L 7 AS 1652/22 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 41 AS 1730/22 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 1652/22 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 27.10.2022 geändert.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 29.09.2022 bis zum 31.03.2023 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.

Der Antragsgegner hat die Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.

 

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung des Antragsgegners bzw. der Beigeladenen, den Antragstellern ab 29.09.2022 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, dem AsylbLG oder dem SGB XII zu zahlen.

Die 1970 und 1976 geborenen Antragsteller zu 1) und 2) sind die Eltern der am 00.00.2012 und 00.00.2011 geborenen Antragstellerinnen zu 3) und 4). Die Antragsteller sind rumänische Staatsbürger. Sie sind 2015 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Sie wohnen zur Miete in H, O-Straße 29. Die monatliche Gesamtmiete beträgt 730 € (440 € Kaltmiete, 100 € Betriebskosten, 190 € Heizkosten). Die Vermieter haben den Mietvertrag nach §§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3a, 569 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 BGB wegen Nichtzahlung der Kaltmiete incl. Betriebskosten von November 2022 bis Januar 2023 i.H.v. insgesamt 1620 € fristlos gekündigt.

Die Antragstellerin zu 3) besucht die B-Schule, die Antragstellerin zu 4) die F-Schule - jeweils in H (Schulbescheinigungen vom 06.12.2022 und vom 05.04.2022). Der Antragsteller zu 1) arbeitete seit 21.02.2022 bei der Firma E GmbH als Helfer „Lagerwirtschaft und Transport - Kommissionieren von Pflanzen“ 100 Stunden monatlich zu einem Stundenlohn von 10,45 €. Am 03.06.2022 schlossen die Firma E GmbH und der Antragsteller zu 1) eine Änderungsvereinbarung vom 03.06.2022, wonach die monatliche Arbeitszeit in dem unbefristeten Arbeitsverhältnis seit 01.06.2022 auf 151,67 Stunden erhöht wurde. Wegen der Einzelheiten wird auf die auf Anforderung des Senats eingereichten Lohnabrechnungen von Juli 2022 bis November 2022, den Arbeitsvertrag, die Änderungsvereinbarung sowie hinsichtlich des Zuflusses und der Höhe des Lohnes auf die im Beschwerdeverfahren eingereichten Kontoauszüge Bezug genommen. Das Arbeitsverhältnis wurde von der Firma E GmbH zum 15.12.2022 betriebsbedingt gekündigt.

Die Antragsteller standen beim Antragsgegner im Leistungsbezug. Die mit Bescheid vom 26.01.2022 erfolgte Bewilligung von Alg II für die Zeit von Januar 2022 bis Juli 2022 an die Antragsteller hob der Antragsgegner wegen Erzielung von Einkommen des Antragstellers zu 1), das die Hilfebedürftigkeit der Antragsteller verringere, aber nicht beseitige, nach § 48 SGB X für die Zeit ab Mai 2022 vollständig auf. Mit weiterem Bescheid vom 25.04.2022 bewilligte der Antragsgegner für die Zeit von Mai 2022 bis Juli 2022 wegen Erzielung von Einkommen vorläufig nach § 41a Abs. 1 SGB II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II i.H.v. 1.024,26 €.

Mit Ordnungsverfügungen vom 02.05.2022 stellte das Ausländeramt den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU des Antragstellers zu 1) und der Antragstellerinnen nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU fest und ordnete deren sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Ziffer 4 VwGO an. Die Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 1, 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU erfülle der Antragsteller zu 1) im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung nicht, so dass er nicht als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigt sei.  Anhaltspunkte dafür, dass während des Aufenthaltes von sieben Jahren sich der Antragsteller zu 1) ernsthaft um einen Arbeitsplatz bemüht habe, seien nicht erkennbar. Die vom Antragsteller zu 1) ausgeübte Tätigkeit begründe keine Arbeitnehmereigenschaft. Unterstellt, die ausgeübte Teilzeittätigkeit von 100 Stunden monatlich begründe eine unionsrechtliche Arbeitnehmereigenschaft, könne sich der Antragsteller zu 1) nicht auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen. Die Geltendmachung eines auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU gestützten Freizügigkeitsrechts stelle sich als rechtsmissbräuchlich dar. Der Antragsteller habe nie beabsichtigt, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, die der Familie ausreichende Existenzmittel sichere. Von den schulpflichtigen Kindern, den Antragstellern zu 3) und 4), könne auch kein Aufenthaltsrecht abgeleitet werden. Der Annahme eines Freizügigkeitsrechts nach Art. 10 Abs. 1 VO(EU) Nr. 492/2011 stehe entgegen, dass es sich bei der Bezugsperson, d.h. dem Elternteil, um einen Arbeitnehmer oder ehemaligen Arbeitnehmer handeln müsse. Dies sei zu verneinen, da die Aufnahme der Tätigkeit nur erfolgt sei, um Sozialleistungen zu erhalten, somit rechtsmissbräuchlich sei. Die Verlustfeststellungen wurden bestandskräftig.

