L 12 AL 3871/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 4 AL 277/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AL 3871/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 24.09.2019 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung von Leistungen im Streit, welche die Klägerin im Zeitraum vom 01.09.2016 bis zum 31.12.2016 für die P geleistet hat.

Die Klägerin gewährte der im Mai 1999 geborenen P, die nicht bei ihrer leiblichen Mutter aufwuchs, wobei letztere gleichwohl das alleinige elterliche Sorgerecht innehatte, bzw. der sie in Vollzeit pflegenden Großmutter seit mindestens Februar 2014 Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 33 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Dabei wurden zuletzt bei der P – neben Kosten der Pflege und Erziehung i.H.v. 269 € – ein Sachaufwand i.H.v. 676 € und monatliche Mietkosten i.H.v. 100 € abzüglich des hälftigen Kindergeldes i.H.v. 92 € übernommen.

Im Rahmen eines Hausbesuchs am 11.07.2016 bei der Kindsmutter beantragte diese ausweislich des in den Akten der Klägerin befindlichen Aktenvermerks über dieses Gespräch mündlich gegenüber der zuständigen Mitarbeiterin der Klägerin eine Unterstützung bei der ab September 2016 geplanten Ausbildung der P zur Konditorin in Form einer externen Ausbildung im Ausbildungsbetrieb H-Stiftung K. Auch in einem mit der Mitarbeiterin der Klägerin geführten Telefonat am 29.08.2016 brachte die Kindsmutter nochmals deutlich ihren Wunsch zum Ausdruck, dass die P Unterstützung seitens der Klägerin erhalten solle, damit sie am 01.09.2016 mit der Ausbildung bei der H-Stiftung beginnen könne (Aktenvermerk der Klägerin vom 16.09.2016). Einen schriftlichen Antrag stellte die Kindsmutter nicht. Die seitens der Klägerin beabsichtigte Nachholung eines solchen schriftlichen Antrags scheiterte in der Folgezeit daran, dass die Kindsmutter ab Anfang September 2016 mit unbekannten Aufenthaltsort verzogen („untergetaucht“) war. Im Hilfeplan vom 30.08.2016 übernahm die Klägerin die Kosten der externen Ausbildung im Ausbildungsbetrieb H-Stiftung, insbesondere die dortige intensive schulische Unterstützung, da die P auf dem allgemeinen Ausbildungsmarkt keine realistische Chance habe, einen Beruf zu erlernen, und teilte dem Ausbildungsbetrieb im Schreiben vom 21.10.2016 mit, dass man als Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten der Ausbildung von P ab 01.09.2016 übernehmen werde. Die P nahm zum 01.09.2016 ihre Ausbildung zur Konditorin bei der H-Stiftung auf.

In der Folgezeit rechnete die H-Stiftung direkt mit der Klägerin die für die P erbrachten Leistungen für Berufsausbildung, individuelle Nebenleistungen, Ausbildungsvergütung und Sozialversicherung ab (September 2016: 2.076,74, Oktober 2016: 2.023,85 €, November 2016: 1.921,36 €, Dezember 2016: 1.977,10 €) und übernahm weiterhin die Hilfe zur Erziehung für die P zur Deckung des Bedarfs zum Lebensunterhalt in bisheriger Höhe. Im Mai 2017 brach die P die Ausbildung ab und nahm sie im September 2017 wieder auf.

Mit Schriftsatz vom 27.01.2017 beantragte die Klägerin für die P Berufsausbildungsbeihilfe für die zum 01.09.2016 aufgenommene Ausbildung zur Konditorin und machte zugleich die Erstattung der von der Klägerin ab September 2016 erbrachten Leistungen geltend. Nach Vorlage eines ausgefüllten und unterschriebenen Antragsvordrucks nebst Berufsausbildungsvertrag für die Ausbildung ab September 2016 bei der Beklagten bewilligte diese der P mit Bescheid vom 18.06.2018 Berufsausbildungsbeihilfe für die Zeit vom 01.01.2017 bis 18.05.2017 i.H.v. monatlich 451 €. Die Leistungen würden gemäß § 104 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) für diese Zeit an die Klägerin erstattet. Einen Abdruck dieses Bescheides leitete die Beklagte der Klägerin zu.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch, mit dem die Klägerin einen Erstattungsanspruch rückwirkend ab 01.09.2016 geltend machte, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.07.2018 und der Begründung, der Widerspruch sei mangels einer Regelung im Bescheid vom 18.06.2018 gegenüber der Klägerin unzulässig, zurück. Die hiergegen erhobene Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) unter dem Aktenzeichen S 5 AL 2614/18 nahm die Klägerin nach gerichtlichem Hinweis auf die nach Auffassung des SG vorliegende Unzulässigkeit der Klage wieder zurück.

