L 3 R 239/21

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 6 R 457/19
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 3 R 239/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

 

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 20. Juli 2021 wird zurückgewiesen.

 

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand:

 

Zwischen den Beteiligten ist die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI) streitig.

 

Der am ... 1988 geborene Kläger besuchte bis zum ... 2006 die Schule für Lernbehinderte in M., ohne einen Schulabschluss zu erreichen (Abschlusszeugnis vom 18. Juli 2006). Danach durchlief er ein Berufsvorbereitungsjahr, in welchem er diverse Praktika absolvierte und welches er ohne Erlangung der Ausbildungsreife beendete. Vom 3. September 2007 bis zum 1. August 2008 nahm er an einer von der Agentur für Arbeit veranlassten Bildungsmaßnahme teil. Vom 1. März bis zum 30. April 2010 war er als Verkaufshelfer im An- und Verkauf versicherungspflichtig tätig. Ausweislich der Beurteilung hierüber vom 5. Mai 2010 verrichtete der Kläger Hilfsarbeiten, z.B. Reinigungsarbeiten, Transportarbeiten, Ware sortieren und einräumen. Er sei stets pünktlich erschienen, sehr motiviert gewesen und habe die ihm gestellten Aufgaben nach Anleitung „entsprechend seiner Möglichkeiten“ erledigt. Vom 9. Mai 2011 an war der Kläger bei der K GmbH & Co. KG (im Weitern: K.) im Rahmen eines unbefristeten vollzeitigen Arbeitsverhältnisses versicherungspflichtig beschäftigt, bei dem sein Vater als Polier arbeitete. Nach Angaben des Arbeitgebers habe der Kläger nur unter der Aufsicht seines Vaters eingesetzt werden können, der ihn den ganzen Tag über betreut habe. Sein Tätigkeitsbereich habe sich auf die Reinigung der Baustelle und die Vorbereitung von anstehenden Arbeiten bezogen. Aufgaben, die Schreib- oder Rechenarbeit erfordert hätten, seien vom Kläger nicht gefordert worden. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 101 f., 107 der Verwaltungsakte und Blatt 124 f. der Gerichtsakte Bezug genommen. Seit dem 29. August 2014 war der Kläger infolge eines Arbeitsunfalls arbeitsunfähig erkrankt, erhielt zunächst Lohnfortzahlung und dann Krankengeld bis zum 15. März 2015. Vom 16. März 2015 bis zum 15. April 2016 war der Kläger erneut versicherungspflichtig bei K.  beschäftigt. Nach Angaben des Klägers wurde das Arbeitsverhältnis aufgrund zurückgehender Auftragslage betriebsbedingt beendet. Vom 16. April 2016 bis zum 15. April 2017 erhielt der Kläger Arbeitslosengeld I. Nachfolgend bezog er bis zum 31. Dezember 2018 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in unterschiedlicher Höhe unter Berücksichtigung einer ab 2016 gewährten Berufsunfähigkeitsrente aus einer privaten Versicherung und der Einkünfte aus einer seit dem 1. Dezember 2017 verrichteten nicht versicherungspflichtigen Beschäftigung als Aushilfe zur Erledigung einfacher Tätigkeiten im Einzelhandel, insbesondere als Auspacker. Insoweit wird auf den Arbeitsvertrag vom 25. Januar 2018, Blatt 221 der Gerichtsakte, verwiesen. Ab Januar 2019 erhält der Kläger Leistungen der Grundsicherung vom Sozialamt H..

 

Seit dem 13. Januar 2017 ist beim Kläger ein Grad der Behinderung von 50 (nach seinen Angaben wegen der Hirnleistungsminderung) anerkannt.

 

Am 1. Februar 2018 beantragte der Kläger nach entsprechender Aufforderung durch das Jobcenter die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung. Aufgrund der Folgeerkrankungen des Arbeitsunfalls und der Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit könne er keinerlei Arbeiten mehr verrichten. Über die gesundheitlichen Beschwerden hinaus sei er durch die Erkrankungen der Eltern und den Nervenzusammenbruch des Vaters belastet. Wegen der zu seinem Antrag übersandten Unterlagen wird auf Blatt 30 bis 59 der Verwaltungsakte Bezug genommen.