Mit Bescheid vom 16.05.2022 hob der Antragsgegner nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II, § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB II i.V.m. § 2 FreizügG/EU den Bescheid vom 25.04.2022 ab 01.06.2022 vollständig auf. Mit Ordnungsverfügungen vom 02.05.2022 sei der Verlust des Rechts auf Freizügigkeit der Antragsteller festgestellt worden. Damit bestehe kein Aufenthaltsrecht mehr.

Die Antragsteller stellten am 11.08.2022 beim Ausländeramt einen Antrag nach § 48 VwVfG und erhoben am 28.10.2022 beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO (8 K 4316/22). Auf Anfrage des Senats hat das Verwaltungsgericht am 24.01.2023 mitgeteilt, eine kurzfristige Entscheidung könne nicht in Aussicht gestellt werden, da eine nicht unerhebliche Anzahl von Verfahren aus 2019 und 2020 zur Entscheidung anstünden.

Die Antragsteller beantragten am 13.08.2022 die Weiterbewilligung der Leistungen. Der Antragsgegner lehnte dies mit Bescheid vom 22.08.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2022 ab. Die Antragsteller haben hiergegen beim Sozialgericht Gelsenkirchen Klage erhoben (S 4 AS 2152/22).

Am 29.09.2022 haben die Antragsteller die Verpflichtung des Antragsgegners zur Leistungszahlung im Wege der einstweiligen Anordnung ab 29.09.2022 und die Beiladung des Asylbewerberleistungsträgers beantragt.

Das Sozialgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 27.10.2022 abgelehnt. Ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht, da die Antragsteller nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB II von Leistungen ausgeschlossen seien. Der Leistungsanspruch nach dem SGB II sei nach Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts durch die Ausländerbehörde in den Ordnungsverfügungen vom 02.05.2022 entfallen. Ansprüche nach dem AsylbLG bestünden unabhängig von der Frage, ob das AsylbLG auf Unionsbürger anwendbar sei, ebenso wenig. Sofern aufgrund der Suspensivwirkung keine Ausreisepflicht bestehe, seien die Voraussetzungen von § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG i.V.m. § 3 AsylbLG jedenfalls nicht erfüllt. Ein besonderer Härtefall sei von den Antragstellern weder glaubhaft gemacht noch ersichtlich, so dass Überbrückungsleistungen ausscheiden würden. Die von den Antragstellern beantragte Beiladung der Stadt H komme nicht in Betracht.

Die Antragsteller haben gegen den ihnen am 02.11.2022 zugestellten Beschluss am 25.11.2022 Beschwerde eingelegt. Sie tragen vor, die Einkünfte des Antragstellers zu 1) seien von Juni 2022 bis Dezember 2022 unter Berücksichtigung der monatlichen Arbeitszeit von 151,67 Stunden von erheblichem Umfang gewesen. Eilbedürftigkeit liege aufgrund der Mittellosigkeit und der Kündigung des Mietverhältnisses vor.

Die Antragsteller beantragen,

den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 27.10.2022 zu ändern und ihnen ab 29.09.2022 vorläufig Leistungen nach dem SGB II bzw. nach dem AsylbLG zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Antragsteller seien nach § 7 Abs. 2 Nr. 2a SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Zum einen seien die Ordnungsverfügungen bestandskräftig. Zum anderen sei nicht festgestellt, dass sich die Antragsteller sich seit der Einreise 2015 dauerhaft rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hätten. Diese dem Ausländeramt obliegende Prüfung sei wohl offensichtlich auch in der Ordnungsverfügung verneint worden.

Der Senat hat die Stadt Gelsenkirchen nach § 75 Abs. 2, 106 Abs. 3 Nr. 6 SGG notwendig beigeladen und die Ausländerakte der Stadt H sowie die Verfahrensakte 8 K 4316/22 des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen beigezogen.