Die Klägerin hat am 18.01.2019 in eigenem Namen Klage beim SG erhoben und die Verpflichtung der Beklagten begehrt, auch die an die P in der Zeit vom 01.09.2016 bis 31.12.2016 erbrachten Leistungen in einer Höhe von monatlich 451 €, insgesamt 1.804 €, zu erstatten. Die Beklagte habe eine Erstattung für die Zeit vor dem 01.01.2017 mit der Begründung abgelehnt, dass der aus ihrer Sicht gemäß § 323 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) erforderliche Antrag nicht rechtzeitig gestellt worden sei. Nach Meinung der Klägerin sei aber in Anlehnung an das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 23.01.2014 (5 C 8/13) wie auch die Entscheidungen des Landessozialgerichts (LSG) Bayern vom 04.04.2016 (L 10 AL 47/16) und vom 06.04.2017 (L 10 AL 55/17) ein Erstattungsanspruch nicht davon abhängig, dass die vorrangigen Leistungen auch tatsächlich beantragt worden seien.

Mit Urteil vom 24.09.2019 hat das SG die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die der P gewährten Leistungen der Jugendhilfe weitere 1.804 € zu erstatten und hat die Berufung zugelassen. Die Beklagte vertrete zu Unrecht die Auffassung, dass eine Erstattung nach § 104 SGB X erst ab dem Antragsmonat, hier dem Januar 2017, möglich sei. Das Erfordernis der Antragstellung in §§ 323 Abs. 1 und 324 Abs. 2 SGB III gelte nicht im Erstattungsstreit. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 28.04.1999, B 9 V 8/98 R und Urteil vom 22.04.1998, B 9 V 6/96 R) wie auch des BVerwG (a.a.O.) hindere es den Erstattungsanspruch nicht, wenn ein für die vorrangige Leistung erforderlicher Antrag nicht gestellt worden sei, und zwar selbst dann nicht, wenn der Antrag eine materielle und nicht bloß formelle Leistungsvoraussetzung sei. Die entgegenstehende Rechtsauffassung des LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 11.12.2015, L 4 P 1171/15) überzeuge dagegen nicht.

Gegen das der Beklagten am 16.10.2019 zugestellte Urteil hat diese am 14.11.2019 beim LSG Baden-Württemberg Berufung eingelegt und zu deren Begründung vorgetragen, ein Leistungsantrag sei im Falle der Berufsausbildungsbeihilfe materielle Anspruchsvoraussetzung. Lediglich hinsichtlich des Antragszeitpunktes werde ausnahmsweise zugelassen, dass die Antragstellung auch noch nach dem leistungsbegründenden Ereignis erfolgen könne (§ 324 Abs. 2 Satz 1 SGB III), wobei die Berufsausbildungsbeihilfe in diesem Falle längstens vom Beginn des Monats an geleistet werde, in welchem der Antrag gestellt worden sei (§ 325 Abs. 1 SGB III). Einen Antrag auf Berufsausbildungsbeihilfe habe die Klägerin aber erstmalig am 27.01.2017 gestellt. Wie sich aus § 104 Abs. 3 SGB X ergebe, sei der Umfang des Erstattungsanspruchs auf die für den vorrangig zuständigen Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften begrenzt. Dieser solle durch einen Dritten nicht weitergehend belastet werden, als eine Verpflichtung dem Berechtigten gegenüber bestanden habe. Die Beklagte müsse deshalb der Klägerin gegenüber nicht mehr leisten, als sie es dem Leistungsbezieher gegenüber müsste.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 24.09.2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Revision zuzulassen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie beruft sich zur Begründung ihres Antrags auf die bereits genannte Entscheidung des BVerwG (a.a.O.).

Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 12.03.2020 und die Beklagte mit Schriftsatz vom 17.03.2020 einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Mit Schriftsatz vom 16.04.2021 hat der Berichterstatter die Beteiligten darauf hingewiesen, dass in dem im Aktenvermerk der Klägerin vom 16.09.2016 dokumentierten Begehren der personensorgeberechtigten Kindsmutter der P ein vor dem 01.09.2016 gestellter Antrag gesehen werden könnte, weshalb eine fehlende Antragstellung einem Erstattungsanspruch der Klägerin möglicherweise nicht entgegenstehe.

Die Beklagte hat hierzu vorgetragen, der an die Klägerin gerichtete Antrag der Kindsmutter der P könne nicht hilfsweise in einen Antrag auf Berufsausbildungsbeihilfe umgedeutet werden. Auch habe die Klägerin diesen Antrag nicht unverzüglich an die Beklagte weitergeleitet. Die Beklagte hat neuerlich ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakten der Klägerin und der Beklagten sowie der Prozessakten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten, über die der Senat aufgrund des erteilten Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden konnte, ist, nachdem das SG die Berufung ausdrücklich zugelassen hat, gemäß §§ 143, 144 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben.

Die Berufung ist aber unbegründet. Der Klägerin steht wenigstens in der geltend gemachten Höhe ein Erstattungsanspruch gemäß § 104 SGB X zu.

Die Klägerin verfolgt ihr Begehren auf Erstattung aus eigenem Recht angesichts des Gleichordnungsverhältnisses zwischen den beteiligten Behörden zulässigerweise im Wege einer echten Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) (BSG, Urteil vom 25.09.2014, B 8 SO 7/13 R, juris). Die frühere, gegen den Bescheid der Beklagten vom 18.06.2018 in Gestalt Widerspruchsbescheid vom 20.07.2018 gerichtete und wieder zurückgenommene Klage wie auch der hieraus resultierende Eintritt von Bestandskraft des Bescheides vom 18.06.2018 stehen der Klage nicht entgegen, da der Bescheid vom 18.06.2018 lediglich den originären Anspruch der P gegenüber der Beklagten geregelt, aber keine Aussage zum Erstattungsanspruch der Klägerin getroffen hat und auch nicht wollte.

Rechtsgrundlage für den Erstattungsanspruch ist § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X: Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist danach der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nachrangig verpflichtet ist gemäß § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Der Anspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X setzt danach voraus, dass ein Leistungsträger eine Sozialleistung rechtmäßiger Weise erbracht hat (1.), es einen Anspruch für eine kongruente Leistung gegen einen anderen Leistungsträger gibt (2.), der Anspruch gegen den Leistungsträger, der die Leistung erbracht hat, nachrangig gegenüber dem Anspruch gegen den anderen Leistungsträger ist (3.), die Voraussetzungen des § 103 SGB X nicht vorliegen (4.) und dieser andere Leistungsträger nicht bereits selbst vor Kenntniserlangung an den Leistungsempfänger geleistet hat (5.). Darüber hinaus darf der Anspruch auf Erstattung nicht gemäß § 111 SGB X ausgeschlossen bzw. § 113 SGB X verjährt sein (6.).

1.
Die Klägerin hat an die P im hier interessierenden Zeitraum rechtmäßig Leistungen der Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 und 39 SGB VIII erbracht. Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII besteht ein Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Gemäß § 33 SGB VIII soll Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen. Nach § 39 Abs. 1 SGB VIII wird dabei auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sichergestellt, der die Kosten für den Sachaufwand sowie für die Pflege und Erziehung des Kindes oder Jugendlichen umfasst. Im Rahmen dieser Leistungen zum Unterhalt der P übernahm die Klägerin auch während der Berufsausbildung der P in der H-Stiftung einen Sachaufwand i.H.v. 676 € und monatliche Mietkosten i.H.v. 100 € abzüglich des hälftigen Kindergeldes i.H.v. 92 €.