 

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 19. März 2018 ab. Der Kläger sei seit dem 30. November 1988 dauerhaft voll erwerbsgemindert. Das Versicherungskonto enthalte bis zu diesem Tag keinen Wartezeitmonat. Da der Kläger bereits voll erwerbsgemindert gewesen sei, bevor er die allgemeine Wartezeit erfüllt habe, müsse er eine Wartezeit von 240 Monaten gemäß § 43 Abs. 6 i.V.m. § 50 Abs. 2 SGB VI zurückgelegt haben. Auf diese Wartezeit würden auch Zeiten angerechnet, die nach dem Eintritt der Erwerbsminderung lägen, nämlich u.a. Pflichtbeitragszeiten sowie Wartezeitmonate aus geringfügiger nichtversicherungspflichtiger Beschäftigung. Das Versicherungskonto des Klägers enthalte bis zum 19. März 2018 statt der erforderlichen 240 nur 87 Wartezeitmonate. Es fehlten somit noch 153 Monate. Dann solle der Kläger erneut einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung stellen.

 

Mit dem hiergegen am 20. April 2018 eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, es könne nicht richtig sein, dass man den Tag seiner Geburt zugrunde lege. Dass er eine Hirnleistungsminderung habe, habe er erst 2017 erfahren. Während der Schulzeit habe es immer geheißen, er habe eine Lernschwäche. Seit dem 2014 erlittenen Arbeitsunfall gehe es ihm viel schlechter. Er habe einige Maßnahmen absolviert sowie einige Jahre gearbeitet und dadurch die Wartezeit erfüllt. Jetzt heiße es trotzdem, ihm stehe keine Rente zu. Es könne nicht sein, dass man Menschen mit Problemen dieser Art einfach fallen lasse und nun zusehen könne, wie man daran kaputtgehe. Es sei ja wohl ein Witz zu sagen, noch 153 Monate, dann könne er nochmal Rente beantragen. Das seien ja nur noch knapp 13 Jahre.

 

Der Kläger übersandte der Beklagten aufforderungsentsprechend u.a. die Mitteilung der Sozialpädagogin W. vom 20. Juni 2017, wonach er - der Kläger - die Maßnahme zur Diagnose der Arbeitsmarktfähigkeit besonders betroffener behinderter Menschen (DIA-AM) am 16. Juni 2017 wegen Überforderung beendet habe. Für ihn - den Kläger - sei kein Betreuer bestellt. Die Betreuung „in gewissen Situationen“ übernähmen seine Eltern und später seine Geschwister.

 

Die Agentur für Arbeit M. übersandte der Beklagten im Rahmen des Widerspruchsverfahrens nach § 44a Abs. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II) im Auftrag des Jobcenters B. das Gutachten der  Dr. W. vom 1. November 2017, das diese nach Auswertung - nicht beigefügter Unterlagen - u.a. des Gutachtens des Berufspsychologischen Dienstes vom 5. Januar 2017 sowie der Beurteilung der erfolgten Maßnahme zur DIA-AM erstellt hatte. Insoweit wird auf Blatt 23 bis 26 sowie 27 bis 53 der Verwaltungsakte verwiesen. Dr. W. hatte ausgeführt, in den eingesehenen Beurteilungen werde das Bild eines vom Elternhaus sehr liebevoll begleiteten Jugendlichen gezeichnet, der bemüht sei, den Alltagsanforderungen gerecht zu werden. Dies gelinge mithilfe der Eltern, die auch die von dem Kläger gewünschte Verselbstständigung unterstützten, wobei sich herauskristallisiert habe, dass ein eigenständiges konkurrenzfähiges Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur auf Kosten der Gesundheit möglich sein werde. Bei guten Arbeitstugenden solle die Möglichkeit einer unterstützenden Beschäftigung bedacht werden. Der Kläger sei voraussichtlich auf Dauer täglich weniger als drei Stunden leistungsfähig.

 

Die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (im Weiteren: BG BAU) teilte der Beklagten auf Anfrage am 16. November 2018 mit, der Kläger erhalte aufgrund des Unfalls vom 29. August 2014 keine Verletztenrente. Gutachten lägen nicht vor und seien auch nicht angefordert worden. Wegen der von dort übersandten Unterlagen wird auf Blatt 27 bis 53 der Verwaltungsakte verwiesen.

