L 10 LW 1753/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 8 LW 1740/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 LW 1753/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Das Verschulden der Bevollmächtigten ist dem Beteiligten wie eigenes Verschulden zuzurechnen. Ein nicht zurechenbares Verschulden von Hilfspersonen liegt nur dann vor, wenn es trotz ausreichender Vorkehrungen zu einem Büroversehen gekommen ist. Bestehen nur allgemeine Anweisungen an das Sekretariat, Berufungen per Fax einzulegen ohne konkrete Vorgaben zur Führung und Handhabung eines Fristenkalenders, liegt ein schuldhaftes Organisationsverschulden vor.

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 24.03.2022 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand


Die Beteiligten streiten in der Sache über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, was die Beklagte mit Bescheid vom 04.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.09.2020 ablehnte.

Die hiergegen am 22.09.2020 erhobene Klage hat das Sozialgericht Konstanz (SG) mit Gerichtsbescheid vom 24.03.2022 abgewiesen. Dieser Gerichtsbescheid ist den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 05.04.2022 mittels Empfangsbekenntnis (Bl. 118 SG-Akte) zugestellt worden.

Am 20.06.2022 ist die Berufungsschrift vom 02.06.2022 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingegangen. Die Bevollmächtigte des Klägers hat Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der versäumten Berufungsfrist beantragt. Hierzu hat sie ausgeführt, die (beigefügte) Berufungsschrift vom 25.04.2022 sei vom zuständigen Sozialrechtsreferenten unterschrieben, jedoch versehentlich nicht vom zuständigen Sekretariat an das LSG gefaxt und wohl auch nicht zur Post gegeben worden. Zuständig für die Einlegung sowie Übersendung der Berufung sei das Sekretariat, so dass es sich um ein von den Bevollmächtigten nicht zu vertretendes Sekretariatsverschulden handele. Die an diesem Tag zuständige Sekretärin Frau S müsse es wohl aufgrund von Vertretungen aus Zeitnot versäumt haben, die Berufung abzuschicken oder zu faxen. Eine Überwachung, ob tatsächlich die Übersendung per Fax erfolge, gebe es nicht. Inhaltlich erachte sich der Kläger weiterhin für nicht in der Lage, leichte Tätigkeiten zu verrichten und verweise insoweit auf die Aussage von H, die ihn lediglich drei bis unter sechs Stunden täglich für erwerbsfähig erachtet habe.

Nach Hinweis der Vorsitzenden vom 26.07.2022 hat die Bevollmächtigte des Klägers ergänzend vorgetragen, es handele sich bei Frau S um eine ausgebildete Rechtsanwaltsfachangestellte mit langjähriger Berufserfahrung. Hilfstätigkeiten, auch das Absenden fristwahrender Schriftstücke, dürften auf gut ausgebildete und sorgfältig überwachte Angestellte delegiert werden. Intern sei geregelt, dass Berufungen in den Außengeschäftsstellen der VdK SR gGmbH eingelegt und die Akten sodann zur Bearbeitung nach S versandt würden. Dies gehöre zu den allgemeinen Anweisungen ebenso wie die Einlegung von Berufungen per Fax. Die ausgebildeten Rechtsanwaltsfachangestellten seien dahingehend geschult, dass sie das Versenden der Rechtsmittel selbstständig vornähmen. Statt den unterzeichneten Berufungsschriftsatz zu versenden und die Faxprotokolle zu kontrollieren, habe Frau S dies am 25.04.2022 wohl vergessen und stattdessen den Berufungsschriftsatz versehentlich in die Akte gelegt und an die Berufungsabteilung in S geschickt. Ein solcher Fehler sei ihr noch nicht vorgekommen. Ergänzend hierzu hat die Bevollmächtigte eine eidesstattliche Versicherung vom 04.08.2022 von Frau S vorgelegt, die diesen Ablauf bestätigt. Hierauf wird Bezug genommen (S. 50 Senatsakte).
Der Kläger beantragt,

wegen der versäumten Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 24.03.2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 04.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab Antragstellung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

die Berufung als unzulässig zu verwerfen.

Ein entschuldbares Büroversehen liege nach ihrer Auffassung nicht vor. Insbesondere habe nicht konkret dargelegt werden können, welche organisatorischen Vorkehrungen hinsichtlich der Büroorganisation, hier auch im Fall von Vertretungen für Kolleginnen/Kollegen, getroffen gewesen seien und ob und ggf. in welcher Form zumindest stichprobenartige Kontrollen vorgenommen würden. Vielmehr sei sogar dargelegt worden, dass eine Überwachung der fristgerechten Übersendung der Berufungsschrift nicht stattfinde und schlicht darauf verwiesen worden, dass dies dem Aufgabenbereich des Sekretariats zufalle.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe


Der Senat konnte in der mündlichen Verhandlung am 17.11.2022 in Abwesenheit der Beklagten über den Rechtsstreit entscheiden, da sie ordnungsgemäß zum Termin geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle des Ausbleibens von Beteiligten bzw. Bevollmächtigten Beweis erhoben, verhandelt und entschieden werden kann (vgl. § 153 Abs. 1 i.V.m. § 110 Abs. 1 Satz 2, § 126 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Berufung des Klägers ist wegen Verfristung unzulässig und daher zu verwerfen.

