L 9 AS 1691/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 16 AS 834/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 AS 1691/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 23. Mai 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Versagung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

Die 1971 geborene Klägerin bezog in der Vergangenheit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Zwischen den Beteiligten war im Rahmen eines früheren Verfahrens streitig, ob die Klägerin und S, die bereits mehrere Jahre in einer gemeinsamen Wohnung (in der P-Straße in F) lebten, eine Bedarfsgemeinschaft bilden. Gegen die Ablehnung von Leistungen durch den Beklagten erhoben die Klägerin und S Klage vor dem Sozialgericht Heilbronn (<SG> S 8 AS 2556/12). Im Rahmen eines Erörterungstermins am 14.11.2013 gab die Vorsitzende nach Anhörung der Beteiligten den rechtlichen Hinweis, dass nach der Aussage der Klägerin in diesem Termin keine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft bestehen dürfte. Der Beklagte gab daraufhin ein Anerkenntnis ab, wonach der klägerische Anspruch anerkannt und der in diesem Verfahren angegriffene Bescheid aufgehoben und die Klägerin unter Außerachtlassung des Einkommens und Vermögens des S neu verbescheiden werde.

Der Beklagte bewilligte der Klägerin in der Folgezeit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, letztmals mit Bescheid vom 23.04.2020 für den Zeitraum 01.07.2020 bis 30.06.2021.

Unter dem 28.05.2020 teilte die Klägerin dem Beklagten durch Vorlage eines Untermietvertrages mit S über eine angemietete Wohnung in der H-Straße in E (Mietbeginn 01.06.2020, Untermiete 330,- €) den gemeinsamen Umzug zum 01.05.2020 mit. Aus dem Untermietvertrag geht weder die Größe der Wohnung noch die Zimmerzahl hervor. Aus einer vorgelegten Mietbescheinigung vom 09.06.2020 ergibt sich, dass die Wohnung eine Größe von 50 qm hat und im 1. OG eines großen Mehrfamilienhauses liegt.

Aufgrund des mitgeteilten gemeinsamen Umzugs trat der Beklagte in eine erneute Prüfung ein, ob zwischen der Klägerin und S nunmehr eine Bedarfsgemeinschaft vorliegt. Der Beklagte forderte unter anderem die Klägerin im Rahmen dieser Prüfung mit Schreiben vom 08.07.2020 dazu auf, u.a. Kontoauszüge, Lohnabrechnungen und die Anlage VM vorzulegen. Nachdem keine Antwort erfolgte, entzog der Beklagte der Klägerin die bewilligten Leistungen mit Bescheid vom 07.08.2020 ab dem 01.09.2020 ganz. Ein vom Bevollmächtigten der Klägerin per E-Mail eingelegter Widerspruch wurde vom Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 24.09.2020 mit der Begründung zurückgewiesen, dieser sei unzulässig. Eine Klage wurde von der Klägerin hiergegen nicht erhoben.

Im November 2020 beantragte die Klägerin erneut die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II beim Beklagten. Mit Schreiben vom 16.11.2020 forderte der Beklagte sie zur Vorlage von Unterlagen auf, worauf einzelne Unterlagen, u.a. Abrechnungen über einen von der Klägerin ausgeübten Minijob beim Bistro P1 in F vorgelegt wurden. S wies mit Schreiben vom 26.11.2020 darauf hin, dass bereits im früheren Verfahren vor dem SG festgestellt worden sei, dass keine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft bestehe. Er sei seit dem 31.10.2020 arbeitslos und erhalte derzeit Krankengeld. Die Klägerin erhalte keinerlei Unterstützung von ihm.

