L 6 VG 1623/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 1 VG 194/22
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 1623/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Es verbleibt beim Beweismaßstab des Vollbeweises auch wenn ein im Verwaltungsverfahren gehörter Zeuge sich im Klageverfahren auf sein Aussageverweigerungsrecht beruft.
2. Zeitnah zum angeschuldigten Ereignis erstellte ärztliche Befunde, insbesondere solche nach stationärer Behandlung, die keine Hinweise auf Gesundheitserstschäden aufgrund der behaupteten tätlichen Angriffe enthalten, sind ein starkes Indiz dafür, dass solche Gesundheitsschäden nicht eingetreten sind.

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 29. April 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) aufgrund behaupteter Übergriffe ihres am 29. Oktober 2005 verstorbenen Vaters seit ihrem sechsten Lebensjahr.

Sie ist 1982 geboren. Ab dem Schuljahr 1989/1990 hat sie die allgemeinbildende polytechnische Oberschule besucht und nach der 10. Klasse die Berufsschule. Nach Abschluss der mittleren Reife 2003 hat sie eine Ausbildung zur Bürokauffrau abgeschlossen und war seitdem in häufig wechselnden Anstellungsverhältnissen als Sachbearbeiterin tätig (vgl. Schulzeugnisse und Rehabilitationsentlassungsbericht A1 Gesundheitszentrum).

Am 20. November 2019 beantragte sie bei dem Landratsamt R2 (LRA) die Gewährung von Beschädigtenversorgung, welches den Antrag an das seinerzeit zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales B3 (nachfolgend einheitlich: Beklagter) abgab. Geltend gemacht wurde, dass sie von ihrem am 29. Oktober 2005 verstorbenen Vater regelmäßig Prügel, Schläge und Verletzungen zugefügt bekommen habe. Er habe sie sexuell belästigt und eingeschüchtert. In ihrer Freizeit habe er ihr nachgestellt und sie beobachtet. Er habe sie mit harten Gegenständen geschlagen. Eine Strafanzeige habe sie aus Angst vor noch mehr Gewalttaten nicht erstattet.

Mit dem Antrag legte die Klägerin den Entlassungsbericht des A1 Gesundheitszentrums L1 über die stationäre Rehabilitation vom 21. Mai bis 18. Juli 2016 vor. Darin wurden als Diagnosen eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), eine mittelgradige depressive Episode bei ängstlich vermeidender Persönlichkeitsakzentuierung und ein Gilles de la Tourette-Syndrom beschrieben. Dort gab die Klägerin an, schon seit ihrer Kindheit ein schlechtes Selbstwertgefühl zu haben, sie sei durch ihren Vater und andere Kinder eingeschüchtert gewesen. Der Schlaf sei gut, aber sie habe häufig Albträume, zum Beispiel über ihren Vater. Ihr Vater sei 2005 an Krebs verstorben, ihre Mutter habe in der Vergangenheit vermehrt Alkohol konsumiert.

Sie sei seit acht Jahren mit einem 43-jährigen Selbstständigen zusammen, in der Partnerschaft sei sie glücklich. Sie lebe mit ihrem Partner im Haus der Schwiegereltern, mit der Wohnsituation sei sie unzufrieden. Zu einer Freundin, der Mutter und dem Partner habe sie eine vertrauensvolle Beziehung. Sie verfüge über einen Freundeskreis, habe aber oft keine Lust wegzugehen. Sie verbringe die meiste Zeit zu Hause mit ihrem Partner oder auch mal mit Freunden. Manchmal gehe sie Fahrrad fahren. Als positive Ressourcen wurden eine stabile Partnerschaft und eine gute Beziehung zur Mutter beschrieben.

Die Symptomatik des Tourette-Syndroms sei erstmals im Alter von acht Jahren aufgetreten. Daraufhin habe das Mobbing durch die Mitschüler begonnen, weshalb sich die Klägerin sozial zurückgezogen habe. Im Alter von neun Jahren sei sie drei Monate und im Alter von 12 Jahren ebenfalls drei Monate in der Kinder- und Jugendpsychiatrie stationär wegen Ängsten und depressiven Symptomen behandelt worden. Die Klägerin sehe die Ursache ihrer Beschwerden in einem „Kindheitstrauma“, dem Tourette-Syndrom und ihrem geringen Selbstwertgefühl.

Die Klägerin habe die Beziehung zu ihren Eltern als schwierig beschrieben. Ihr Vater sei ein cholerischer, lauter und gewalttätiger Mensch gewesen, die Mutter fürsorglich und liebevoll. Es habe ständig körperliche Gewalt und gelegentlich sexuelle Übergriffe in der Familie gegeben. In der Kindheit und Jugend habe sie Schwierigkeiten mit Ängsten, Wutausbrüchen, Schüchternheit, Erröten, Bettnässen, Stammeln und Stottern gehabt, sei in der Schule ausgegrenzt und gehänselt worden. Es hätten Leistungsprobleme und Probleme mit der Aufmerksamkeit wie der Konzentration bestanden.

Das äußere Erscheinungsbild sei altersentsprechend und gepflegt. Im Kontakt sei die Klägerin freundlich und zugewandt. Sie sei bewusstseinsklar mit guter Orientierung zu allen Qualitäten. Die Sprache sei klar mit gutem Ausdrucksvermögen, subjektiv bestünden Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, die Konzentrationsstörungen seien im Aufnahmegespräch objektivierbar gewesen. Hinweise auf eine Störung der Gedächtnisleistung bestünden nicht. Das formale Denken sei geordnet, eine ausgeprägte Grübelneigung bestehe.

Die Klägerin sei in einem Elternhaus aufgewachsen, das von emotionaler, körperlicher und sexueller Gewalt geprägt gewesen sei. Sie habe keine verlässliche Bezugsperson gehabt, habe mit ihren Gefühlen alleine umgehen müssen und es sei keine Rücksicht auf ihre Wünsche und Bedürfnisse genommen worden. Der Vater habe häufig aufbrausend und mit körperlicher Gewalt reagiert, weshalb die Klägerin noch heute Flashbacks und große Angst davor habe, andere zu verärgern. Vor diesem Hintergrund sei die Symptomatik der PTBS und die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsakzentuierung zu sehen. Das Mobbing durch die Klassenkameraden wegen der Symptomatik des Tourette-Syndroms habe die selbstunsicheren Persönlichkeitsanteile verstärkt. Im Berufsleben gerate die Klägerin immer wieder in Angst, wenn sie bei anderen negative Gefühle wahrnehme und beziehe die Stimmung der anderen auf sich. Dadurch sei sie die meiste Zeit am Arbeitsplatz angespannt und in einer Alarmbereitschaft. Diese Dauerbelastung sei als Grundlage für die depressive Symptomatik zu sehen.

In den Einzelgesprächen habe sich die Klägerin von Beginn an offen, freundlich und kooperativ gezeigt. Thematisch hätten die Entwicklung der Symptomatik und die Differentialdiagnostik im Vordergrund gestanden. Die Klägerin habe berichtet, schon als Kind in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen zu sein. Auslöser seien die schwierige Situation im Elternhaus, die Symptomatik des Tourette-Syndroms und das Mobbing durch die Mitschüler gewesen. Diese hätten sie nachgemacht und gehänselt, sie habe sich daraufhin sozial zurückgezogen. Die stationären Aufenthalte seien schlimm für sie gewesen, es sei sehr streng und wenig mitfühlend zugegangen. In Folge der Belastungen seien dann die depressive Symptomatik, die Ängste und die Zwänge entstanden. Bei einer genaueren Exploration habe sich aber gezeigt, dass die Zwänge durch die ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsanteile und das Tourette-Syndrom erklärbar seien. Medikation werde keine eingenommen, es solle eine ambulante nervenärztliche und psychotherapeutische Weiterbehandlung erfolgen.