 

Die Beklagte holte ferner den Befundbericht des Facharztes für Allgemeinmedizin G.  vom 25. November 2018 ein, der als Funktionseinschränkungen des Klägers eine ausgeprägte angeborene kognitive Leistungseinschränkung mitteilte, aufgrund derer dieser auch im Alter von nunmehr 29 Jahren auf die Hilfe und Anwesenheit der Mutter angewiesen sei, sowie eine ausgeprägte schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule mit sekundären Myogelosen nach dem Unfallereignis vom 29. August 2014. Beigefügt ist dem Bericht u.a. die Epikrise der A. Kliniken in G. über die stationäre Behandlung des Klägers vom 29. August bis zum 6. September 2014. Danach sei dem Kläger bei Arbeiten auf einer Baustelle eine Rüttelplatte in den Rücken gefallen. Als Diagnosen seien eine Abrissfraktur des Processus Spinosus des 7. Halswirbelkörpers, eine Rippenserienfraktur rechts 2. bis 5.  Rippe sowie eine Augenbrauenplatzwunde links gestellt worden. Aufgrund der bildgebenden Befunde habe eine konservative Behandlung der Verletzung erfolgen können. Mit einer Wiederaufnahme der Arbeit sei in etwa sechs Wochen zu rechnen, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im rentenberechtigenden Sinne sei nicht zu erwarten. 2016/2017 seien gehäuft Atemwegsinfekte aufgetreten, die jetzt als exogen-allergisches Asthma bronchiale deklariert worden seien.

 

Schließlich holte die Beklagte (die oben bereits erwähnten) Arbeitgeberauskünfte von K. vom 16. Januar/18. Februar 2019 ein und wies sodann den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 2019 als unbegründet zurück. Die im Widerspruchsverfahren eingeholten Berichte und Unterlagen ergäben keine Änderung der bereits getroffenen sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung.

 

Mit der hiergegen am 24. Juli 2017 beim Sozialgericht Magdeburg erhobenen Klage hat der Kläger die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung weiterverfolgt. Er sei in der Zeit vom 9. Mai 2011 bis zum 15. April 2016 als Bauhelfer vollschichtig erwerbstätig gewesen und habe in der Folgezeit bis zum 15. April 2017 Entgeltersatzleistungen der Bundesagentur für Arbeit erhalten und beziehe seitdem Leistungen nach dem SGB II. Daher habe er die allgemeine Wartezeit erfüllt. Er leide nach dem erlittenen Arbeitsunfall unter ständigen starken Schmerzen in der Wirbelsäule, welche sich bei Belastung verstärkten. Er sei auf die Einnahme von Schmerzmedikamenten angewiesen, um den Schmerz erträglich zu halten. Bei Belastung verspüre er eine deutliche Atemnot. Daher sei ihm eine körperliche Betätigung oder Arbeit nicht mehr möglich. Bedingt durch die bei ihm bestehenden Erkrankungen sei er nicht mehr in der Lage, einer Erwerbstätigkeit von mindestens sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen.

 

Das Sozialgericht hat einen Erörterungstermin durchgeführt und sodann die - oben erwähnten - sozialmedizinischen Unterlagen der Agentur für Arbeit M., insbesondere das psychologische Gutachten der Diplom-Psychologin H.  vom 5. Januar 2017 und die Beurteilung der erfolgten DIA-AM vom 16./21. Juni 2017, beigezogen sowie eine weitere Auskunft von K. vom 12. März 2021 eingeholt. Die Diplom-Psychologin H.  hat ausgeführt, beim Kläger lägen erhebliche kognitive und schulische Defizite aufgrund einer geistigen Behinderung vor. Der Kläger wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit mit den regulären Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes überfordert. An eine Eingliederung in einen geschützten Arbeitsbereich (WfbM) wäre zu denken, doch hierauf könne sich der Kläger gegenwärtig nicht ausreichend einlassen. Auch die Maßnahme zur DIA-AM schloss mit der Beurteilung ab, der Kläger benötige intensiv betreute Arbeitsbedingungen mit umfassenden Pausen und Rücksichtnahme auf sein individuelles Leistungsbild. Er weise ein geringes Arbeitstempo auf und benötige ausführliche, täglich wiederholende Erklärungen sowie einfach strukturierte Arbeitsaufträge. Den Anforderungen des Ersten Arbeitsmarktes sei er damit nicht gewachsen. Es werde die Integration in eine WfbM empfohlen. Der Kläger habe seine arbeitsrelevanten Einschränkungen sehr präzise reflektieren können. Er fühle sich genau zwischen WfbM und Erstem Arbeitsmarkt. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 110 bis 121 der Gerichtsakte Bezug genommen.