Mit Schreiben vom 10.12.2020 führte der Beklagte aus, die Klägerin lebe seit mindestens 2011 mit S in einer Wohnung und es sei mindestens ein gemeinsamer Umzug erfolgt. Im Hinblick darauf sei das Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft neu zu prüfen. Aktuell werde eine 50 m² große Wohnung gemeinsam genutzt, wobei die Zimmeranzahl unbekannt sei. Auch sei unklar, ob und ggf. wie eine Aufteilung erfolgt sei und ob die Antragstellerin dort eine Privatsphäre habe. Wegen der aktuellen Pandemielage sei die Prüfung durch den Bedarfsfeststellungdienst nicht möglich. Hierzu stellte der Beklagte der Klägerin beiliegend 35 Fragen mit dem Hinweis, sollten die Fragen bis zum 28.12.2020 nicht beantwortet werden, könnten die beantragten Geldleistungen ganz versagt werden. Die Fragen betreffen unter anderem das gemeinsame Kennenlernen, die Gründe des gemeinsamen Umzugs, die Haushaltsführung („Wer kümmert sich um den Haushalt? Wer kocht? Wer kauft ein?“) und die Raumaufteilung („Welche Zimmer der Wohnung nutzen Sie gemeinsam?“) und die Freizeitgestaltung („Verbringen Sie die Abende gemeinsam? Nehmen Sie mit S gemeinsam Mahlzeiten ein?“). Eine Antwort seitens der Klägerin auf die gestellten Fragen erfolgte nicht.

Am 03.02.2021 stellte die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim SG mit dem Ziel, den Beklagten zu verpflichten, „den Regelsatz in Höhe von 738 Euro mit Wirkung zum 1. Juli 2020 fortlaufend zu bewilligen und auszuzahlen“. Die frühere Wohnung sei wegen Eigenbedarfs gekündigt worden. Im früheren Gerichtsverfahren sei „entschieden“ worden, dass keine Bedarfsgemeinschaft vorliege.

Mit Bescheid vom 05.02.2021 versagte der Beklagte die Gewährung von Leistungen ab November 2020 und führte dazu aus, die mit Schreiben vom 10.12.2020 geforderten Unterlagen und Nachweise seien zur Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen erforderlich und trotz Belehrung von der Klägerin nicht vollständig vorgelegt worden. Die Klägerin sei dadurch ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen und habe die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert. Die Anspruchsvoraussetzungen könnten daher nicht geprüft werden. Grundlage der Entscheidung seien die §§ 60 und 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I). Der Beklagte habe bei der Entscheidung von seinem Ermessen Gebrauch gemacht. Es lägen keine Ermessensgesichtspunkte vor, die gegen eine Versagung sprächen. Hiergegen legte der Klägerbevollmächtigte am 17.02. 2021 Widerspruch ein.

Mit Beschluss vom 18.02.2021 (S 8 AS 3272/21 ER) lehnte das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Der Beklagte wies den Widerspruch gegen den Bescheid vom 05.02.2021 mit Widerspruchsbescheid vom 01.03.2021 zurück. Es seien keine Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung zu erkennen.

Am 22.03.2021 hat die Klägerin dagegen Klage zum SG erheben lassen mit dem Antrag,
den Bescheid des Beklagten vom 05.02.2021 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 01.03.2021 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Klägerin neu zu bescheiden. Zur Begründung hat die Klägerin zunächst ausgeführt, der Vorgang sei für sie schlicht und ergreifend nicht nachvollziehbar. Es gehe vorrangig um die Tatsachenfeststellung, dass eine Wohnungsgemeinschaft (WG) vorliege und daraus resultierend dieser Prozess geführt werde. Es liege somit wiederum ein untauglicher Versuch des Beklagten vor, weitere Informationen zu erhalten. Im Übrigen teile die Klägerin mit, dass sich der Beklagte auch an ihren Arbeitgeber für den Aushilfsjob gewandt habe, um von dort Unterlagen zu erlangen. Das Gericht möge der Beklagten aufgeben, in diesem Prozess vorzutragen und nicht andernorts. Im Übrigen nehme man Bezug auf die Entscheidung des SG im Verfahren S 8 AS 2556/12. Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Es sei nicht nachvollziehbar, warum Widerspruch und Klage erhoben werde, die Klägerin aber nicht stattdessen die geforderten Unterlagen vorlege bzw. die Fragen beantworte.