Auf die Anfrage des Beklagten teilte die Klägerin mit, dass ihr keine Vorgänge bei den Jugendämtern aus ihrer Kindheit bekannt seien.

Der Beklagte zog die Verwaltungsakte betreffend die Feststellung der Schwerbehinderung bei. Danach beantragte die Klägerin am 5. Mai 2004 erstmals die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB).

Der B1 beschrieb nach ambulanter Vorstellung der Klägerin vom 27. April 2000, dass kardial keine medikamentöse Therapie erforderlich sei. Es bestehe keine hämodynamisch bedeutsame Herzfehlbildung oder Störung der Herzfunktion. Die Hypertonie-Tendenz sei Ausdruck einer Reifungsverzögerung der Kreislaufregulation. Eine Indikation für eine invasive Diagnostik oder Therapie bestehe nicht.

Der H1 legte in seinem Befundschein vom 28. Juni 2004 dar, dass die Klägerin bereits als Kind (1995) wegen eines ausgeprägten Tourette-Syndroms in seiner Behandlung gestanden habe, was jetzt durch die Scheidung der Eltern nach vorübergehender Beruhigung wieder sehr viel stärker geworden sei. Es zeigten sich deutliche Zwangstendenzen und Kontrollzwänge, Zwangshandlungen sowie Selbstbeschädigungstendenzen vor dem Hintergrund starker Schuldgefühle im Bezug auf die Ehe der Eltern. Die Tourette-Erkrankung führe zu einem merklichen sozialen Rückzug.

M1 sah versorgungsärztlich ein stark ausgeprägtes Tourette-Syndrom mit motorischen und vokalen Tics, Zwangshandlungen und Selbstbeschädigungstendenzen. Die für die Umwelt auffälligen Verhaltensstörungen führten zu sozialem Rückzug. Mit Bescheid vom 14. September 2004 wurde ein GdB von 50 seit dem 6. Mai 2004 wegen eines Tourette-Syndroms festgestellt.

Im ersten Neufeststellungsverfahren gab der H1 in seinem Befundschein vom 11. Juni 2007 an, dass die Klägerin unter depressiven Verstimmungen, innerer Unruhe, Nervosität, Überforderungsgefühlen, Antriebslosigkeit und innerem Zittern leide. Es bestehe eine Tic-Erkrankung und der Verdacht auf eine Zwangserkrankung.

Die P1 beschrieb in ihrem Befundschein vom 11. November 2007 rezidivierende Harnwegsinfekte, eine akute psychische Dekompensation infolge einer Schwersterkrankung und Tod eines engen Familienmitgliedes sowie eine rezidivierende Halswirbelsäulen- (HWS)-Migräne.

Mit Bescheid vom 11. Januar 2008 wurde ein GdB von 60 seit dem 20. März 2007 festgestellt und mit weiterem Bescheid vom 3. Juni 2013 ein GdB von 70 seit dem 3. April 2013.

Der N1 führte in seinem Befundschein vom 9. November 2015 aus, dass bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung, eine Angststörung, eine PTBS, eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ sowie ein Tourette-Syndrom mit motorischen und vokalen Tics bestehe. Die Stimmung sei seit Jahresbeginn 2015 sehr schwankend und fast durchgehend depressiv ausgelenkt, der Antrieb herabgesetzt. Die Klägerin beschreibe Schlafstörungen und Angstzustände bis hin zu Panikattacken. Sie zeige autoaggressive Tendenzen und Verhaltensmuster mit Selbstverletzung. Die Therapie der Depression und Angststörung bestehe aus Venlafaxin, stützenden Gesprächen und ambulanter Psychotherapie. Die Behandlung des Tourette-Syndroms werde nicht medikamentös bestritten. Sie zeige ein erhöhtes Rückzugsverhalten, ihrer Berufstätigkeit könne sie nur mühsam und unter erhöhter Kraftanstrengung nachgehen.

R1 bewertete versorgungsärztlich das Tourette-Syndrom, die Depression, die PTBS und die Persönlichkeitsstörung mit einem Teil-GdB von 70 und die Bluthochdrucktendenz und die Herzfehlbildung mit einem Teil-GdB von 20.

Mit Bescheid vom 17. Dezember 2015 wurde ein GdB von 80 seit dem 15. Oktober 2015 festgestellt.

Der Beklagte hörte F1 K1 schriftlich als Zeugen an. Dieser beschrieb, mit der Klägerin von 2001 bis 2005 eine Beziehung geführt zu haben. Er habe deren Vater als ausgesprochen patriarchalische Persönlichkeit kennengelernt. Die Klägerin und ihre Mutter hätten sich anscheinend dessen Weisungen und Launen widerspruchslos untergeordnet. Im Verlauf der Beziehung habe er Schwankungen in der Ausprägung des Tourette-Syndroms feststellen können. Darauf angesprochen, habe die Klägerin ihm erstmals von den Misshandlungen durch ihren Vater berichtet, sie habe ihn mehrfach gebeten, sie – auch mitten in der Nacht – aus ihrem Zuhause abzuholen. Hierbei habe er den Vater wiederholt als hochgradig cholerisch und unkontrolliert erlebt. Er habe mehrfach körperliche Verletzungen der Klägerin gesehen, die ihr nach ihrer Aussage durch den Vater zugefügt worden seien. Die Einschaltung der Behörden schien aufgrund der zu erwartenden zeitverzögerten, halbherzigen Reaktion keine Option. Mit zunehmender räumlicher und zeitlicher Distanz sei es zu einer Stabilisierung gekommen, aber auch zu Phasen intensivster psychischer Anspannung.

Weiter zog der Beklagte den Entlassungsbericht des Krankenhauses B4 über den stationären Aufenthalt vom 2. bis 18. März 1994 bei. Danach seien erste Auffälligkeiten wie andauerndes Augenblinzeln und Naserümpfen bereits vor drei oder vier Jahren aufgetreten. Seit Dezember 1993 beobachteten die Eltern zunehmendes unwillkürliches Zucken oder Schütteln der Arme und des Kopfes, seit vier Wochen seien auch gelegentlich die Füße betroffen. Die Klägerin behalte während dieser Zuckungen das Bewusstsein und sei voll ansprechbar. Die Symptomatik nehme in Stresssituationen zu.

Die Klägerin habe unter stationären Bedingungen eine beeindruckende Tic-Symptomatik produziert, die nach Aussage der Eltern zu Hause noch massiver auftrete. Im EEG hätten sich keine eindeutigen epilepsiespezifischen Veränderungen gezeigt. Die Leistungsvoraussetzungen und intellektuellen Fähigkeiten der Klägerin seien begrenzt. Die derzeitigen schulischen Anforderungen bedeuteten einen enormen Leistungsdruck, dem sie sich nicht gewachsen fühle. Mit einer Zunahme der Symptomatik, erst Recht bei häufigeren schulischen Misserfolgserlebnissen, sei zu rechnen. Zur Zeit könne sie die hyperkinetischen Bewegungen außerhäuslich noch etwas unterdrücken, es sei jedoch zu befürchten, dass diese demnächst auch verstärkt in der Schule aufträten und die Klägerin dadurch in die soziale Isolation gerate. Eine persönlichkeitsorientierte Psychotherapie sei deshalb indiziert.

Der Entlassungsbericht des Krankenhauses B4 über die stationäre Behandlung vom 5. bis 6. Juli 1994 beschrieb die Klägerin als altersgerecht entwickelt in einem guten Allgemein- und leicht erhöhten Ernährungszustand. Der Langzeit-EKG-Befund habe im Altersnormbereich gelegen, die geringe Aortenstenose erfordere derzeit keinerlei therapeutische Konsequenzen.