Liegt ein Erziehungsdefizit vor und ist die Vollzeitpflege geeignet und notwendig, um dieses Defizit zu beseitigen oder abzumildern, besteht ein Rechtsanspruch der Personensorgeberechtigten auf diese Hilfe. Eine Geeignetheit und Notwendigkeit der Vollzeitpflege ist insbesondere dann zu bejahen, wenn familienunterstützende ambulante Maßnahmen zur Beseitigung der defizitären Erziehungssituation nicht mehr ausreichen und ein Verbleib des Kindes in der Herkunftsfamilie deshalb nicht möglich ist (vgl. Nellissen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., Stand: 11.03.2021, § 33 Rn. 18). Vorliegend war die Kindsmutter der P – der Kindsvater der P ist unbekannt – ausweislich der in der Akte der Klägerin befindlichen Hilfepläne zunächst aus gesundheitlichen Gründen mit der Erziehung überfordert und ohnedies ab Ende August 2016 nicht mehr erreichbar, so dass ein Erziehungsdefizit vorlag. Darüber hinaus hatte die P ausweislich der schlüssigen und nachvollziehbaren Darlegungen in den Unterlagen der Klägerin, insbesondere auch im Hilfeplan vom 30.08.2016, auf dem allgemeinen Ausbildungsmarkt aufgrund ihrer Schulnoten wie aber auch aufgrund der Notwendigkeit einer intensiven schulischen Unterstützung und eines überschaubaren Rahmens, um ihre Aufgaben ordentlich bewältigen zu können, keine realistische Chance, den Beruf einer Konditorin zu erlernen. Diesbezüglich bestand zwischen der Kindsmutter, der Pflegemutter und den zuständigen Mitarbeiterinnen der Klägerin Einigkeit. Die Unterbringung von P bei der Pflegemutter, die sich ausweislich der Hilfepläne fürsorglich um P kümmerte und diese förderte, wie auch die geförderte externe Ausbildung im Ausbildungsbetrieb H-Stiftung war notwendig und geeignet, um dieses Defizit zu beseitigen. Dass diese Hilfe zur Erziehung vorliegend rechtmäßig erbracht wurde, ist nicht anzuzweifeln und zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.

(2.)
Mit der Berufsausbildungsbeihilfe gab es im hier streitigen Zeitraum auch einen Anspruch der P auf eine kongruente Leistung der Beklagten.

a)
Bei den Leistungen der Klägerin als Jugendhilfeträger und der Berufsausbildungsbeihilfe handelt es sich um gleichartige Sozialleistungen im Sinne der Vorrang-Nachrang-Regelung des § 104 SGB X. Wesentliche Kriterien für die Gleichartigkeit der Leistungen sind deren Ziel und Funktion, also deren Zweck (BSG, Urteil vom 12.10.2017, B 11 AL 20/16 R, juris, auch zum Nachfolgenden). Die Leistungen müssen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sein. Dies kann indes nicht pauschal anhand der gesamten Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe, sondern nur bezogen auf die jeweils differenziert zu betrachtenden einzelnen Anteile einer Jugendhilfemaßnahme bestimmt werden.

Nach ihrer Zweckbestimmung soll die Berufsausbildungsbeihilfe, wie auch die Leistungen der Jugendhilfe, den Bedarf zum Lebensunterhalt während einer Berufsausbildung absichern und einen Zugang zum Erwerbsleben über eine abgeschlossene Berufsausbildung ermöglichen (BSG, Urteil vom 26.02.2019, B 11 AL 6/18 R, juris). Deshalb ist eine Kongruenz von Leistungen bei der Sicherstellung des Lebensunterhalts durch die Jugendhilfeleistungen einerseits und die Berufsausbildungsbeihilfe andererseits grundsätzlich anzunehmen (BSG, Urteil vom 12.10.2017, a.a.O.), so auch im konkreten Fall.

b)
Die P hatte auch Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe im streitgegenständlichen Zeitraum.

aa)
Sie erfüllte die Anspruchsvoraussetzung des § 56 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 SGB III in der Zeit vom 01.09.2016 bis zum Abbruch der Ausbildung am 18.05.2017. Insbesondere gehörte die P auch zum förderungsberechtigten Personenkreis bei Berufsausbildung gemäß § 60 SGB III in der bis 31.07.2019 anzuwendenden Fassung. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Die Beklagte selbst hat der P folgerichtig ab dem von ihr angenommenen maßgeblichen Antragsdatum Berufsausbildungsbeihilfe bewilligt.

bb)
Entgegen der Auffassung der Beklagten steht dem Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe auch nicht ein fehlender Antrag gemäß § 323 Abs. 1 Satz 1 SGB III i.V.m. § 324 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB III entgegen. Der Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X setzt voraus, dass der vorrangig verpflichtete Leistungsträger bereits zum gleichen Zeitpunkt wie der nachrangig verpflichtete Leistungsträger leistungspflichtig war; dies ergibt sich bereits unmittelbar aus dem Wortlaut der Norm, wonach der Berechtigte gegen den Erstattungsverpflichteten einen Anspruch haben bzw. gehabt haben muss (BSG, Urteil vom 22.04.1998, a.a.O.).