Am 05.05.2022 hat ein Erörterungstermin vor dem SG stattgefunden. Im Rahmen dieses Termins hat der Klägerbevollmächtigte vorgetragen, es gehe der Klägerin mit der Klage darum, dass diese nicht bereit sei, die vom Beklagten mit Schreiben vom 10.12.2020 gestellten Fragen zu beantworten, bzw. ihr dies auch nicht möglich sei. Die gestellten Fragen seien „eine Frechheit“, „es gehe das Jobcenter nichts an“, es müsse genügen, wenn die Klägerin sage, sie lebe nicht in einer Partnerschaft, der Beklagte brauche nichts zu prüfen, er solle „sich doch ins Wohnzimmer setzen und dort prüfen“. Der Beklagte sei nicht befugt „solche Art Fragen an ein WG-Mitglied zu stellen“. Die Klägerin betrachte dies als diskriminierend. Die Klägerin selbst hat ergänzend vorgetragen, die Fragen seien unnötig und würden sich von selbst beantworten, wenn man wisse, dass man in einer WG zusammenlebe. Sie hat die Frage aufgeworfen, ob sie zwei Seiten Fragen beantworten und Romane an das Jobcenter schicken solle und wo das Formular zum Ausfüllen dieser Fragen sei.

Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 23.05.2022 abgewiesen.
Der Klageantrag Ziffer 2 werde gemäß § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dahingehend ausgelegt, dass die Klägerin die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II auf den Antrag vom November 2020 begehre. Die insoweit als Leistungsklage statthafte Klage sei jedoch unzulässig. Gegen die Versagung einer Sozialleistung wegen fehlender Mitwirkung sei nur die reine Anfechtungsklage zulässig. Streitgegenstand sei in diesen Fällen nämlich nicht der materielle Anspruch, sondern die Auseinandersetzung über Rechte und Pflichten der Beteiligten im Verwaltungsverfahren. Die gemäß § 54 Abs. 5 SGG grundsätzlich mögliche Kombination von Anfechtungs- und Leistungsklage sei hier grundsätzlich ausgeschlossen, im Zweifel habe die Behörde die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs überhaupt noch nicht inhaltlich geprüft (vgl. zum Ganzen Spellbrink in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht Werkstand: 117. EL Dezember 2021, § 66 SGB I, Rn. 46, m.w.N.).

Die sich gegen den Bescheid vom 05.02.2021 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 01.03 2021 richtende Klage sei als Anfechtungsklage zulässig, aber unbegründet. Das erkennende Gericht habe im Beschluss vom 18.02.2021 (S 8 AS 327/21 ER) ausgeführt: „Auch aufgrund des erneuten Antrages aus dem November 2020 ergibt sich kein Anordnungsanspruch, weil der Antragsgegner die Leistung durch Bescheid vom 05.02.2021 zu Recht versagt hat. Gem. § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I hat, wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind, und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zuzustimmen. Nach § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I kann der Leistungsträger, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seine Mitwirkungspflichten nach den § 60 nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird, ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Sozialleistungen dürfen wegen der fehlenden Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folgen schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist, § 66 Abs. 1 S. 3 SGB I. Die vom Antragsgegner mit Schreiben vom 10.12.2020 abgefragten Tatsachen sind für die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II erheblich, weil das Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 c.) SGB II zwischen der Antragstellerin und S Auswirkungen auf die Anspruchsberechtigung bzw. die Anspruchshöhe hätte. Nach zwischenzeitlich mindestens neun Jahren des Zusammenlebens in einer Unterkunft und einem gemeinsamen Umzug in eine neue Wohnung (mit 50m² Größe, einer dem Antragsgegner unbekannten Zimmeranzahl und einer unbekannten Aufteilung) ist die erneute Prüfung des Vorliegens einer Bedarfsgemeinschaft nicht zu beanstanden. Der Zeitablauf und die nun unbekannten neuen Wohnverhältnisse bieten durchaus Anlass zu einer erneuten Prüfung. Entgegen der Einschätzung der Antragstellerin liegt keine gerichtliche Entscheidung vor, aus der sich das Nichtbestehen einer Bedarfsgemeinschaft ergibt (insbesondere nicht bezüglich der jetzigen Verhältnisse). Die Antragstellerin war daher nach § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I verpflichtet, die vom Antragsgegner gestellten Fragen zu beantworten. Dieser Mitwirkungspflicht ist sie nicht nachgekommen, wodurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert worden ist, zumal dem Antragsgegner ein Einsatz des Bedarfsfeststellungsdienstes mit einem Hausbesuch wegen der aktuellen Pandemie und der damit verbundenen Gesundheitsgefahr nicht zuzumuten ist. Nachdem die Antragstellerin mit Schreiben vom 10.12.2020 auf die mögliche Versagung schriftlich hingewiesen worden ist und ihrer Mitwirkungspflicht nicht innerhalb der ihr gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist, lagen die Tatbestandsvoraussetzungen einer Versagung vor. Die Ermessensausübung des Antragsgegners ist nicht zu beanstanden.“