Das Medizinische Versorgungszentrum B3, S1, teilte mit, dass die Patientenkartei der Klägerin geschlossen worden sei und keine Unterlagen mehr vorhanden seien. Ebenso gab der W1 an, von H1 zwar Patientenunterlagen erhalten, diese aber nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist vernichtet zu haben.

Mit Bescheid vom 26. Februar 2021 lehnte der Beklagte die Gewährung von Beschädigtenversorgung ab. Zu den Gewalterfahrungen fänden sich in den Befundberichten keine Konkretisierungen bzw. Präzisierungen von einzelnen erlittenen Gewaltdelikten nach Art und Weise, Ausmaß bzw. Häufigkeit. Es seien lediglich pauschale Angaben erfolgt. Auffälligkeiten, die durch äußere Gewalttätigkeiten hervorgerufen sein könnten, seien von den behandelnden Ärzten nicht beschrieben worden. Im Vordergrund habe das Tourette-Syndrom und die hieraus resultierende Begleitsymptomatik gestanden. Befundberichte aus der Kindheit seien nicht mehr beizubringen gewesen, in den Anträgen nach dem SGB IX seien als Ursache für die Gesundheitsstörungen keine erlittenen Gewalttätigkeiten angegeben worden. Die von H1 beschriebenen Selbstverletzungstendenzen sehe dieser im Zusammenhang mit Schuldgefühlen in Bezug auf die Ehe der Eltern. Der Vater solle an Thymuskrebs gelitten haben und in dessen Folge im Jahr 2005 verstorben sein. Die P1 erwähne eine psychische Dekompensation infolge der Schwersterkrankung und des Todesfalles eines engeren Familienmitglieds. Der gehörte Zeuge habe lediglich pauschale Angaben gemacht, es fehlten präzise Aussagen zu Art und Umfang der Misshandlungsformen. Es sei nicht beschrieben worden, um welche körperlichen Verletzungen es sich gehandelt habe. Nachdem Selbstverletzungstendenzen aufgrund von Schuldgefühlen bestanden hätten, sei nicht auszuschließen, dass die Verletzungen hierauf zurückzuführen seien. Bei dem Tourette-Syndrom handele es sich um eine angeborene Erkrankung des Nervensystems. Eine Verschlimmerung der Symptomatik wegen erlittener Gewalttätigkeiten sei aus keinem ärztlichen Befund zu entnehmen. Nachweise zu den Gewalttätigkeiten des Vaters seien nicht zu erbringen gewesen, das beschriebene schwierige Persönlichkeitsprofil des Vaters reiche hierzu nicht aus. Der Antrag sei nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast abzulehnen.

Gegen den Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch und legte ein Schreiben ihrer Schwester H3 (geboren 1980) vor. Danach habe der Vater schon als die Klägerin sechs Jahre alt gewesen sei, angefangen sie wegen banaler Dinge anzubrüllen. Als diese sich habe erklären wollen, sei er nur wütender und aggressiver geworden. Er habe ihrer Schwester mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Als sie versucht habe sich mit vorgehaltenen Händen zu schützen, habe er ihr den Hintern mit einem Hauslatschen versohlt. Er habe sie regelrecht verprügelt. Die Klägerin habe deutliche Abdrücke von der Hand im Gesicht gehabt, blaue Flecken an den Augen sowie Blessuren und Handabdrücke auf dem Hintern. In regelmäßigen Abständen, circa alle zwei Wochen, habe er nach Gründen gesucht, um seine unkontrollierten „Handlungen“ an der Klägerin auszulassen. Wenn sie ihm widersprochen habe, habe er sie angebrüllt und gleichzeitig ins Gesicht und auf den Oberkörper geschlagen. Für ein paar Tage sei danach wieder Ruhe eingekehrt. Der Vater habe sich ganz normal verhalten, habe aber zwischendurch immer wieder anzügliche und sexuell belästigende Verhaltensweisen wie das Begrabschen am Oberkörper ihrer Schwester gezeigt und habe diese im Bad beobachtet. Über 14 Jahre hätten sie all diese schlimmen Gewalttaten miterleben müssen. Der Vater sei ein gewalttätiger, cholerischer und unkontrollierter Mensch gewesen.

Weiter hat sie ein Attest des N1 vom 28. April 2021 vorgelegt. Danach habe ihm die Klägerin glaubhaft von früheren häuslichen Gewalttaten/Übergriffen berichtet. Darüber habe sie bislang weder ihm gegenüber noch im Rahmen der Psychotherapie reden können, aus Angst, dass es dadurch noch zu mehr Gewaltübergriffen komme. Von dieser Problematik habe er bislang noch nichts gewusst.

Auf Nachfrage des Beklagten teilte die Klägerin mit, dass die Ehescheidung der Eltern Ende 2004/Anfang 2005 stattgefunden habe, als sie selbst 22 Jahre alt gewesen sei. Sie habe von ihrer Geburt bis zur Ehescheidung der Eltern mit dem Vater in häuslicher Gemeinschaft gelebt, danach bei der Mutter. Der Vater sei am 29. Oktober 2005 verstorben, dessen Erkrankung wäre circa sieben bis acht Monate vorher diagnostiziert worden. Ihre Schwester sei ebenfalls Opfer von sexuellen Übergriffen und körperlichen Misshandlungen durch den Vater geworden. Ihre Mutter lebe noch in B3, sei als Zeugin aber nicht geeignet. Sie habe ihre Mutter auf die Geschehnisse erstmals angesprochen, als sie den Antrag nach dem OEG gestellt habe. Die Mutter habe sehr abwehrend bzw. höchst emotional reagiert. Offenbar habe diese die Geschehnisse verdrängt. Zudem hätten die Übergriffe und körperlichen Misshandlungen zumeist stattgefunden, wenn die Mutter nicht zu Hause oder stark alkoholisiert gewesen sei. Seit dem Gespräch habe kein persönlicher oder telefonischer Kontakt mehr bestanden. Von Seiten der Mutter sei daher keine glaubhafte Zeugenaussage zu erwarten. Die Zeugenaussage der Schwester und des Freundes sowie die eigenen Schilderungen seien hingegen geeignet, die Gewalttaten zu beweisen. Ergänzend wurden die Schulzeugnisse bis zum Jahr 2000 vorgelegt.

Weiter zog der Beklagte das Gesprächsprotokoll des N1 bei, aus dem sich ergab, dass die Klägerin 2021 bei ihm vorgesprochen und angegeben habe, Leistungen nach dem OEG wegen Gewalttaten in der Kindheit zu begehren. Sie habe das bisher nicht erzählen können, aus Angst vor einer Verschlimmerung.

Die Mutter der Klägerin H4 teilte mit, zunächst den Antrag ihrer Tochter einsehen zu wollen, bevor sie sich äußere. Auf den Datenschutzhinweis des Beklagten führte die Mutter aus, dass sie keine Stellungnahme abgeben wolle, wenn sie den Inhalt des Antrags nicht kenne.

Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium S2 – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 2022 zurück. Die vorgetragenen Übergriffe seien weiter nicht durch Zeugen nachgewiesen. Das Schreiben der Schwester sei erst im Widerspruchsverfahren vorgelegt worden und enthalte keine Angaben zu Ort, Zeit und den jeweiligen Tatumständen. Es sei zu beachten, dass das elterliche Züchtigungsrecht erst im Jahre 2000 abgeschafft worden sei. Aus dem von N1 angeforderten Gesprächsprotokoll ergäben sich ebenfalls keine konkreten Angaben zu den einzelnen Übergriffen. Die Klägerin habe angegeben, bei dem ärztlichen Termin vom 28. April 2021 nicht über die einzelnen Taten reden zu können, weil weitere Übergriffe befürchtet würden. Dies sei nicht nachvollziehbar, denn der Vater sei bereits 2005 verstorben. Die Mutter sei zu keiner Zeugenaussage bereit gewesen, nachdem eine Übermittlung des OEG-Antrages abgelehnt worden sei. Die Klägerin habe 2000 das 18. Lebensjahr vollendet, aber noch bis Ende 2004 oder Anfang 2005 bei dem Vater gelebt. Weshalb die häusliche Gemeinschaft nicht schon früher verlassen worden sei, sei ebenfalls nicht nachvollziehbar. Der Zeuge K1 habe nur von Verletzungen im Erwachsenenalter berichten können, die der Klägerin nach ihren Angaben von ihrem Vater zugefügt worden sein sollten. Die eigenen Angaben der Klägerin könnten nicht nach § 15 KoVVfG zu Grunde gelegt werden, weil die lediglich pauschalen Angaben hierfür nicht ausreichten.

Am 3. Februar 2022 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Die Übergriffe ihres Vaters seien nicht durch das bis 2000 geltende Züchtigungsrecht gedeckt gewesen. Sollte eine eidesstattliche Versicherung für erforderlich gehalten werden, werde um einen Hinweis gebeten. Weitere Beweismittel stünden nicht zur Verfügung, da die Schwester und die Mutter die Aussage verweigerten, es gelte daher ein abgesenkter Beweismaßstab. Ein früherer Auszug aus der Wohnung des Vaters vor 2005 sei ihr aus finanziellen Gründen und ihrer psychischen Erkrankung nicht möglich gewesen. Die Vermutungsregel besage, dass die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Tat, Schädigung und dem Auftreten von dauerhaften Störungen im Einzelfall vermutet werde, wenn die medizinischen Tatsachen dafür sprächen. In der Folge verschiebe sich die Beweislast auf die Behörde. Diese müsse, um die Vermutung zu widerlegen, beweisen, dass das Opfer bereits vorher erkrankt sei oder die Erkrankung eine andere Ursache habe als die Tat.

Weiter hat sie eine Schilderung vorgelegt, wonach sie im Alter von sechs Jahren von ihrem Vater gezwungen worden sei, ihr Mittagessen aufzuessen. Ihre Mutter habe versucht, die Situation zu beruhigen, sei von ihrem Vater aber zur Seite geschubst worden. Ihr Vater habe sie am Arm gepackt, sie zu Boden gerissen, sie mit der flachen Hand zuerst links und dann rechts ins Gesicht geschlagen und habe ihr dann den Hintern versohlt, bis er sich abreagiert habe. Ihr Gesicht sei knallrot gewesen und habe geglüht, sie sei auf dem Teppichboden in ihr Zimmer gekrochen und habe noch einen Tritt in den Hintern von ihm erhalten. Sie habe eine Stunde auf ihrem Zimmer bleiben und sich dann bei ihm entschuldigen sollen. In der Hoffnung, dass er sich wieder beruhige, habe sie sich bei ihm entschuldigt. Sie habe ihn fest umarmen und drücken müssen. Gleichzeitig habe er die Gelegenheit genutzt, ihren Hintern zu berühren und zu streicheln.

Die „gute Laune“ des Vaters habe etwa zwei Wochen angehalten. Dann habe er wieder einen neuen Grund gesucht, um sie zu verprügeln. Einige Tage später habe ihre Einschulung angestanden. Die Anziehsachen hätten ihr nicht gefallen, sie habe sich geweigert sie anzuziehen. Er habe ihr gedroht, sie windelweich zu prügeln. Ihr Vater habe dann mit dem Hausschuh auf ihre Beine eingeschlagen, sie habe sich in ihr Zimmer geflüchtet. Zwei Stunden später sei sie aus ihrem Zimmer geholt worden, um zur Einschulung zu gehen. Diese Szenarien hätten sich fast punktgenau alle zwei Wochen abgespielt. Je älter sie geworden sei, desto schlimmer habe es sich entwickelt.

Zwischen dem achten und neunten Lebensjahr habe ihr Vater sie gezwungen, ein Glas Karottensaft zu trinken. Sie habe stundenlang vor dem Glas gesessen und sich den Karottensaft heruntergezwungen, um nicht wieder verprügelt zu werden. Seit diesem Tag habe sie begonnen, ungewöhnlich oft mit den Augen zu blinzeln. Ihr Vater habe sich darüber lustig gemacht und ihre Mutter habe gemeint, dass sie zum Arzt gehen sollten, wenn es nicht besser werde.

Sie habe zunehmend Nervositätszustände entwickelt. Ihre Beine seien jedes Mal an das Stuhlbein gestoßen, wenn sie auf einem Stuhl gesessen habe. Sie seien zur B2 gegangen. Nach weiteren Untersuchungen sei das Tourette-Syndrom diagnostiziert worden. Ihr Vater habe die Krankheit nicht ernst genommen, sondern sich darüber lustig gemacht. Während der stationären Behandlungen habe sie den Ärzten die schlimme und nicht mehr auszuhaltende Familiensituation verschwiegen, da alles, was sie gesagt habe, dokumentiert worden sei und im Entlassungsbericht gestanden hätte. Nach ihrer Entlassung habe sich die häusliche Situation nicht geändert. Sie sei weiter schikaniert, kontrolliert, angebrüllt und geschlagen worden, man habe sie gezwungen Kleidung anzuziehen, die sie nicht habe anziehen wollen und ihre Mutter habe betrunken auf der Couch gelegen.

In der Schule sei sie wegen ihres Tourette-Syndroms unentwegt gemobbt worden, mit ihr habe keiner etwas zu tun haben wollen. Sie habe kein Selbstvertrauen gehabt, schlimme Angstzustände, Depressionen und Heulkrämpfe bekommen, sie habe sich mit Schweigen geschützt. Als sie ins Jugendalter gekommen sei, hätten die sexuellen Übergriffe ihres Vaters zugenommen. Er habe sie an Brust, Hintern und zwischen den Beinen begrabscht. Ihre blauen Flecke, Rötungen und Blessuren haben sie gut durch ihre Krankheit erklären können, da sie sehr stark unter Selbstverletzungen gelitten habe. Sie habe niemandem davon erzählt, dass sie regelmäßig verprügelt und sexuell belästigt worden sei. Sie habe gedacht, keiner werde ihr glauben, von ihrer Erkrankung habe aber jeder gewusst.

Mit ihrem Freund F1 sei sie circa fünf Jahre zusammen gewesen. Dieser habe die Spuren der Gewaltübergriffe gesehen und damit gedroht, ihren Vater anzuzeigen, wenn das nicht aufhörte. Sie habe Panik bekommen, da sie gewusst habe, was ihr zu Hause geblüht hätte. Sie hätten auch überlegt, für sie eine Wohnung zu finden. Sie sei aber noch in der Ausbildung gewesen und ihr Freund habe studiert. Sie habe weder das Geld, noch die Kraft gehabt. Hinzu sei die Angst gekommen, von ihrem Vater aufgespürt zu werden. Ihre Mutter habe sie nicht unterstützen wollen, da sie sonst mit dem Vater allein gewesen wäre. Ihre schulischen Leistungen seien darunter nicht verborgen geblieben. Für ihre schlechten Leistungen sei sie zur Rechenschaft gezogen worden. Die einzige Erlösung, die sie gefunden habe, sei der Tod des Vaters gewesen.