Die Beigeladene beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Ordnungsverfügungen hätten weiterhin Bestand. Die Antragsteller hielten sich nicht im Einklang mit dem Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland auf. Für die Verlustfeststellung sei bereits eine Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses vorgenommen worden. Der Antragsteller zu 1) übe keine Tätigkeit aus, die vom Umfang ausreichend sei, ohne aufstockende Sozialleistungen den Lebensunterhalt der vierköpfigen Bedarfsgemeinschaft vollständig sicherzustellen. In der Stellungnahme vom 30.01.2023 weist die Beigeladene ergänzend darauf hin, dass der Antragsteller erst im fortgeschrittenen Alter ein Arbeitsverhältnis aufgenommen habe. Leistungen nach dem AsylbLG könnten die Antragsteller nicht beanspruchen, da es sich um rumänische Staatsbürger und damit um EU-Staatsangehörige handele. Ebenso wenig bestehe ein Anspruch nach dem SGB XII.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte sowie der Verwaltungsakte der Ausländerbehörde Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die beantragte Verpflichtung des Antragsgegners abgelehnt.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung zu ermitteln (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 20.02.2019 – L 7 AS 1916/18 B ER und vom 30.08.2018 – L 7 AS 1268/18 B ER). Können ohne Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05). Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend zu berücksichtigen hat (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05; ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 20.02.2019 – L 7 AS 1916/18 B ER und vom 30.08.2018 – L 7 AS 1268/18 B ER).

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nach der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung begründet. Die Antragsteller haben sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund im Hinblick auf die von ihnen begehrte Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem 29.09.2022 glaubhaft gemacht.

Die Antragsteller zu 1) und 2) haben i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht und sind erwerbsfähig. Durchgreifende Zweifel an der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller gemäß §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II bestehen nicht. Der Anspruch der Antragstellerinnen zu 3) und 4) auf Sozialgeld folgt aus § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II.

Die Antragsteller haben zudem ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Sinne der sogenannten „Einfärbungslehre“ kommt es hingegen nicht an (BSG Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R). Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Satz 1 SGB I liegen vor, denn die Antragsteller sind 2015 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und leben seitdem durchgehend hier. Aus dem Schulbesuch der Antragstellerinnen zu 3) und 4) ergibt sich auch, dass der Aufenthalt der Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf Beendigung angelegt und damit zukunftsoffen ist.

Die Antragsteller sind im Zeitraum ab dem 29.09.2022 auch nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen. Ihr Aufenthaltsrecht ergibt sich nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche, denn der Antragsteller zu 1) ist ab dem 01.06.2022 als Arbeitnehmer gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizüg G/EU freizügigkeitsberechtigt. Dieses Freizügigkeitsrecht erfasst gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU auch die Antragstellerinnen zu 2) bis 4) als Familienangehörige des Antragstellers zu 1).

Der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des europäischen Gemeinschaftsrechts ist weit auszulegen. Der EuGH (Urteile vom 04.09.2009 - C-22/08 und C-23/08 - Vatsouras/Koupatanze und vom 04.02.2010 - C-14/09 - Genc) betont in ständiger Rechtsprechung, dass als Arbeitnehmer jeder anzusehen ist, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei nur Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Dass die Bezahlung einer unselbständigen Tätigkeit unter dem Existenzminimum liegt, hindert nicht, die Person, die diese Tätigkeit ausübt, als Arbeitnehmer anzusehen, selbst wenn der Betroffene die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts, wie eine aus öffentlichen Mitteln des Wohnortmitgliedstaats gezahlte finanzielle Unterstützung, zu ergänzen sucht. Zudem führt hinsichtlich der Dauer der ausgeübten Tätigkeit der bloße Umstand, dass eine unselbständige Tätigkeit von kurzer Dauer ist, als solcher nicht dazu, dass diese Tätigkeit vom Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EG) ausgeschlossen ist. Folglich lässt sich nach der Rechtsprechung des EuGH unabhängig von der begrenzten Höhe der Vergütung und der kurzen Dauer der Berufstätigkeit nicht ausschließen, dass diese aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich und echt angesehen werden kann (vgl dazu z.B. Beschluss des Senats vom 21.12.2017 – L 7 AS 2044/17 B ER).

Bei der gebotenen Gesamtwürdigung ist der Antragsteller zu 1) unter Berücksichtigung der o.g. Voraussetzungen als Arbeitnehmer einzustufen. Abzustellen ist hierbei auf die aufgrund der Änderungsvereinbarung zwischen der Firma E GmbH und dem Antragsteller zu 1) vom 03.06.2022. Die danach vom Antragsteller zu 1) ab 01.06.2022 verrichtete Tätigkeit mit einem Umfang vom 151,67 Stunden monatlich als Helfer erfüllt die o.g. Voraussetzungen, um aufgrund der Arbeitnehmereigenschaft freizügigkeitsberechtigt zu sein. Der Antragsteller arbeitete seit Juni 2022 in zeitlich erheblichem, um 50 % erhöhten Umfang in einem unbefristeten sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis, in dem er zwischen 1.497 € (Juli 2022), 1.532 € (August 2022), 1.532 € (September 2022), 1.300 € (Oktober 2022) und 927 € November 2022) brutto bei einem Stundenlohn von 10,45 € verdiente. Dabei ist es - entgegen der Einschätzung der Beigeladenen - unschädlich für die Zuerkennung der Arbeitnehmereigenschaft nach dem Freizügigkeitsrecht, wenn der Betreffende ergänzend staatliche Leistungen in Anspruch nimmt. Dies ergibt sich schon daraus, dass § 4 Abs. 1 FreizügG/EU das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel für nicht erwerbstätige Unionsbürger voraussetzt, eine entsprechende Regelung in § 2 FreizügG/EU aber fehlt. Dass der Antragsteller zu 1) mit dem Verdienst den Bedarf seiner vierköpfigen Bedarfsgemeinschaft nicht vollständig ohne Sozialleistungen bestreiten kann, hindert mithin nicht die Annahme der Arbeitnehmereigenschaft.

