksichtigen, dass gem. § 136 Abs. 1 Satz 3 SGB IX die WfbM auch den Übergang geeigneter Personen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt durch geeignete Maßnahmen fördert.

Nach alldem war die Beklagte zuständige Leistungsträgerin gem. § 11 Abs. 2a Nr. 1 SGB VI und der Klage war daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 VwGO.

Der Streitwert war hier auf 57.001,29 € festzusetzen, da der Antrag der Klägerin auf eine bezifferte Geldleistung gerichtet war (§ 52 Abs. 3 GKG - Gerichtskostengesetz).

 

 

 

 

 

 

 

Rechtskraft
Aus
Saved