Weiter hat die Klägerin das Attest des N1 vom 9. Februar 2022 vorgelegt. Danach bestehe bei ihr eine depressive Störung, eine Angststörung, ein Tourette-Syndrom und eine PTBS. Bereits seit dem 9. Lebensjahr befinde sie sich in Behandlung, wobei von Anfang an Psychopharmaka verordnet worden seien. Daneben seien von Beginn an auch mehrere Psychotherapien wegen der Traumata in der Kindheit, der PTBS, dem Tourette-Syndrom und der Angststörung rezeptiert worden. Die Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit seien deutlich beeinträchtigt, die Klägerin müsse sich zu allem zwingen, es böten sich Symptome des Wiedererlebens. Manchmal könnten wichtige Aspekte des traumatischen Erlebens nicht mehr vollständig erinnert werden. Das Selbst- und Weltbild sei erschüttert und das Vertrauen in andere Menschen nachhaltig gestört. Die Klägerin zeige im Sinne von Zwangsgedanken auch autodestruktive Impulse, sich zu verletzen. Es bestünden multiple motorische und vokale Tics, wobei diese nicht notwendigerweise gleichzeitig auftreten müssten. In psychischer Hinsicht sei die Klägerin wach und allseits orientiert. Es bestünden keine formalen oder inhaltlichen Denkstörungen. Die Stimmung sei gedrückt, der Antrieb herabgesetzt, ohne Suizidalität. Außer Konzentrationsstörungen zeigten sich keine kognitiv-mnestischen Defizite. Die Therapie bestehe aus Escitalopram, stützenden Gesprächen und ambulanter Psychotherapie. Diverse andere medikamentöse Therapieversuche seien ohne Erfolg gewesen, der Berufstätigkeit könne nur mühsam und unter erhöhter Kraftanstrengung nachgegangen werden. Seit dem 7. April 2009 stehe die Klägerin regelmäßig in seiner Behandlung. Der Verlauf habe sich ausgesprochen wechselhaft gestaltet, eine länger anhaltende oder gar dauerhafte Remission sei nicht zu erreichen gewesen, auch nicht durch mehrere stationäre Behandlungen. Immer wieder sei es zu teils schweren Einbrüchen mit gedrückter Stimmung, Angstzuständen bis hin zu Suizidgedanken gekommen. Die Klägerin berichte glaubhaft von früheren häuslichen Gewalterfahrungen/Übergriffen. Es sei nachvollziehbar, plausibel und glaubhaft, dass die PTBS, die Angst und die Depression von den schweren Gewalttaten in der Kindheit herrührten. Darüber habe sie bis vor kurzem nicht reden können, aus Scham, Angst und der schmerzhaften Erinnerungen.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 29. April 2022 abgewiesen. Es sei denkbar und möglich, nicht aber erwiesen, dass die Klägerin Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe geworden sei. Es könne unterstellt werden, dass der Vater die Klägerin wiederholt ins Gesicht, auf den Oberkörper und den Po geschlagen habe. Ein rechtswidriger tätlicher Angriff folge hieraus nicht, da bis Anfang November 2000 ein elterliches Züchtigungsrecht bestanden habe. Der Zeuge K1 habe aus eigener Anschauung nichts zu berichten vermocht, die beschriebenen Selbstbeschädigungstendenzen der Klägerin müssten berücksichtigt werden. So habe der H1 solche vor dem Hintergrund starker Schuldgefühle in Bezug auf das Scheitern der elterlichen Ehe bereits im Befundbericht vom 28. Juni 2004 beschrieben.

Für die Kammer sei es darüber hinaus nicht naheliegend, dass die Klägerin über viele Jahre hinweg aufgrund der Misshandlungen beispielsweise blaue Flecke an den Augen erlitten habe, ohne dass ein Außenstehender mitbekommen habe solle, dass sie fortlaufend erheblichen bis massiven Körperverletzungen ausgesetzt gewesen sein solle. So habe keiner der Behandler jemals Anhaltspunkte für Gesundheitsstörungen gefunden oder Auffälligkeiten bemerkt, die auf körperliche Gewalteinwirkungen hindeuten würden. Des Weiteren sei zu keinem Zeitpunkt von schulischer Seite – die Zeugnisse mit individuellen Bemerkungen und Hinweisen hätten vorgelegen – beschrieben worden, dass die Klägerin Opfer körperlicher Übergriffe geworden sein könne.

Der aktuelle Vortrag der Klägerin, dass sie aus Scharm und familiärer Verbundenheit lange Zeit geschwiegen habe, dass sie das Leid über sich habe ergehen lassen, dass sie die Taten zum Selbstschutz verdrängt habe, dass sie nicht die Kraft gefunden habe, von den erfahrenen Gewalttaten zu berichten, sei zwar schlüssig und konsequent. Dies ändere aber nichts an der Tatsache, dass es die Klägerin sei, die zu beweisen habe, dass sie ab dem Jahr 1988 und damit erstmals vor rund 34 Jahren Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe geworden sei. Dieser Beweis sei nach Überzeugung der Kammer nicht geführt, nachdem es diese über Jahrzehnte hinweg unterlassen habe, sich zu artikulieren. Zwar habe auch die Zeugin H2 berichtet, dass die Klägerin exakt alle zwei Wochen geschlagen worden sei, ob diese Angaben glaubhaft seien, sei der Kammer verwehrt gewesen zu überprüfen, nachdem die Klägerin vorgetragen habe, dass die Zeugin ebenso wie die Mutter eine Aussage verweigere. Damit habe auch nicht geklärt werden können, ob die Klägerin Opfer sexueller Belästigungen und Übergriffe geworden sei. Dies sei zwar nicht ausgeschlossen, es verwundere aber, dass die Klägerin sexuelle Übergriffe über 14 Jahre lang und damit bis zu ihrem 20. Lebensjahr hingenommen und damit bis ins Erwachsenenalter hinein, wie auch die Schläge nach Wegfall des elterlichen Züchtigungsrechts im November 2000 erduldet haben solle, zumal auch insoweit zu keinem Zeitpunkt von ärztlicher Seite ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch geäußert worden sei. Zudem mute es merkwürdig an, dass es zu den Taten exakt alle zwei Wochen und nicht anlassbezogen gekommen sein solle, was bei einem 14jährigen Martyrium circa 360 vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffen entspräche. Daneben bleibe weitgehend im Dunkeln, mit welchen harten Gegenständen die Klägerin im Einzelnen bedroht und geschlagen worden sein solle.

Aus Sicht des Gerichts sei es naheliegend, dass die Klägerin nach einer Ursache für ihre schwere Erkrankung suche und diese monokausal in den körperlichen Übergriffen ihres Vaters gefunden zu haben scheine. Aber losgelöst davon, dass ein Tourette-Syndrom nach derzeitigem Erkenntnisstand in erster Linie genetisch bedingt sein dürfte, würden von der Klägerin erstmals während des Klageverfahrens und damit Jahrzehnte später Vorkommnisse nicht vage und pauschal, sondern präsent und detailliert geschildert, die vor allem ein indiskutables Elternhaus mit einer immer wieder betrunkenen Mutter und einem aggressiven Vater zeichneten.

Keine richtungsweisenden Erkenntnisse seien im Übrigen aus den Darlegungen des N1 ableitbar. Sofern man sein Attest isoliert lese, gewinne man unmittelbar den Eindruck, strafrechtlich relevante Übergriffe des Vaters seien seit langem bekannt und belegt. Tatsächlich verhalte es sich aber so, dass N1 in einem praxisinternen Vermerk festgehalten habe, dass die Klägerin ihm erstmals am 28. April 2021 von früheren häuslichen Gewalttaten und Übergriffen berichtet habe, über die sie bislang noch mit niemanden habe sprechen können. Es sei nicht nachvollziehbar, wie N1 in seinem Befundschein vom 9. November 2015 die Diagnose einer PTBS habe stellen können, wenn sich die Klägerin ihm nach seinem eigenen Bekunden erstmals im April 2021 anvertraut haben solle. Das A-Kriterium zur Diagnose einer PTBS habe er daher nicht prüfen können. Es spreche daher einiges dafür, dass die Diagnose nur übernommen worden sei, wobei auch aus den übrigen Unterlagen unklar bleibe, welches Geschehen jeweils die Diagnose rechtfertigen solle.