Gemäß § 323 Abs. 1 Satz 1 SGB III werden Leistungen der Arbeitsförderung zu denen gemäß § 3 SGB III die Berufsausbildungsbeihilfe gehört, auf Antrag erbracht. Gemäß § 324 Abs. 1 Satz 1 SGB III werden Leistungen der Arbeitsförderung nur erbracht, wenn sie vor Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses beantragt worden sind. Abweichend hiervon kann (unter anderem) Berufsausbildungsbeihilfe auch nachträglich beantragt werden (§ 324 Abs. 2 Satz 1 SGB III). Allerdings wird nach § 325 Abs. 1 SGB III Berufsausbildungsbeihilfe rückwirkend längstens vom Beginn des Monats an geleistet, in dem die Leistungen beantragt worden sind.

Der Senat kann dahingestellt lassen, ob die Entstehung des Erstattungsanspruchs davon abhängig ist, dass der für die vorrangige Leistung erforderliche Antrag gestellt worden ist, wie es die Beklagte unter Berufung auf die Entscheidung des LSG Baden-Württemberg vom 11.12.2015 (a.a.O.) annimmt, die allerdings in deutlichem Widerspruch zu den Entscheidungen des 9. Senats des BSG (a.a.O.) und des BVerwG (a.a.O.) steht.

Denn die P hat, vertreten durch ihre personensorgeberechtigte Kindsmutter, am 11.07.2016, und damit rechtzeitig, mündlich einen Antrag auf Berufsausbildungsbeihilfe gestellt.

Eine bestimmte Form des Antrags schreibt § 323 Abs. 1 SGB III nicht vor; erforderlich ist lediglich, dass aus den Erklärungen des Antragstellers der Wille hervorgeht, Leistungen der Arbeitsförderung in Anspruch nehmen zu wollen (Bindig in Hauck/Noftz, SGB, 12/19, SGB III, § 323 Rn. 12, m.w.N., auch zum Nachfolgenden). Auf den Antrag als eine empfangsbedürftige öffentlich-rechtliche Willenserklärung finden mangels spezialgesetzlicher Vorschriften für seine rechtliche Behandlung die Vorschriften und allgemeinen Grundsätze des bürgerlichen Rechts entsprechend Anwendung (BSG, Urteil vom 17.04.1986, 7 RAr 81/84, juris). Der Antrag ist daher nach den Maßstäben der §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auslegungsfähig. Die Auslegung hat sich dabei danach zu richten, was als Leistung möglich ist, wenn ein verständiger Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe für ein anderes Verhalten vorliegen. Es ist daher davon auszugehen, dass der Antragsteller diejenige Leistung beantragt hat, die ihm zusteht, und zwar die für ihn günstigste, sofern dies im Einzelfall nicht mit sonstigen Nachteilen für ihn verbunden ist (Bindig, a.a.O.; Hassel in Brand, SGB III, 8. Aufl. 2018, § 323 Rn. 7). Es kommt insbesondere nicht darauf an, welchen Vordruck der Antragsteller benutzt oder welche Bezeichnung er gewählt hat (BSG, Urteil vom 16.03.1983, 7 RAr 12/82, juris).

Danach gilt hier folgendes: Die personensorgeberechtigte Kindsmutter hat am 11.07.2016 unmissverständlich ihren Wunsch nach Unterstützung der P bei der Durchführung der ins Auge gefassten Ausbildung in der H-Stiftung zum Ausdruck gebracht. In diesem Zusammenhang stellte sich zum einen das Problem, dass die P aufgrund ihres fehlenden Durchhaltevermögen auf dem allgemeinen Ausbildungsmarkt keine realistische Chance für eine erfolgreiche Berufsausbildung besaß und deshalb der intensiven schulischen Unterstützung und des stabilen Rahmens, den ihr die Einrichtung H-Stiftung bieten konnte, bedurfte. Daneben stellte sich aber das weitere, gleichermaßen relevante Problem der Finanzierung dieser Ausbildung. Denn die dem förderungsberechtigten Personenkreis angehörende P wie auch die ohnedies nicht erreichbaren Kindsmutter und die Pflegemutter waren aufgrund ihrer Einkommenssituation nicht im Stande, den Bedarf der P für den Lebensunterhalt bei Berufsausbildung ganz oder teilweise selbst zu decken. Damit zielte der Antrag bei der nach dem Vorstehenden gebotenen Auslegung (auch) auf die Gewährung von finanzieller Unterstützung, um den Bedarf zum Lebensunterhalt während der angestrebten Berufsausbildung abzusichern und ist damit als Antrag auf Berufsausbildungsbeihilfe auszulegen.