 

Schließlich hat Herr G. am 13. Juli 2021 medizinische Unterlagen übersandt, wegen derer auf Blatt 146 bis 157 der Gerichtsakte verwiesen wird.

 

Mit Gerichtsbescheid vom 20. Juli 2021 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Beklagte habe es zu Recht abgelehnt, dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren. Der Kläger erfülle bei seiner Antragstellung am 1. Februar 2018 nicht die allgemeinen und besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentenbewilligung. Es sei festzustellen, dass bei dem Kläger seit Geburt eine Erwerbsminderung bestehe. So habe bereits der behandelnde Hausarzt in seinem Bericht an die Beklagte ausgeführt, dass bei dem Kläger von einer Leistungseinschränkung seit Geburt auszugehen sei. Der Kläger habe einen Berufsabschluss aufgrund seiner kognitiven Leistungseinschränkungen nicht erreicht. Seine Tätigkeit bei K.  habe nur deswegen erfolgen können, da er zum einen nur mit einfachsten Hilfstätigkeiten beauftragt worden sei und im Übrigen auch diese Tätigkeiten nur unter Beaufsichtigung eines Facharbeiters, aber insbesondere seines Vaters, habe verrichten können. In Bewertung aller Umstände sei davon auszugehen, dass bei dem Kläger seit Geburt eine kognitive Leistungseinschränkung vorliege, welche dazu führe, dass dieser zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen sei, auch nur drei Stunden und mehr täglich ohne entsprechende Anleitung einer zumutbaren Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen. Unter Hinweis auf die zutreffenden Ausführungen der Beklagten fehlten dem Kläger bei Antragstellung im Februar 2018 noch 153 Wartezeitmonate.

 

Gegen den ihm am 3. August 2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 31. August 2021 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt und die Bewilligung von Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung weiterverfolgt. Zur Begründung hat er sein Vorbringen aus dem ersten Rechtszug wiederholt. Die bis zum Arbeitsunfall noch vorhandene körperliche Belastbarkeit für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei erst infolge des Arbeitsunfalls aufgehoben worden. Die vom Sozialgericht zitierten medizinischen Befunde bezögen sich auf den Gesundheitszustand nach dem Arbeitsunfall 2014. Auch die sozialmedizinische Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit sei erst 2017 erstellt worden. Demnach seien weitere Ermittlungen anzustellen und entsprechende Stellungnahmen zum Leistungsvermögen nach Beendigung der Schule im Jahr 2006 beizuziehen.

 

Der Kläger beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 20. Juli 2021 und den Bescheid der Beklagten vom 19. März 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Juni 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. Februar 2018 zu bewilligen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 20. Juli 2021 zurückzuweisen.

 

Sie hält den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts und ihren Bescheid für rechtmäßig. Die Beklagte hat zudem auf die ärztliche Stellungnahme der Beratungsärztin Dr. G. vom 10. Dezember 2021 verwiesen. Danach habe der Kläger bereits in den frühen Kindheitstagen Auffälligkeiten auf kognitiver Ebene gezeigt, sodass eine geistige Behinderung diagnostiziert worden sei. Infolge fehlender Erkrankungen im Säuglings- und frühen Kindesalter, die für solche Defektzustände verantwortlich sein könnten, sei diese regulär mit dem Geburtstermin assoziiert worden. Nachfolgend sei ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt worden und die Beschulung in einer spezifisch darauf ausgerichteten Einrichtung für geistig Behinderte erfolgt. Aufgrund der deutlichen intellektuelleren Limitation seien ausschließlich Tätigkeiten unter ständiger Anleitung ohne höhergradige Anspruchsleistungen möglich gewesen.

 

Aufforderungsentsprechend hat die Beklagte den Versicherungsverlauf vom 29. April 2022 vorgelegt. Insoweit wird auf Blatt 214 der Gerichtsakte verwiesen.