Nicht zu folgen sei der Klägerin soweit sie meine, die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Tat, Schädigung und dem Auftreten dauerhafter Störungen sei dann zu vermuten, wenn die medizinischen Tatsachen dafür sprächen. Eine derartige Beweisregel sei der Kammer zum einen nicht bekannt, zum anderen handele es sich bei einem Tourette-Syndrom nach derzeitigem medizinischen Erkenntnisstand um einen Gendefekt und nicht um die traumatische Folge körperlicher Übergriffe.

Nicht von Relevanz sei, dass mit Bescheid vom 17. Dezember 2015 im Schwerbehindertenrecht als weitere Behinderung eine PTBS anerkannt worden sei. Dem komme für den vorliegenden Rechtsstreit keine Bindungswirkung zu. Darüber hinaus habe dort nur die Schwere des Krankheitsbildes festgestellt werden müssen, aber kein Anlass bestanden, einzelne Diagnosen kritisch zu hinterfragen bzw. abzuklären.

Sei demnach ein Nachweis strafrechtlich relevanter Taten nicht erbracht, lasse sich auch nicht bestätigen, dass die Voraussetzungen des § 15 KOVVfG erfüllt seien. Unabhängig davon, ob die vorliegende Konstellation von der Norm überhaupt umfasst sei, könnten die Einlassungen der Klägerin nicht zur Glaubhaftmachung herangezogen werden. Denn zum einen seien diese bis zur Erhebung der Klage stets vage und pauschal geblieben, auch sei nicht auszuschließen, dass sich die erhobenen Vorwürfe bei schwerwiegender psychischer Grunderkrankung im Laufe der Jahrzehnte verklärt hätten. Zum anderen habe der Beweisnotstand zu Lasten der Klägerin zu gehen. Denn es sei kein objektiver Grund vorhanden gewesen, den Antrag auf Beschädigtenversorgung nicht zu einem früheren Zeitpunkt, spätestens mit dem Tod des Vaters im Jahre 2005 zu stellen, als noch deutlich bessere Beweismöglichkeiten vorhanden gewesen seien.

Am 2. Juni 2022 hat die Klägerin Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Gebe es keine Zeugen, weil der Täter unbekannt oder verstorben sei oder als Angehöriger die Aussage verweigere, gelte ein abgesenkter Beweismaßstab. Es müsse nur überwiegend wahrscheinlich sein, dass es sich so zugetragen habe. § 4 Abs. 5 Vierzehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XIV) zur Beweiserleichterung bei der Kausalitätsprüfung komme insbesondere Opfern von sexueller und psychischer Gewalt zugute. Die Vermutungsregel besage, dass die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Tat, Schädigung und dem Auftreten von dauerhaften Störungen im Einzelfall vermutet werde, wenn die medizinischen Tatsachen dafür sprächen. Dies sei vorliegend der Fall, wie aus der von ihr vorgelegten ärztlichen Bescheinigung folge. Das SG habe daher ein Gutachten einholen müssen. Eine Verschiebung der Beweislast auf die Behörde sei vorliegend vom SG nicht angenommen worden. Die Behörde müsse, um die Vermutung zu widerlegen, beweisen, dass das Opfer bereits vorher erkrankt gewesen sei oder die Erkrankung andere Ursachen habe als die Tat. Dies sei durch den Beklagten nicht erfolgt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 29. April 2022 sowie den Bescheid vom 26. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 2022 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr Beschädigtenversorgung, insbesondere Beschädigtengrundrente, aufgrund der Übergriffe ihres Vaters zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er verweist auf die angefochtene Entscheidung.

Der Senat hat die Verwaltungsakten betreffend die Feststellungen nach dem Schwerbehindertenrecht beigezogen.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.



Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.


Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 29. April 2022, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) auf Gewährung von Beschädigtenversorgung unter Aufhebung des Bescheides vom 26. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 10. Januar 2022 abgewiesen worden ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34.

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 26. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 2022 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Auch zur Überzeugung des Senats kann sie die Gewährung von Beschädigtenversorgung aufgrund der geltend gemachten Übergriffe durch ihren schon 2005 verstorbenen Vater nicht beanspruchen. Das SG hat die Klage deshalb zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen, weswegen der Senat auf die Entscheidungsgründe ergänzend nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug nimmt, denen er sich nach eigener Würdigung anschließt.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS - bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit <MdE> bezeichnet - nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VS 413/13 –, juris, Rz. 42; Dau, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 31 BVG, Rz. 2).

Für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG sind folgende rechtlichen Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 <208 ff.>):

Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. In Altfällen, also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und dem Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 (BGBl I S. 1181), müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG in Verbindung mit § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in diesem Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Eine Schwerbeschädigung liegt nach § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn ein GdS von mindestens 50 festgestellt ist.

Nach der Rechtsprechung des BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffes hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz. 23 ff.).

In Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Sinne von § 176, § 176a StGB hat das BSG den Begriff des tätlichen Angriffes noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Es ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also eine sexuelle Handlung, eine Straftat war (vgl. BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 17, Rz. 28 m. w. N.). Auch der „gewaltlose“ sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sein (vgl. BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 4/93 –, BSGE 77, 7, <8 f.> und – 9 RVg 7/93 –, BSGE 77, 11 <13>). Diese erweiternde Auslegung des Begriffes des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten.

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R –, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O.).

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

Bei dem „Glaubhafterscheinen“ im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8.
August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3 3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15). Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend – seit Juli 2004 – den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (Teil C, Nrn. 1 bis 3 der Anlage zu § 2 VersMedV; vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 17).

Nach diesen Maßstäben steht nicht im Vollbeweis fest, dass die Klägerin Opfer tätlicher rechtswidriger Angriffe ihres 2005, also vierzehn Jahre vor Antragstellung, verstorbenen Vaters geworden ist. Dieser Beweismaßstab ist vorliegend deshalb anzuwenden, weil die Schwester nach ihren Einlassungen Zeugin der Vorfälle gewesen sein will. Dass diese nach Angaben der Klägerin nunmehr zu keiner Aussage mehr bereit sein soll, ist nicht entscheidungserheblich, da ihre im Widerspruchsverfahren aktenkundig gewordenen Angaben im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]) zu verwerten sind. Nachdem keine Zweifel an der Aussagetüchtigkeit der Schwester bestehen und Anhaltspunkte hierfür von der Klägerin nicht aufgezeigt worden sind, war es nicht geboten, die Schwester erneut zu befragen, da es sich lediglich um eine wiederholte Beweiserhebung handeln würde.

Dass die Schwester selbst Opfer von Übergriffen des Vaters geworden wäre, wie die Klägerin behauptet, ist von dieser im Gegenteil nicht bestätigt worden. Darauf, dass es nicht nachvollziehbar ist, weshalb die Schwester der jüngeren Klägerin nicht wenigstens in fortgeschrittenem Lebensalter zur Hilfe gekommen ist, kommt es nicht entscheidungserheblich an.