Zwar sind gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) Anträge auf Sozialleistungen wie der hier begehrten Berufsausbildungsbeihilfe beim zuständigen Leistungsträger, also der Agentur für Arbeit, zu stellen. Ein bei einer unzuständigen Behörde gestellter Antrag ist allerdings gleichwohl wirksam (§ 16 Abs. 1 Satz 2 SGB I); diese hat den Antrag unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten (§ 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I). Nach § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I gilt aber, soweit die beantragte Sozialleistung von einem Antrag abhängig ist, der bei einem unzuständigen Leistungsträger gestellte Antrag als zu dem Zeitpunkt gestellt, indem er beim unzuständigen Leistungsträger eingegangen ist. Diese Regelung gilt entgegen der Auffassung der Beklagten auch für einen Antrag, der die zustehende Leistung nicht genau bezeichnet und deshalb ausgelegt bzw. umgedeutet werden muss (BT-Drs. 7/868, S. 26). Auch finden diese Vorschriften auf das Antragserfordernis nach § 323 SGB III Anwendung (Schaumberg in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Aufl., Stand 15.01.2019, § 323 Rn. 19). Damit lag im Juli 2016 auch ein wirksamer und im Hinblick auf die hier begehrten Leistungen fristgerechter Antrag auf Berufsausbildungsbeihilfe vor.

c)
Damit stand der P auch für den hier streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.09.2016 bis 31.12.2016 Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe zu. Eine etwaige verspätete Weiterleitung dieses Antrags an die Beklagte durch die Klägerin lässt deren Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe unberührt und kann sich allenfalls auf den hiervon isoliert zu betrachtenden Erstattungsanspruch der Klägerin auswirken (hierzu später).

(3.)
Die Berufsausbildungsbeihilfe ist gegenüber Leistungen für Unterhalt und Unterkunft nach dem SGB VIII vorrangig. Dies ergibt sich, wie bereits das SG unter Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 12.10.2017 (a.a.O.) dargelegt hat und worauf der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt, aus dem Zusammenwirken der Subsidiaritätsregelungen in § 22 Abs. 1 SGB III und § 10 Abs. 1 SGB VIII. Deshalb ist vorliegend § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X einschlägig. Auf die Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X, insbesondere die dort geforderte Geltendmachung eines Kostenbeitrags bei P, kommt es vorliegend aufgrund des bestehenden Vorrang-/Nachrangverhältnisses im Sinne des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X schon nicht an (vergleiche BSG, Urteil vom 10.12.2002, B 9 VG 6/01 R, juris).

(4.)
Ein Fall des § 103 Abs. 1 SGB X ist nicht gegeben, da der Anspruch auf Hilfen zur Erziehung nach §§ 27, 33, 39 SGB VIII nicht nachträglich entfallen ist. Ebenso wenig liegt ein Fall von § 102 SGB X vor, bei dem ein aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig leistender Träger einen Erstattungsanspruch gegen den verpflichteten Träger hat.  Eine vorläufige Leistungsgewährung im Sinne dieser Regelung liegt nur dann vor, wenn der angegangene Leistungsträger zwar zunächst nach den jeweiligen Vorschriften des materiellen Sozialrechts dem Berechtigten gegenüber zur Leistung verpflichtet ist, dabei aber entweder in Kenntnis von der Zuständigkeit eines anderen Leistungsträgers leistet oder sich noch erkennbar im ungewissen darüber befindet, welcher andere Leistungsträger zuständig ist (Schütze/Roos, 9. Aufl. 2020, SGB X § 102 Rn. 6). Der Wille des erstattungsbegehrenden Leistungsträgers, entweder für einen anderen oder im Hinblick auf die ungeklärte Zuständigkeit leisten zu wollen, muss nach außen erkennbar sein. Diese Voraussetzungen liegen für die Leistungsgewährung durch die Klägerin, die in Wahrnehmung ihrer irrtümlich angenommenen originären Zuständigkeit gehandelt hat, nicht vor.

