Der Bescheid der Beklagten vom 17.02.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2019 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung bei Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes befristet vom 01.06.2020 bis 31.05.2023 im gesetzlichen Umfang zu gewähren.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte trägt ¾ der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Streitig ist eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1994 geborene Kläger beantragte am 29.11.2019 bei der Beklagten eine Erwerbsminderungsrente. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 17.02.2020 zurückgewiesen, da der Kläger die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen in Gestalt der Mindestversicherungszeit nicht erfülle. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 17.03.2020 Widerspruch erhoben, der mit Widerspruchsbescheid vom 17.09.2020 zurückgewiesen wurde. Hiergegen richtet sich die am 16.10.2020 erhobene Klage.
Aufgrund einer molekulargenetisch gesicherten progressiven Muskeldystrophie Typ Duchene (ICD 10 G 71.0 ) ist der Kläger auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. Aufgrund der mit zentralnervösen Funktionsstörungen verbundenen körperlichen Einschränkungen und reduzierten Belastbarkeit ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung erwerbsgemindert ist. Ferner ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass bei Zugrundelegung eines Leistungsfalls zum Zeitpunkt der Antragstellung die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vorlagen. Ergänzend wird wegen der Einzelheiten auf den Versicherungsverlauf Blatt 337 ff der Akte verwiesen.
Die Beklagte begründet die Ablehnung damit, dass der Kläger bereits ab dem 11. März 2013 dauerhaft voll erwerbsgemindert sei und unter Zugrundelegung dieses Zeitpunktes des Leistungsfalls die erforderlichen Mindestversicherungszeiten nicht erfüllt sind.
Dieser Auffassung der Beklagten tritt der Kläger unter Berufung auf Gutachten nach Aktenlage der Bundesagentur für Arbeit vom 09.09.2015 und 07.11.2019 entgegen. Das Gutachten vom 09.09.2015 bescheinigt dem Kläger eine vollschichtige Leistungsfähigkeit von 6 Stunden und mehr für den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die beabsichtigte Absolvierung einer theoriereduzierten Ausbildung zur Bürokraft im Rahmen einer Jugendberufsförderungsmaßnahme wird in diesem Gutachten befürwortet, da der Kläger dafür über eine ausreichende Leistungsfähigkeit verfüge. Der Kläger absolvierte im Zeitraum vom 01.09.2015 bis 04.07.2019 erfolgreich eine überbetriebliche Ausbildung als Facharbeiter für Bürokommunikation an der W Schule E mit der Gesamtnote von 2,3. Die Prüfung der IHK zum Fachpraktiker für Bürokommunikation wurde mit ausreichend bestanden. Das Gutachten der Bundesagentur für Arbeit vom 07.11.2019 stellte ein Leistungsvermögen von nur noch 3 bis unter 6 Stunden, ohne hohe Anforderungen an das Konzentrations- oder Reaktionsvermögen, an das Umstellungs- und Anpassungsvermögen, ohne hohe Verantwortung, ohne Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten, ohne hohe körperliche Belastung, Nachtschicht, unregelmäßige Arbeitszeit oder lange Anfahrtswege fest. Aufgrund der schwerwiegenden Leistungseinschränkungen wird die Teilhabe am Arbeitsleben befürwortet, da bei einem entsprechend mit Hilfsmitteln ausgestatteten Arbeitsplatz ein teilzeitiges Leistungsvermögen im Bürobereich gegeben sei.
Von Klägerseite wird zusätzlich vorgetragen, dass ein vollständiges Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr während der Zeit der Absolvierung der Berufsausbildung auch dadurch dokumentiert sei, dass die Ausbildung werktäglich in der Zeit von 8 bis 15 Uhr einschließlich einer normalen Mittagspause erfolgte, der Kläger diese Ausbildung ohne Integrationshelfer absolviert hat und ihm während dieser Zeit im Rahmen der internatsmäßigen Unterbringung eine weitgehend selbstständige Lebensgestaltung möglich war.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom17.02.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung, ab Antragstellung im gesetzlichen Umfang zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte verweist auf ihre Bescheide. Ergänzend wird vorgetragen: Zwar sei die Beklagte in Übereinstimmung mit dem Gutachten der Bundesagentur für Arbeit der Auffassung, dass zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung ein Leistungsvermögen von 3 bis 6 Stunden vorliege. Dieses reduzierte Leistungsvermögen habe aber bereits 2013 vorgelegen. Da der Kläger keinen Teilzeitarbeitsplatz innegehabt habe, sei der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung schon zu diesem Zeitpunkt eingetreten und deshalb seien auch die durch die Ausbildung erworbenen rentenrechtlichen Zeiten nicht zu berücksichtigen.