Einer Befragung der Mutter der Klägerin bedurfte es, unabhängig von deren Aussagebereitschaft, schon deshalb nicht, da es an konsistenten Angaben der Klägerin dazu, was diese aus eigener Wahrnehmung schildern könnte, fehlt, es sich mithin um eine reine Ausforschung des Sachverhaltes handeln würde, die der Senat nicht vorzunehmen hat. Während die Klägerin nämlich zum einen behauptet, dass die Mutter bei den Übergriffen entweder nicht zu Hause oder betrunken gewesen sei, hat sie zum anderen geltend gemacht, dass die Mutter versucht habe, die Situation zwischen ihr und dem Vater zu besänftigen, also doch nicht nur anwesend gewesen zu sein scheint, sondern aktiv in das Geschehen eingegriffen zu haben. Letztlich ist den Schilderungen der Klägerin zu entnehmen, dass die Mutter die Vorgänge verdrängt haben soll und den Kontakt zu ihr abgebrochen hat, nachdem sie sie mit den Vorwürfen gegenüber dem verstorbenen Vater – Jahre später – konfrontiert hat.

Dass die Mutter die vermeintlichen Übergriffe mitbekommen und die Klägerin durch überhöhten Alkoholkonsum vernachlässigt haben soll, ist schon deshalb nicht glaubhaft, da die Klägerin nach eigenen Angaben mit dieser zusammen – im Alter von immerhin schon 22 Jahren – beim Vater ausgezogen ist und dem Rehabilitationsentlassungsbericht des
A1 Gesundheitszentrums zu entnehmen ist, dass ein gutes Verhältnis zu der Mutter bestanden hat, diese sogar als eine enge Bezugsperson beschrieben wurde.

Der vom Beklagten schriftlich gehörte Zeuge K1 – mit dem die Klägerin von 2001 bis 2005 eine Beziehung unterhielt – konnte aus eigener Anschauung keine Angaben zu den vermeintlichen Übergriffen des Vaters machen. Vielmehr hat er nur dessen Persönlichkeit aus seiner Sicht beschrieben und darauf hingewiesen, dass die Klägerin ihm geschildert habe, dass ihre Verletzungen ihr von ihrem Vater beigebracht worden seien. Insbesondere vor dem Hintergrund der bei der Klägerin mehrfach beschriebenen Selbstverletzungstendenzen entzieht sich dieses Vorbringen einer objektiven Nachprüfbarkeit. Dass es darüber hinaus an konkreten Angaben zu den Verletzungen selbst ebenso fehlt wie an einer ärztlichen Dokumentation derselben, kann dahinstehen. Daneben ist in Rechnung zu stellen, dass die Klägerin im Jahr 2001 bereits volljährig gewesen ist und es sich deshalb nicht erschließt, weshalb sie sich keine nachhaltigere Hilfe hat suchen oder das Haus hätte verlassen können.

Weder aus den Angaben der Klägerin selbst, noch aus denen der Schwester folgt indessen ein nach Sachverhalt, Ort und Tatzeit hinreichend konkretisiertes Geschehen (vgl. Senaturteil vom 6. Dezember 2018 – L 6 VG 2096/17 –, juris, Rz. 73). Vielmehr werden nur pauschale Zeiträume beginnend ab dem sechsten Lebensjahr der Klägerin und ein Zeitraum bis deutlich ins Erwachsenenalter hinein angegeben, ohne dass eine hinreichende Konkretisierung erfolgt ist. Hierauf kommt es vorliegend aber schon deshalb an, weil sich die Vorfälle ab dem sechsten Lebensjahr der Klägerin zugetragen haben sollen und damit beginnend ab dem Jahr 1988. Zu diesem Zeitpunkt war die Klägerin indessen im Beitrittsgebiet wohnhaft, was dadurch belegt ist, dass sie im Schuljahr 1989/1990 in die polytechnische Oberschule der Deutschen Demokratischen Republik eingeschult wurde. Dementsprechend kommt die Übergangsregelung des § 10a Abs. 2 Satz 1 OEG zur Anwendung, sodass der Entschädigungsanspruch für Taten vor dem 2. Oktober 1990 unter anderem voraussetzt, dass allein durch anzuerkennende Schädigungsfolgen die Schwerbeschädigteneigenschaft, also ein GdS von 50, erreicht wird, was bei der Klägerin zur Überzeugung des Senats nicht der Fall ist, sie vielmehr überhaupt keinen rentenberechtigenden GdS erreicht.


Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 begründen Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen in Form leichterer psychovegetativer oder psychischer Störungen einen GdB von 0 bis 20, stärkere Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 80 bis 100. Die funktionellen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung, insbesondere wenn es sich um eine affektive oder neurotische Störung nach F30.- oder F40.- ICD-10 GM handelt, manifestieren sich dabei im psychisch-emotionalen, körperlich-funktionellen und sozial-kommunikativen Bereich (vgl. Philipp, Vorschlag zur diagnoseunabhängigen Ermittlung der MdE bei unfallbedingten psychischen bzw. psychosomatischen Störungen, MedSach 6/2015, S. 255 ff.). Diese drei Leidensebenen hat auch das Bundessozialgericht in seiner Rechtsprechung angesprochen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Juli 2017 – B 9 V 12/17 B –, juris, Rz. 2). Dabei ist für die GdB-Bewertung, da diese die Einbußen in der Teilhabe am Leben in der (allgemeinen) Gesellschaft abbilden soll, vor allem die sozial-kommunikative Ebene maßgeblich (vgl. Senatsurteil vom 12. Januar 2017 – L 6 VH 2746/15 –, juris, Rz. 61). Bei dieser Beurteilung ist auch der Leidensdruck zu würdigen, dem sich der behinderte Mensch ausgesetzt sieht, denn eine „wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“ meint schon begrifflich eher Einschränkungen in der inneren Gefühlswelt, während Störungen im Umgang mit anderen Menschen eher unter den Begriff der „sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ fallen, der ebenfalls in den VG genannt ist. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztlicher oder der gleichgestellten (§§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 28 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Krankenversicherung) psychotherapeutischen Behandlung durch – bei gesetzlich Versicherten zugelassene – Psychologische Psychotherapeuten in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris, Rz. 42; vgl. auch LSG Baden- Württemberg, Urteil vom 17. Dezember – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).

Ausgehend von diesen Maßstäben hat der M1, dessen versorgungsärztliche Stellungnahme im Schwerbehindertenverfahren der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet, überzeugend herausgearbeitet, dass das stark ausgeprägte Tourette-Syndrom mit motorischen und vokalen Tics, Zwangshandlungen und Selbstbeschädigungstendenzen zu für die Umwelt auffälligen Verhaltensstörungen führt und es deshalb zu einem sozialen Rückzug kommt. Dementsprechend hat er das Tourette-Syndrom mit einem Teil-GdB von 50 bewertet und damit eine schädigungsunabhängige Ursache angenommen, worauf der Beklagte im angefochtenen Bescheid hingewiesen hat. Soweit die Klägerin meint, die Tourette-Symptomatik sei dadurch ausgelöst worden, dass ihr Vater sie zum Trinken von Karottensaft gezwungen habe, handelt es sich lediglich um ihre eigene medizinische Beurteilung, für die ihr die Fachkompetenz fehlt. Für diese Mutmaßung fehlt es an jeglichem medizinischen Befund, vielmehr hat der Beklagte im angefochtenen Bescheid bereits dargelegt, dass das Tourette-Syndrom eine anlagebedingte Erkrankung darstellt. Soweit der Beklagte im Rahmen der GdB-Feststellung im Verlauf den Gesamt-GdB angehoben hat, beruhte dies zum einen darauf, dass eine Bluthochdruck-Tendenz und eine Herzfehlbildung (Teil-GdB 20) als Funktionsbeeinträchtigungen anerkannt worden sind und zudem die versorgungsärztlich als depressive Störung und PTBS eingeordneten Funktionsstörungen – ohne Prüfung der Ursachen – mit einer Erhöhung des Teil-GdB im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ um 20 bewertet worden sind (vgl. die versorgungsärztliche Stellungnahme des R1), sodass hierdurch – isoliert betrachtet – weder die Schwerbeschädigteneigenschaft erreicht wird, noch ein GdS von wenigstens 25, der rentenberechtigend sein könnte. In diesem Zusammenhang ist in Rechnung zu stellen, dass sich dem Entlassungsbericht des A1-Gesundheitszentrums deutlich entnehmen lässt, dass die genaue Exploration die Einschätzung der Klägerin, dass durch die stationären Aufenthalte während der Kindheit zu der depressiven Symptomatik, den Ängsten und Zwängen geführt habe, bereits seinerzeit widerlegt werden konnte. Es zeigte sich vielmehr, dass die Zwänge durch die ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsanteile und das Tourette-Syndrom erklärbar waren, mithin schädigungsunabhängige Ursachen hatten. Ebenso hat H1 in seinem Befundschein aus 2004 einen sozialen Rückzug aufgrund der Tourette-Erkrankung gesehen.