(5.)
Die Beklagte hat auch nicht bereits an die P für den hier streitgegenständlichen Zeitraum Leistungen der Berufsausbildungsbeihilfe erbracht.

(6.)
Die Geltendmachung des danach entstandenen Erstattungsanspruchs ist auch nicht ausgeschlossen.

Die 12-Monats-Frist des § 111 SGB X war bei erstmaliger Geltendmachung des Erstattungsanspruchs am 27.01.2017 gewahrt. Auch eine Verjährung gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist nicht eingetreten, da die Klägerin die hier streitgegenständliche Klage am 18.01.2019 und damit innerhalb der 4-jährigen Verjährungsfrist des § 113 Abs. Satz 1 SGB X erhoben hat und somit gemäß §§ 113 Abs. 2 SGB X, 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB Hemmung eingetreten ist.

Die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs ist auch nicht durch die nicht fristgerechte Weiterleitung des Antrags der Kindsmutter der P auf Gewährung von Berufsausbildungsbeihilfe ausgeschlossen. Die für die begehrte Leistung nicht zuständige Stelle hat zwar gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I den zuständigen Leistungsträger festzustellen und diesem von Amts wegen unverzüglich den Antrag zuzuleiten (Weiterleitungsverpflichtung). Bei dieser Weiterleitungsverpflichtung handelt es sich indes um eine gegenüber dem Antragsteller, nicht jedoch gegenüber einer anderen Behörde bestehende Amtspflicht (Knecht in Hauck/Noftz, SGB I, 11/15, § 16 Rn. 14), weshalb deren Verletzung auch nur zu Gunsten des Antragstellers einen Schadensersatzanspruch (§ 839 BGB, Art. 34 GG) oder einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zur Folge haben kann. Ohnedies kommt es für die Entstehung und das Erlöschen eines Erstattungsanspruchs grundsätzlich nicht auf Verschulden an, weshalb es für diesen ohne Bedeutung ist, ob der nachrangig verpflichtete Leistungsträger, hier die Klägerin, sein Eintreten deshalb nicht vermieden hat, weil er sich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die Erfüllung des Leistungsanspruchs durch den vorrangigen Leistungsträger bemüht hat (BSG, Urteil vom 01.01.1993, 1 RK 16/92, juris). Lediglich dann, wenn der erstattungsbegehrende Leistungsträger sich bei der Gewährung der Leistungen an den Berechtigten bewusst über seine Zuständigkeit hinweggesetzt und seine Leistung offensichtlich entgegen der Sach- und Rechtslage erbracht oder in sonstiger Weise vorsätzlich oder grob fahrlässig gegen Rechtsnormen oder schutzwürdige Interessen anderer verstoßen hat, hat das BSG im Einzelfall eine Verwirkung des Erstattungsanspruchs für möglich gehalten (BSG, a.a.O.). Dies ist hier ohne Relevanz. Denn die Leistungsgewährung der Klägerin an die P ist weder vorsätzlich noch grob fahrlässig erfolgt, was im Übrigen auch die Beklagte nicht in Zweifel gezogen hat. Letztere hat lediglich die nicht erfolgte Weiterleitung des Antrags beanstandet und als Ausgangspunkt für ihre – wie aber dargelegt nicht tragfähigen – Überlegungen zu einer Beschränkung des Erstattungsanspruchs gemacht.

Damit steht der Klägerin der geltend gemachte Erstattungsanspruch gegen die Beklagte zu. Dieser ist auch der Höhe nach nicht zu beanstanden und entspricht der von der Beklagten bei unveränderten Voraussetzungen für den Folgezeitraum bewilligten Berufsausbildungsbeihilfe. Die Klägerin hat damit gegen die Beklagte einen (weiteren) Erstattungsanspruch i.H.v. 4 × 451 €, somit insgesamt 1.804 €. Damit erweist sich das Urteil des SG als rechtmäßig und ist die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens (§ 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO]).

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Die Beklagte hat deren Zulassung im Hinblick auf die aus ihrer Sicht ungeklärte Frage, ob die Entstehung des Erstattungsanspruchs davon abhängig ist, dass der für die vorrangige Leistung der Arbeitsförderung erforderliche Antrag gestellt worden ist, beantragt. Hierauf kommt es aber, wie dargelegt, schon nicht an.

Rechtskraft
Aus
Saved