Ob der Arbeitnehmerstatus des Antragstellers zu 1) i.S.d. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU auch nach der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses fortbesteht, kann dahinstehen. Aufgrund der Arbeitnehmereigenschaft des Antragstellers zu 1) und des gleichzeitigen Schulbesuchs der Antragstellerinnen zu 3) und 4) als Schülerinnen der B-Schule bzw. der F-Schule verfügen die Antragsteller nämlich überdies über ein Aufenthaltsrecht aus Art.10 VO (EU) 492/2011, das für die Dauer des Schulbesuchs fortbesteht (vgl. hierzu BSG Urteil vom 27.01.2021 – B 14 AS 25/20 R).

Der Annahme eines über den Zweck der Arbeitsuche hinausgehenden Aufenthaltsrechts der Antragsteller seit dem 01.06.2022 steht die Wirkung der Verlustfeststellung der Ausländerbehörde vom 02.05.2022, die den Antragstellern zugestellt und bestandskräftig geworden ist, nicht entgegen. Der Senat lässt in diesem Zusammenhang offen, ob eine ausländerrechtliche Verlustfeststellung Tatbestandswirkung entfaltet und nur von der insoweit ausgehenden Behörde, dem Ausländeramt, in dem dafür vorgesehen Rechtswege überprüft werden kann (vgl. hierzu BSG Urteil vom 02.12.2014 – B 14 AS 8/13 R; LSG Hessen Beschluss vom 09.10.2019 – L 4 SO 160/19 B ER m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.03.2020 – L 19 AS 2035/19 B ER m.w.N.). Weiter kann dahinstehen, ob ein nach dem Erlass der Verlustfeststellung entstandenes Freizügigkeitsrecht diese nach § 43 Abs. 2 VwVfG auf andere Weise ex nunc erledigt oder ob die Verlustfeststellung von der Ausländerbehörde auf bestimmte Zeiträume zu begrenzen ist (vgl. LSG Schleswig-Holstein Beschluss vom 30.08.2021 – L 6 AS 10003/21 B ER; im Einzelnen hierzu LSG Hessen Beschluss vom 09.10.2019 – L 4 SO 160/19 B ER). Umstände und Tatsachen, die eine materielle europarechtliche Freizügigkeitsberechtigung verwirklichen, können trotz der Rechtswirkungen einer Verlustfeststellung (zum materiellen Prüfungsrecht der Sozialgerichte vgl. BSG Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R) nämlich jedenfalls dann zu berücksichtigen sein, wenn nach dem Erlass der Verlustfeststellung tatsächliche Umstände eintreten, die eine materielle Freizügigkeitsberechtigung begründen. Die Tatbestandswirkung ist in dem Fall insoweit begrenzt (vgl. LSG Schleswig-Holstein Beschluss vom 30.08.2021 – L 6 AS 10003/21 B ER; LSG Hessen Beschluss vom 09.10.2019 – L 4 SO 160/19 B ER; a.A. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.03.2020 – L 19 AS 2035/19 B ER; offen gelassen LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 17.12.2018 – L 6 AS 500/18 B ER). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben, denn die Änderungsvereinbarung zum Arbeitsvertrag des Antragstellers, mit der die monatliche Arbeitszeit in dem unbefristeten Arbeitsverhältnis des Antragstellers seit dem 01.06.2022 auf 151,67 Stunden erhöht worden ist, ist erst am 03.06.2022 und damit nach dem Erlass der Verlustfeststellung am 02.05.2022 abgeschlossen worden.

Die Antragsteller sind somit nicht von Leistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen.

Ein Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit liegt vor, denn die Antragsteller können ohne die von ihnen begehrten Leistungen nicht ihr Existenzminimum sichern.

Den Antragstellern sind Leistungen nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen (vgl. hierzu BSG Urteil vom 01.06.2010 – B 4 AS 67/09 R) und unter Anrechnung des Einkommens zu zahlen.

Der Zeitraum der Verpflichtung des Antragsgegners orientiert sich an § 41 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II, wobei der Senat den Abschlussmonat aus Gründen der Zweckmäßigkeit zum Monatsende aufgerundet hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
Saved