Diesen Ausführungen schließe sich das Gericht vollumfassend an. Ergänzend sei auszuführen, dass die zuletzt vorgebrachten Rechtsansichten des Klägerbevollmächtigten keine Stütze im Gesetz fänden. Soweit der Klägerbevollmächtigte vorgetragen habe, der Beklagte „brauche nichts zu prüfen“, sei auf § 8 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu verweisen, der die Legaldefinition des Verwaltungsverfahrens enthält. Danach ist ein Verwaltungsverfahren die nach außen wirkende Tätigkeit einer Behörde, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsaktes oder auf den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages gerichtet ist. Die Klägerin habe mit ihrem Antrag selbst den Beginn des Verwaltungsverfahrens eingeleitet (vgl. § 18 SGB X). Insoweit habe der Beklagte die entsprechenden Tatsachen zu ermitteln, wie sich aus § 20 SGB X ergibt, wobei die Behörde Art und Umfang der Ermittlungen bestimmt. Auch die gestellten Fragen seien nicht zu beanstanden, sie stünden allesamt im Zusammenhang mit der Frage, ob die Klägerin mit S eine Bedarfsgemeinschaft bilde oder nicht. Soweit die Klägerin auf ihre Antworten im Termin vom 14.11.2013 (im Verfahren S 8 AS 2556/12) verweise, seien diese Antworten bereits aufgrund des Zeitablaufs ungeeignet, den Sachverhalt im Rahmen der erforderlich gewordenen erneuten Prüfung vollständig aufzuklären. Insbesondere reiche es auch nicht aus, wie der Klägerbevollmächtigte meine, dass die Klägerin angebe, lediglich in einer Wohngemeinschaft zusammenzuleben. Im Sinne des § 7 Abs. 3 Ziffer 3 c) i.V.m. Abs. 3 a SGB II seien für die Feststellung, dass Personen in einer Einstands- und Bedarfsgemeinschaft zusammenleben, drei Voraussetzungen zu erfüllen: Die fraglichen Personen müssten als Partner in einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft zusammenleben, mit dem verfestigten, wechselseitigen Willen, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen und unter Ausschluss weiterer Lebensgemeinschaften gleicher Art. Das „Für-Einander-Einstehen“ könne dabei nur anhand von Indizien und im Wege einer Gesamtwürdigung festgestellt werden. In der Kommentierung von Geiger in Münder/Geiger, SGB II (7. Aufl. 2021, § 7, Rn. 89, jeweils mit entsprechenden Nachweisen) heiße es hierzu:
„Nach der Rechtsprechung sind insbesondere folgende Indizien für das Bestehen eines Einstandswillens bedeutsam:
- die bewusste Entscheidung für ein Kind,
- die Dauer und Intensität der Beziehung vor dem Zusammenleben; die Rückkehr zu einer früheren Beziehung begründet aber nicht gleich eine Einstandsgemeinschaft, wenn die Beziehung zwischenzeitlich beendet war,