 

Auf Anforderung durch den Senat hat der Kläger Unterlagen zu seinem schulischen und beruflichen Werdegang sowie zu dem sonderpädagogischen Förderbedarf vorgelegt. Ausweislich der Epikrise des Kinderzentrums M. vom 2. Februar 1999 sind darin als Diagnosen eine leichte Intelligenzminderung sowie eine ausgeprägte visuelle Wahrnehmungsschwäche gestellt worden. Die Eltern hätten den Kläger 1996 wegen motorischer Probleme und 1998 mit Schulleistungsproblemen vorgestellt. 1997 sei es aufgrund erkennbarer chronisch-schulischer Überforderung, zunehmender Misserfolgserlebnisse und deutlich erkennbarer Demotivation zu einer sonderpädagogischen Überprüfung und der Übernahme in den Sonderschulbereich mit gleichzeitiger Wiederholung der zweiten Klasse gekommen. Nach wie vor gebe es sehr große Probleme, besonders im Fach Mathematik; zudem könne sich der Kläger nur kurzzeitig im Unterricht konzentrieren. In der Zusammenfassung wird der Kläger als ein freundlicher, kooperativer Junge mit deutlich eingeschränkten intellektuellen Leistungsvoraussetzungen (Grenzbereich zwischen Lernbehinderung und leichter Intelligenzminderung) beschrieben. Überdies liege eine ausgeprägte Teilleistungsstörung im Bereich der optischen Differenzierungsfähigkeit und der räumlich-konstruktiven Funktionen vor. Der Kläger benötige ein gezieltes Förderangebot. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Blatt 233 bis 254 der Gerichtsakte Bezug genommen.

 

Mit dem gerichtlichen Schreiben vom 23. Dezember 2022 ist der Kläger darauf hingewiesen worden, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg biete und das Berufungsverfahren keine Gesichtspunkte aufgezeigt habe, die einen Rentenanspruch begründen könnten.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§§ 153 Abs. 1, 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Dem Kläger steht ein Anspruch auf Bewilligung von Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nicht zu.

 

Nach § 43 Abs. 1 S. 1 bzw. Abs. 2 S. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie

 

1.

 

teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind,

 

2.

 

in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und

 

3.

 

vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

 

Nach dem Ergebnis der Ermittlungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren ist der Kläger zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen, mindestens drei Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Bereits 1998 wurde bei ihm ein sonderpädagogischer Hilfebedarf festgestellt, der zur Beschulung in einer Sonderschule für geistig Behinderte führte. Aufgrund der Intelligenzminderung und der ausgeprägten visuellen Wahrnehmungsschwäche war es ihm nicht möglich, Lesen und Schreiben in ausreichendem Umfang zu erlernen. Die Fähigkeiten der Rechtschreibung blieben so gering ausgeprägt, dass von ihm geschriebene Wörter sehr stark fehlerbehaftet blieben und es ihm selbst nur gelang, kurze Sätze und einfache Texte zu erlesen. Die mathematischen Kenntnisse beschränkten sich auf die Addition, Subtraktion und Multiplikation im Zahlenraum bis 20, teilweise unter Inanspruchnahme des Fingerzählens. Trotz entsprechender Bemühungen gelang es dem Kläger nicht, den Führerschein zu erreichen, da er den Straßenverkehr nicht ausreichend überblicken konnte. Aufgrund erheblicher Probleme hinsichtlich der Merkfähigkeit und der dauerhaften Umsetzung von gezeigten Aufgaben konnte er zu keinem Zeitpunkt ohne engmaschige Anleitung und Betreuung auch nur einfachste Aufgaben bewältigen. Mit der Unterstützung seiner Eltern, zu denen regelmäßige - überwiegend tägliche - Kontakte bestehen, ist es ihm nach seinen Angaben gelungen, in deren unmittelbarer Nähe eine eigene Wohnung zu bewohnen, selbstständig Wäsche zu waschen, zu kochen und öffentliche Verkehrsmittel auf ihm bekannten Strecken zu benutzen. In fremder Umgebung kann er sich nicht ohne Begleitung orientieren. Im Rahmen der seit Dezember 2017 verrichteten geringfügigen nicht versicherungspflichtigen Tätigkeit im Einzelhandel arbeitet der Kläger wöchentlich zwischen sechs bis max. elf Stunden und erledigt einfache Arbeiten.