Das Gericht hat Befundberichte von T und S beigezogen.
Dem Gericht liegen ferner umfangreiche Unterlagen vor, die von Klägerseite vorgelegt wurden (Befunde über ergotherapeutische Behandlung, Befunde, Arztbriefe).
Die Beteiligten haben sich mit Schriftsätzen vom 27.10.2022 und 03.11.2022 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozess- und Beklagtenakten verwiesen, die der Kammer bei der Beratung und Entscheidung vorlagen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig.
Sie ist auch überwiegend begründet, denn die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bei Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes.
Nach § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze
Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1. erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs.1 S 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens 3 bis unter 6 Stunden erwerbstätig sein kann und er damit nach dem Wortlaut des § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ohne Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage an sich nur teilweise erwerbsgemindert ist, ihm aber der Teilzeitarbeitsmarkt tatsächlich verschlossen ist (sog. konkrete Betrachtungsweise, vgl. etwa BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R –, juris Rdnr. 24).
Die Kammer konnte auf der Grundlage des Gutachtens der Bundesagentur für Arbeit vom 07.11.2019 zur vollen richterlichen Überzeugung gelangen, dass die Leistungsfähigkeit des Klägers auf das dort beschriebene Maß beschränkt ist. Diese Auffassung wird von der Beklagten und ihrem sozialmedizinischen Dienst geteilt, auch die Klägerseite beruft sich auf dieses Gutachten und hält es für zutreffend. Aus den beigezogenen Befundberichten und den weiteren vorgelegten Unterlagen ergeben sich keine Hinweise auf eine abweichende Leistungseinschätzung, so dass die Kammer diesbezüglich von weiteren Ermittlungen abgesehen hat. Da der Kläger keinen Teilzeitarbeitsplatz innehat, ist der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung eingetreten.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sind bei der Festlegung dieses Leistungszeitpunktes erfüllt, insbesondere ist die allgemeine Wartezeit gemäß § 53 Abs.2 S.1 SGB VI erfüllt, da der Leistungsfall vor Ablauf von 6 Jahren nach Absolvierung einer Ausbildung eingetreten ist.
Soweit die Beklagte schon im Jahr 2013 den Leistungsfall für eingetreten hält, folgt dem die Kammer nicht. Die Kammer sieht es nicht als erwiesen an, dass schon zu diesem Zeitpunkt das Leistungsvermögen auf unter 6 Stunden abgesunken ist. Die Beklagte verweist insoweit auf die Zuerkennung der Pflegestufe II seit diesem Zeitpunkt. Das zugrundeliegende Pflegegutachten vom 26.10.2015 stellt zwar eine zusätzliche Erkenntnisquelle dar (SG Nordhausen, Urteil vom 29. November 2018 – S 20 R 1954/17 –, Rn. 43, juris), ist als solches - auch da es mit einer anderen Zielrichtung erhoben wurde - allein nicht geeignet ist, den Vollbeweis einer Erwerbsminderung zu erbringen (vgl. z.B. Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 10. März 2011 – L 3 R 42/07 –, Rn. 40, juris).