- gemeinsame Pläne, die auf eine dauerhafte Bindung hindeuten (gemeinsamer Kauf einer Immobilie; gemeinsamer Kredit für Wohnungsrenovierung)
- gegenseitig eingeräumte Kontovollmacht mit tatsächlichem Zugriffsrecht, wobei getrennte Konten allein kein ausschlaggebendes Indiz für das Nichtbestehen einer Einstandspartnerschaft sind,
- Begünstigung des Partners in Versicherungspolice,
- Übernahme von Schulden des Partners oder eine Bürgschaft,
- Wiederholte, gemeinsame Wohnungswechsel, bei denen der Wunsch, zusammen zu bleiben, prägend war,
- alleinige Übernahme der Miete,
- Anmietung einer Wohnung, die so teuer ist, dass sie ohne Unterstützung des Partners nicht bezahlt werden kann
- Umbau des Wohnraums zur Ermöglichung des Zusammenlebens,
- gemeinsames Verbringen von Freizeit und Urlaub,
- Pflege durch den Partner mit einer so umfassenden Betreuung, wie sie in aller Regel nur allernächste Angehörige einem Erwachsenen, zumeist nur dem Ehepartner/Lebenspartner zuwenden.
Gegen einen verfestigten, ehegleichen Einstandswillen sprächen:
- regelmäßige Geldüberweisungen auf das Konto des Mitbewohners für anteilige Mietkosten und sonstige Aufwendungen,
- Beziehungen zu jeweils dritten Partnern, mit denen die Freizeit (Urlaub, Hobbys) verbracht wird und die sich regelmäßig (z.B. am Wochenende) auch in der Wohnung aufhalten,
- wenn die Gemeinschaft allein durch die Hilfsbereitschaft des Mitbewohners geprägt ist,
- wenn der Partner sein Einkommen überwiegend für eigene Zwecke nutzt (teure Hobbys, eigene Vermögensbildung usw.),
- bewusst distanzierte Beziehung wegen schlechter Eheerfahrung, hoher Schulden oder Suchterkrankung eines Partners.“
Dies seien genau die Themenbereiche, die der Beklagte mit seinen Fragen berühre, er also im Rahmen der ihm obliegenden Sachverhaltsermittlung (vgl. oben) zu erheben habe. Vor diesem Hintergrund sei es für das Gericht auch nicht nachvollziehbar, wie der Klägervertreter zu der Einschätzung komme, die vom Beklagten gestellten Fragen seien eine „Unmöglichkeit“, „unnötig“, „toll“ oder „diskriminierend“.
Der im Erörterungstermin gestellte Beweisantrag auf Vernehmung des Herrn S. sei abzulehnen, weil es an der Entscheidungserheblichkeit der unter Beweis gestellte Tatsache fehle In Bezug auf die erhobene Leistungsklage ergebe sich die fehlende Entscheidungserheblichkeit aus rechtlichen Gründen, denn die Leistungsklage sei bereits unzulässig; das Beweisthema beziehe sich hingegen auf die Begründetheit. Im Hinblick auf die zulässig erhobene Anfechtungsklage liege eine tatsächliche Bedeutungslosigkeit vor. Wie bereits ausgeführt sei hier lediglich relevant, ob die Klägerin ihren Mitwirkungspflichten nachgekommen sei. Irrelevant sei dabei hingegen, in welchem Verhältnis sie zu S stehe.