 

Soweit der Kläger geltend macht, er habe die allgemeine Wartezeit vor Eintritt des Leistungsfalls der Erwerbsminderung erfüllt, da er von Mai 2011 bis April 2016 eine versicherungspflichtige Vollzeittätigkeit verrichtet habe, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn dies ist ihm nur möglich gewesen, weil der Arbeitgeber seine Tätigkeit unter ständiger Beaufsichtigung insbesondere durch den Vater, der dort als Polier arbeitet, gestattet hat. Aus den eingeholten Auskünften wird deutlich, dass dem Kläger ein eigenständiges unbeaufsichtigtes Arbeiten nicht möglich war. Gegenteiliges ergibt sich auch entgegen der Auffassung des Klägers nicht aus der vom Sozialgericht eingeholten ergänzenden Stellungnahme vom 12. März 2021. Denn auch dort ist ausgeführt, dass Tätigkeiten durch den Kläger „nach Anweisung ausgeführt“ worden sind und dies „zusammen mit einem Facharbeiter der Baustelle“. Die weitere Angabe, dies sei „bei der Zusammenarbeit mit Bauhelfern, die keine fachlich spezifische Ausbildung haben, normal“, führt zur Überzeugung des Senats nicht zu einer geänderten Gesamtbeurteilung. Der Senat legt vielmehr die Einschätzungen im psychologischen Gutachten vom 5. Januar 2017 und in der erfolgten DIA-AM von Juni 2017 zugrunde, wonach der Kläger intensiv betreute Arbeitsbedingungen mit umfassenden Pausen und Rücksichtnahme auf sein individuelles Leistungsbild bei geringem Arbeitstempo, ausführlichen, täglich wiederholenden Erklärungen und einfach strukturierten Arbeitsaufträgen benötige und den Anforderungen des Ersten Arbeitsmarktes nicht gewachsen sei. Der Kläger selbst hat im Rahmen der Maßnahme zur DIA-AM angegeben, ein langsames Arbeitstempo zu haben und viel Zeit zu benötigen, um seine Arbeit zu verrichten. Er brauche Ruhe bei der Arbeit und könne Zeitdruck nicht aushalten. Auch wenn diese Beurteilungen zeitlich nach dem erlittenen Arbeitsunfall vom 29. August 2014 verfasst worden sind, sind diese in Bezug auf die geistigen und mnestischen Anforderungen auch für die Zeit zumindest ab Februar 1999 maßgeblich. Denn eine Verschlimmerung der Defizite der geistigen und mnestischen Fähigkeiten seit dem Bericht des Kinderzentrums M. vom 2. Februar 1999 ist durch den Arbeitsunfall nicht eingetreten. Bei diesem ist ausschließlich eine Verletzung der Wirbelsäule, der Rippen und der Augenbraue links, jedoch keine Hirnverletzung eingetreten, die Auswirkungen auf die geistige und/oder mnestische Leistungsfähigkeit hätte haben können.

 

Soweit der Kläger im Berufungsverfahren vorträgt, sein Leistungsvermögen sei maßgeblich durch die Folgen des Arbeitsunfalls beeinträchtigt, wird dies durch das Ergebnis der medizinischen Ermittlungen nicht bestätigt. Vielmehr ist der Arbeitsunfall nach den von der BG BAU übersandten Unterlagen innerhalb von sechs Wochen folgenlos ausgeheilt, ohne dass weiterhin Arbeitsunfähigkeit bestanden hätte und eine andauernde Minderung der Erwerbsfähigkeit erwartet worden sei. Nachfolgend sind auch keine Gutachten zu den Unfallfolgen notwendig geworden. Insoweit besteht nach den medizinischen Unterlagen seit 1999 gleichbleibend ein aufgehobenes Leistungsvermögen. Vor diesem Hintergrund ist unmaßgeblich, ob inzwischen - wie sich aus dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Befundbericht des Hausarztes G.vom 25. November 2018 und den Angaben des Klägers und seiner Mutter im Termin zur mündlichen Verhandlung beim Senat - anhaltende Rückenschmerzen mit Belastungsminderung und Asthma mit Luftnot hinzugetreten sind und sich das Leistungsvermögen auch in körperlicher Hinsicht weiter verschlechtert hat.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.

Rechtskraft
Aus
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