Gemäß § 158 Satz 1 SGG ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen, wenn sie (u.a.) nicht in der gesetzlichen Frist eingelegt worden ist. Nach § 105 Abs. 2 Satz 1 SGG ist die Berufung beim LSG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids einzulegen. Nach § 151 Abs. 2 Satz 1 SGG wird die Berufungsfrist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist beim SG schriftlich oder zur Niederschrift eingelegt wird.
Der Gerichtsbescheid des SG ist der vom Kläger bevollmächtigten Rechtsberatungsgesellschaft des VdK am 05.04.2022 - mit zutreffender Rechtsmittelbelehrung (§ 66 SGG) - mittels Empfangsbekenntnis zugestellt worden (§ 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 175 Abs. 1, 3 und 4, 173 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO -). Damit begann die einmonatige Berufungsfrist am 06.04.2022 (§ 64 Abs. 1 SGG) und endete mit Ablauf des 05.05.2022, einem Donnerstag (§ 64 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 SGG). Die Berufung ist jedoch erst am 20.06.2022 beim LSG schriftlich eingelegt worden und damit verspätet.

Den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist lehnt der Senat ab. Denn der Kläger war nicht ohne Verschulden gehindert, die Berufungsfrist einzuhalten. Die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag erfolgt im Rahmen der Entscheidung in der Hauptsache (Senger in jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 67 Rn. 87).

Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden (§ 67 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG). Eine Säumnis ist schuldhaft, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten ist. Das Verschulden eines Bevollmächtigten ist dem vertretenen Beteiligten stets wie eigenes Verschulden zuzurechnen (§ 73 Abs. 6 Satz 7 SGG i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO). Für ein Verschulden von Hilfspersonen des Bevollmächtigten gilt dasselbe dann, wenn dieses vom Bevollmächtigten selbst zu vertreten, also als dessen eigenes Verschulden anzusehen ist. Das Verhalten des Prozessbevollmächtigten ist dagegen nicht schuldhaft, wenn er darlegen kann, dass es zu einem Büroversehen gekommen ist, obwohl er alle Vorkehrungen getroffen hat, die nach vernünftigem Ermessen die Nichtbeachtung von Fristen auszuschließen geeignet sind, und dass er durch regelmäßige Belehrung und Überwachung seiner Bürokräfte für die Einhaltung seiner Anordnungen Sorge getragen hat (statt vieler nur Bundessozialgericht - BSG - 28.06.2016, B 1 KR 59/17 B, - wie auch alle nachfolgend zitierte Rechtsprechung - in juris m.w.N.).

Die Sorgfaltspflicht eines bevollmächtigten Rechtsanwalts verlangt in Fristensachen dabei nach ständiger Rechtsprechung zuverlässige Vorkehrungen, um den rechtzeitigen Ausgang fristwahrender Schriftsätze sicherzustellen. Zu den Aufgaben des Rechtsanwalts gehört es deshalb, durch entsprechende Organisation seines Büros dafür zu sorgen, dass die Fristen ordnungsgemäß eingetragen und beachtet werden. Der Anwalt hat sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Fristen auszuschließen. Ein bestimmtes Verfahren ist insoweit zwar weder vorgeschrieben noch allgemein üblich. Auf welche Weise der Rechtsanwalt sicherstellt, dass die Eintragung im Fristenkalender und die Wiedervorlage der Handakten rechtzeitig erfolgen, steht ihm grundsätzlich frei (BSG, a.a.O., m.w.N.). Für nach § 73 Abs. 2 Nr. 9 SGG als Prozessbevollmächtigte zugelassene Verbandsvertreter - wie hier - gelten insoweit die gleichen Anforderungen wie sie von der Rechtsprechung für Rechtsanwälte aufgestellt worden sind (vgl. BSG 18.03.1987, 9b RU 8/86; SG Trier 13.06.2018, S 5 KR 58/18; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 67 Rn. 3g).