Die daraus von der Beklagten abgeleitete Bewertung steht nicht in Übereinstimmung mit der Auffassung des ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2015. Die Kammer hält die Einschätzung des Gutachtens nach Aktenlage vom 09.09.2015 für zutreffend, da der Kläger in der Folge durch Bewältigung der Anforderungen dieser Ausbildung, trotz seiner gravierenden Einschränkungen eine Leistungsfähigkeit über einen mehr als 6 stündigen Zeitraum täglich gezeigt hat, der den Anforderungen eines leidensgerechten Arbeitsplatzes des allgemeinen Arbeitsmarktes vergleichbar ist. Das Vorbringen der Klägers, dass ein vollständiges Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr während der Zeit der Absolvierung der Berufsausbildung auch dadurch dokumentiert sei, dass die Ausbildung werktäglich in der Zeit von 8 bis 15 Uhr einschließlich einer normalen Mittagspause erfolgte, der Kläger diese Ausbildung ohne Integrationshelfer absolviert hat und ihm während dieser Zeit im Rahmen der internatsmäßigen Unterbringung eine weitgehend selbstständige Lebensgestaltung möglich war, wird im Übrigen auch durch das Pflegegutachten gestützt, als es keine erhebliche Einschränkung der Alltagskompetenz festgestellt hat.
Die Gegenansicht der Beklagten wird von ihr nicht weiter begründet, obwohl ihr diesbezüglich die Beweislast für diesen Umstand, der dem Anspruch des Klägers entgegen erhalten wird, obliegt. Die objektive Beweislast für den Zeitpunkt des Eintretens des Versicherungsfalles liegt grds. nach allgemeinen Grundsätzen bei demjenigen, für den der betreffende Zeitpunkt günstig ist. Daraus folgt, dass im Allgemeinen der Versicherte die objektive Beweislast dafür trägt, dass der Versicherungsfall zu einem Zeitpunkt eingetreten ist, zu dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt waren. Eine Ausnahme wird in der Rechtsprechung für den Fall angenommen, dass der Versicherte unzweifelhaft zu einem solchen Zeitpunkt erwerbsgemindert war, der Rentenversicherungsträger allerdings einen früheren Zeitpunkt als Versicherungsfall annimmt, zu dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch nicht erfüllt waren, der Versicherte jedoch noch einer Tätigkeit nachgegangen ist. Für diese Annahme trage der Rentenversicherungsträger die objektive Beweislast (Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 43 SGB VI (Stand: 01.04.2021), Rn. 323).
Die Kammer hält im Übrigen - auch unterstellt, das Leistungsvermögen des Klägers wäre schon 2013 dauerhaft auf unter 6 Stunden abgesunken, - die Rechtsauffassung, damit sei dauerhaft der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung eingetreten, für nicht zutreffend. Das richterrechtliche Institut der „Arbeitsmarktrente“ stellt eine Ausnahmevorschrift gegenüber der allgemeinen gesetzgeberischen Konzeption dar, die eine Zurückhaltung bei einer erweiternden Auslegung oder gar analogen Anwendung gebietet.
Der Umstand, dass das geltende Recht zwei Versicherungsfälle kennt, nämlich die teilweise und die volle Erwerbsminderung (vgl. dazu Rn. 315 ff.), führt dazu, dass die Drei-Fünftel-Belegung entsprechend getrennt zu prüfen ist. Auch wenn eine teilweise Erwerbsminderung zu einem Zeitpunkt bestanden hat, zu dem die Drei-Fünftel-Belegung noch nicht erfüllt war, können ihre Voraussetzungen für einen später eintretenden Versicherungsfall der vollen Erwerbsminderung noch erfüllt werden. Das kann z.B. durch die Ausübung einer angepassten Teilzeitbeschäftigung geschehen. (Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 43 SGB VI (Stand: 01.04.2021), Rn. 338).
Ausbildungszeiten – auch soweit sie in überbetrieblicher Form erfolgen - sind Beitragszeiten, die nach Auffassung der Kammer ähnlich zu bewerten sind wie Beitragszeiten aus abhängiger Beschäftigung. Deshalb hätte die Aufnahme der Ausbildung ebenso eine Unterbrechung des Leistungsfalls bewirkt wie eine zwischenzeitliche Besserung oder die Aufnahme einer Beschäftigung.
Die Klage ist, soweit über den Tenor hinaus ein Rentenbeginn ab Antragstellung begehrt wurde, abzuweisen.
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden gemäß § 102 SGB VI auf Zeit geleistet. Besteht Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente wegen der Arbeitsmarktlage, ist diese Rente stets nur befristet unabhängig von einer Besserungsprognose zu leisten. (Kador in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 102 SGB VI (Stand: 05.05.2021), Rn. 33) Befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden gemäß § 101 Abs 1. SGB VI nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.