Gegen den dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 23.05.2022 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 10.06.2022 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegte Berufung, mit welcher die Klägerin ihr
bisheriges Vorbringen wiederholt. Seit dem im früheren Verfahren vom Beklagten erklärten Anerkenntnis habe sich die Sachlage nicht geändert, auch nicht nach dem gemeinsamen Umzug. Die Klägerin habe eine eigene Steuernummer beim Finanzamt und komme für ihre Mietzahlungen selber auf. Die Fragen des Beklagten verstießen gegen die Grundrechte der Klägerin, unter anderem gegen die Menschenwürde, das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und den Gleichheitssatz des Grundgesetzes.

Die Klägerin beantragt (wörtlich),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 23. Mai 2022 aufzuheben und die Klägerin neu zu bescheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf seinen bisherigen Vortrag, die ergangenen Bescheide und die Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid.


Mit Beschluss vom 01.08.2022 hat der Senat das Verfahren auf den Vorsitzenden Richter übertragen, der mit den ehrenamtlichen Richtern über die Sache entscheidet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die nach § 151 Abs. 1 und 2 SGG form- und fristgemäß eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.
 
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Der Gerichtsbescheid des SG vom 23.05.2022 sowie der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 05.02.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.03.2021 sind nicht zu beanstanden.

Streitgegenstand ist allein die im Wege einer Anfechtungsklage zu verfolgende Aufhebung der ergangenen Versagungsbescheide. Die Rechtmäßigkeit eines auf § 66 SGB I gestützten Bescheides richtet sich allein danach, ob die dort normierten Tatbestandsmerkmale der mangelnden Mitwirkung gegeben sind und zwar unabhängig davon, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Leistung vorliegen. Gegen die Versagung einer Sozialleistung wegen fehlender Mitwirkung ist grundsätzlich nur die reine Anfechtungsklage gegeben. Eine unmittelbare Klage auf existenzsichernde Leistungen kommt in Betracht, wenn sich bei einer Aufhebung der Entscheidung über die Versagung wegen fehlender Mitwirkung das Verwaltungsverfahren lediglich wiederholen würde (vgl. BSG, Beschluss vom 25.02.2013 – B 14 AS 133/12 B -, Urteil vom 01.07.2009 - B 4 AS 78/08 R = BSGE 104, 26 = SozR 4-1200 § 66 Nr. 5).
Bezogen auf Streitigkeiten wegen des Bestreitens einer Einstehensgemeinschaft iS des § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst c SGB 2 bedeutet dies, dass nur in den Fällen die Zulässigkeit der Erweiterung der Anfechtungsklage um eine Leistungsklage zu diskutieren sein kann, in denen das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass keine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft bestanden hat und die Leistungsversagung deshalb rechtswidrig war.

Nach diesen Grundsätzen ist die vorliegend erhobene und mit der Berufung fortgeführte Klage mit dem Antrag, „die Klägerin neu zu bescheiden“, unzulässig, da es sich insoweit in der Sache um eine Neubescheidungsklage als Unterfall der Verpflichtungsklage handeln dürfte. Aber selbst wenn man meistbegünstigend davon ausgeht, dass die Klage jedenfalls die Anfechtung der ergangenen Versagungsbescheide impliziert und insoweit zulässig ist, so ist diese jedenfalls unbegründet, da die angegriffenen Bescheide nicht zu beanstanden sind. Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, ist Rechtsgrundlage für die angefochtenen Bescheide § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I. Nach dieser Vorschrift kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen bis zur Nachholung der Mitwirkung die Leistung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistungen nicht nachgewiesen sind, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird. Der Beklagte hat die Klägerin jeweils vor Erlass der Versagensbescheide nach § 66 Abs. 3 SGB I auf ihre Mitwirkungspflichten unter Fristsetzung und die Folgen einer mangelnden Mitwirkung schriftlich hingewiesen. Der Umfang der hier streitigen Mitwirkungspflicht ergibt sich aus § 60 Abs. 1 Nr. 1 SGB I. Danach hat, wer Sozialleistungen beantragt, alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind. Bei einem Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II sind leistungserheblich auch das Einkommen und Vermögen einer Person, mit der der Antragsteller in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebt, denn gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist zur Feststellung der Bedürftigkeit bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch das Einkommen oder Vermögen des Partners zu berücksichtigen.

Nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II gehört zur Bedarfsgemeinschaft eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Dieser Wille wird nach § 7 Abs. 3a SGB II vermutet, wenn Partner länger als ein Jahr Zusammenleben (Nr. 1), mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben (Nr. 2), Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen (Nr. 3) oder befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen (Nr. 4). Für das Vorliegen einer sogenannten Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II müssen drei Voraussetzungen vorliegen. Bei der Klägerin und S müsste es sich um Partner handeln (1), die in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenleben (2), dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen (3). Die Voraussetzungen Partnerschaft und Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt stellen objektive Tatbestandsvoraussetzungen dar, die neben der subjektiven Voraussetzung des Einstehens- und Verantwortungswillens gegeben sein müssen. Die gesetzlich normierte Vermutung gemäß § 7 Abs. 3a SGB II besteht nur bezüglich des Einstehens- und Verantwortungswillens (BSG, Urteil vom 23.08.2012 - B 4 AS 34/12 R -, BSGE 111, 250-257, SozR 4-4200 § 7 Nr. 32, SozR 4-4200 § 9 Nr. 11). Dies bedeutet, dass zwingend eine objektive Partnerschaft sowie eine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft - neben dem subjektiven Einstehens- und Verantwortungswillen - festgestellt werden muss. Unter "Zusammenleben" in einer Wohnung ist mehr als nur ein bloßes "Zusammenwohnen", wie es bei Wohngemeinschaften der Fall ist, zu verstehen. Die Verbundenheit von Partnern, die in einem gemeinsamen Haushalt zusammenleben, muss nach außen erkennbar sein.

Da bei der Klägerin und S aufgrund des langjährigen Zusammenwohnens von ca. 12 Jahren die Vermutungswirkung des § 7 Abs. 3a SGB II erfüllt ist, die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB von der Klägerin aber in Abrede gestellt werden, war der Beklagte – zumal nach dem gemeinsamen Umzug in die jetzige Wohnung und fehlende Angaben zu den Wohnverhältnissen – berechtigt, hierzu im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht (erneut) Ermittlungen anzustellen und Auskünfte bei der Klägerin einzuholen und ihr Fragen zu stellen, zumal mit Blick auf die coronabedingte Pandemielage ein Hausbesuch im Zeitpunkt der schriftlichen Abfrage (Dezember 2020) zur Ermittlung des Sachverhalts untunlich gewesen wäre. Der Senat teilt auch die Auffassung des SG, dass Art, Inhalt und Umfang des Fragenkatalogs rechtlich nicht zu beanstanden waren und eine Beantwortung der Klägerin daher auch unter Würdigung ihrer Grundrechte zumutbar war. Soweit einzelne Fragen möglicherweise wenig zielführend bzw. spekulativ formuliert waren („Würde Ihnen S helfen, wenn Sie sich in einer finanziellen Notlage befinden ?, Für welche Dauer planen Sie zukünftig weiterhin eine Wohnung gemeinsam zu bewohnen ?“ ) oder eine eigene rechtliche Wertung erforderten (vgl.
Bayerisches LSG, Urteil  vom 26.11.2014 - L 11 AS 589/14 -), konnte deren Beantwortung vom Leistungsberechtigten möglicherweise nicht verlangt werden. Allerdings rechtfertigt dies nicht die „Totalverweigerung“ der Klägerin in Bezug auf den gesamten Fragenkatalog und die abgefragten und entscheidungserheblichen Umstände des aktuellen Zusammenlebens. Dies umso mehr, als nicht erkennbar ist, dass für den Beklagten die Möglichkeit bestand (und besteht), die leistungserheblichen Tatsachen auf andere Weise vollständig zu ermitteln (vgl. zu den Folgen der Verweigerung eines Hausbesuchs, LSG Hessen, 30.01.2006 – L 7 AS 1/06 ER, L 7 AS 13/06 ER -; Berlit, NZS 2009, 537, 539). Hieran ändern auch die von S zu einzelnen Punkten gemachten Angaben und vorgelegten Unterlagen, etwa zu seinen Einkommensverhältnissen in einem bestimmten Zeitraum, nichts, da die wesentlichen Punkte und Fragestellungen, etwa zu den Wohn- und Wirtschaftsverhältnissen auch insoweit unbeantwortet blieben. Die pauschale Behauptung der Klägerin, es habe sich gegenüber früher nichts geändert, wird den Anforderungen an ihre Mitwirkungsobliegenheit im Verfahren nicht gerecht. Auch im Übrigen sind die angegriffenen Bescheide rechtlich nicht zu beanstanden. Die Ausführungen zur Ermessenausübung genügen (noch) den gesetzlichen Anforderungen, zumal die Kläger-Seite keine Umstände vorgetragen hat, die einer Leistungsversagung entgegengestanden hätten.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
Saved