Im konkreten Fall liegt zur Überzeugung des Senats ein eindeutiges Organisationsverschulden vor. Nach dem Vortrag der Bevollmächtigten des Klägers im Berufungsverfahren bestehen lediglich allgemeine Anweisungen an die (ordnungsgemäß ausgebildeten) Angestellten, Berufungsschriftsätze per Fax an das Berufungsgericht zu übersenden und sodann die Akten an die Geschäftsstelle nach S zu versenden. Zur Führung eines Fristenkalenders, der Notierung von Rechtsmittelfristen in der Handakte, welche durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lässt, dass die Fristen in alle geführten Fristenkalender eingetragen worden sind, die zu den zur Ermöglichung einer Gegenkontrolle erforderlichen Vorkehrungen im Rahmen der Fristenkontrolle gehören (dazu Senatsbeschluss vom 28.07.2021, L 10 R 3537/20, n.v.) oder zu sonstigen Vorkehrungen beim Absenden fristwahrender Schriftsätze, ist nichts vorgetragen worden. Zu den organisatorischen Vorkehrungen zur Sicherstellung der Einhaltung von Rechtsmittelfristen gehört insbesondere auch, dass im Fristenkalender vermerkte Fristen erst dann gestrichen oder anderweitig als erledigt gekennzeichnet werden, wenn die fristwahrende Maßnahme tatsächlich durchgeführt, der Schriftsatz also gefertigt und abgesandt bzw. im konkreten Fall per Fax verschickt worden ist (st. Rspr.; vgl. Bundesgerichtshof - BGH - 16.12.2013, II ZB 23/12, m.w.N.). Dabei sind die zuständigen Mitarbeiter anzuweisen, Fristen im Kalender erst dann zu streichen oder als erledigt zu kennzeichnen, nachdem sie sich anhand der Akte vergewissert haben, dass zweifelsfrei nichts mehr zu veranlassen ist (BGH 09.01.2020, I ZB 41/19; BGH 29.10.2019, VIII ZB 103/18). Ferner gehört hierzu die Anordnung, dass die Erledigung von fristgebundenen Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders durch eine dazu beauftragte Bürokraft überprüft wird (BGH 09.01.2020, a.a.O.; BGH 04.11.2014, VIII ZB 38/14, m.w.N.). Eine solche zusätzliche Kontrolle ist bereits deswegen notwendig, weil selbst bei sachgerechten Organisationsabläufen individuelle Bearbeitungsfehler auftreten können, die es nach Möglichkeit aufzufinden und zu beheben gilt.

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann dem Kläger keine Wiedereinsetzung gewährt werden. Denn schon dem eigenen Vortrag der Prozessbevollmächtigten sowie der vorgelegten „Eidesstattlichen Versicherung“ der Rechtsanwaltsfachangestellten S kann eine Büroorganisation, die den oben dargelegten Anforderungen genügt, nicht entnommen werden. Insbesondere sind keinerlei organisatorische Vorkehrungen für eine Ausgangskontrolle im oben beschriebenen Sinne ersichtlich, durch die zuverlässig gewährleistet wird, dass fristwahrende Schriftsätze auch tatsächlich rechtzeitig bei dem zuständigen Gericht eingehen. Nach dem eigenen Vortrag der Bevollmächtigten ist vielmehr die Einlegung von Berufungen (per Fax) ohne jegliche weitere Vorkehrungen auf das Sekretariat übertragen worden. Wie die Bevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ergänzend dargelegt hat, wird eine Berufung nur eingelegt, wenn sich Kläger initiativ bei den Bevollmächtigten melden und dies wünschen - eine Rückfrage erfolgt insoweit nicht. Der zuständige Referent verfügt sodann mit seiner Berufungsschrift, wohin und wann diese gefaxt werden soll. Danach werde „meistens“ nicht geprüft, ob der Versand durch das Sekretariat erfolgt sei, insoweit gebe es keine näheren Vorgaben, dies sei zeitlich bei der Vielzahl von Verfahren auch nicht zu schaffen. Der bei den Bevollmächtigten geführte Fristenkalender enthält ohnehin sämtliche Fristen, ohne dass ihm zu entnehmen ist, ob im konkreten Verfahren tatsächlich ein Rechtsmittel eingelegt werden soll. Irgendwie geartete Kontrollen anhand dieses Fristenkalenders sind weder vorgesehen noch - angesichts der fehlenden Erkennbarkeit, welche der notierten Fristen tatsächlich relevant sind - überhaupt möglich. Die Büroorganisation der Bevollmächtigten des Klägers enthält nach alledem keine ausreichenden organisatorischen Vorkehrungen, um den rechtzeitigen Eingang fristwahrender Schriftsätze sicherzustellen.

Das Fehlen eines ordnungsgemäßen Bürobetriebs ist als Organisationsverschulden der Bevollmächtigten dem Kläger zuzurechnen und kann nicht als individuelles Fehlverhalten auf die Hilfskraft abgewälzt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.





 

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