Selbst wenn zu Gunsten der Klägerin vom Beweismaßstab der Glaubhaftmachung (vgl. oben) ausgegangen wird, ergibt sich nichts anderes, nachdem nicht mehr als eine entfernte Möglichkeit besteht, dass diese Opfer tätlicher rechtswidriger Angriffe durch ihren Vater geworden ist.

Soweit die Klägerin pauschal behauptet, von ihrem Vater geschlagen worden zu sein, gilt dies schon deshalb, weil maßgeblich für die vorliegende rechtliche Bewertung das zum Tatzeitpunkt geltende Recht ist (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R – SozR 4-3800 § 1 Nr. 18). Der Senat ist daher an die bis November 2000 – und damit über die Volljährigkeit der 1982 geborenen Klägerin hinausgehende – bestehende Rechtslage gebunden und hat sie bei seiner Beurteilung eines bis zu diesem Zeitpunkt geschehenen Angriffs heranzuziehen.

Zum Zeitpunkt der vorliegend in erster Linie angeschuldigten Taten verblieb Eltern wie Erziehungsberechtigten bei der Erziehung von Kindern nach der damaligen Rechtslage (und Gesellschaftsauffassung) eine Befugnis zur maßvollen körperlichen Züchtigung. Sogar die Verwendung von Schlaggegenständen erfüllte nach den damaligen Maßstäben nicht zwingend das Merkmal einer verbotenen und damit ggfs. als Körperverletzung strafbaren Erziehungsmaßnahme. Zu Erziehungszwecken erlaubte Schläge von strafbaren Körperverletzungen abzugrenzen, erforderte vielmehr eine Würdigung der objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls, die Anlass, Ausmaß und Zweck der Bestrafung berücksichtigte. So urteilte der Bundesgerichtshof im Jahr 1952, dass Eltern, die ihre sechzehnjährige „sittlich verdorbene“ Tochter durch Kurzschneiden der Haare und Festbinden an Bett und Stuhl bestraften, nicht das elterliche Züchtigungsrecht überschritten (vgl. Bundesgerichtshof [BGH], Urteil vom 25. September 1952 – 3 StR 742/51NJW 1953, 1440). 1957 führte der BGH aus, dass Ohrfeigen und Rohrstockschläge eines Lehrers nicht strafbar seien, wenn der Lehrer zur Züchtigung rechtlich befugt sei und sich innerhalb der Grenzen dieser Befugnis halte (vgl. BGH, Urteil vom 23. Oktober 1957 – 2 StR 458/56BGHSt 11, 241). Und noch im Jahr 1986 sah der BGH nicht per se das elterliche Züchtigungsrecht als überschritten an, als Eltern ihr Kind mit einem 1,4 cm starken und in sich stabilen Wasserschlauch auf Gesäß und Oberschenkel geschlagen hatten, wobei jeweils rote Striemen entstanden waren. Vielmehr forderte der BGH auch in diesem Fall eine Würdigung aller objektiven und subjektiven Umstände des Tatgeschehens und erkannte ausdrücklich, dass allein die Verwendung eines Schlaggegenstandes noch nicht das Merkmal der „entwürdigenden Erziehungsmaßnahme“ erfülle (vgl. BGH, Beschluss vom 25. November 1986 – 4 StR 605/86NStZ 1987, 173). Bis zur Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts im November 2000 können elterliche Schläge deshalb nicht grundsätzlich als „rechtswidrig“ eingestuft werden. Notwendig ist vielmehr die Abgrenzung zur maßvollen körperlichen Züchtigung und eine Würdigung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls, die Anlass, Ausmaß und Zweck der Bestrafung berücksichtigen (vgl. Senatsurteil vom 26. Februar 2015 – L 6 VG 1832/12 –, juris, Rz. 47 ff.).

Anhaltspunkte dafür, dass der Vater das elterliche Züchtigungsrecht überschritten hat, lassen sich den pauschalen Angaben der Klägerin nicht entnehmen. Vielmehr wird aus ihrem Vorbringen deutlich, dass die behaupteten Schläge im Zusammenhang damit gestanden haben sollen, dass sie ihr Essen nicht habe aufessen oder die ihr hingelegte Kleidung nicht habe anziehen wollen, mithin der erzieherische Kontext gegeben gewesen, auch wenn die Reaktion hierauf nach heutigen Maßstäben rechtlich nicht mehr zulässig wäre. Die möglicherweise schwierige Persönlichkeit des Vaters allein ist ebenso wenig geeignet Entschädigungsansprüche auszulösen, wie der Umstand, dass die Klägerin Kleidung hat tragen müssen, die ihr nicht gefiel.

Unabhängig davon ist es unglaubhaft, dass die Klägerin regelmäßig alle vierzehn Tage, über die Volljährigkeit hinaus, von ihrem Vater – auch mit Schlägen ins Gesicht – verprügelt worden sein soll, ohne dass dies in der Schule aufgefallen wäre oder körperliche Folgen ärztlich festgestellt worden wären. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Schwester behauptet hat, dass die Klägerin Hämatome an den Augen davongetragen habe. Dem im Wege des Urkundsbeweises zu verwertenden Entlassungsbericht des Krankenhauses B. über die stationäre Behandlung vom 2. bis 18. März 1994 entnimmt der Senat nämlich, dass die Klägerin als leicht adipös in gutem Allgemeinzustand beschrieben worden ist, mithin keinerlei Auffälligkeiten befundet wurden, die auf regelmäßige gewalttätige Übergriffe hätten schließen lassen. Zum Aufnahmezeitpunkt ist die Klägerin bereits 11 ½ Jahre alt gewesen, also ausgehend von ihren Angaben schon gut fünf Jahre den gewalttätigen Übergriffen des Vaters – mit Schlägen ins Gesicht und auf den Oberkörper – ausgesetzt gewesen. Sichtbare Spuren von Misshandlungen sind dem Bericht indessen keine zu entnehmen, auch ist die Klägerin in die häusliche Umgebung entlassen worden, sodass sich offensichtlich keinerlei Hinweise für eine Gefährdung des Kindeswohls ergaben. Passend hierzu hat die Klägerin auf Nachfrage des Beklagten angegeben, dass ihr keine Vorgänge beim Jugendamt in ihrer Kindheit bekannt seien, also auch von anderer Seite, wie beispielsweise der Schule, keine Anhaltspunkte gesehen worden sind.

Dass die aufgetretene Tourette-Symptomatik schon im Alter von acht bis neun Jahren zu einer Mobbing-Situation in der Schule geführt hat und sie gehänselt und ausgegrenzt wurde, wie die Klägerin glauben machen will, wird durch die Schulzeugnisse nicht gestützt. So ist im Zeugnis über das Schuljahr 1991/1992 notiert, dass die Klägerin zu ihren Mitschülern ein gutes und kameradschaftliches Verhältnis hatte und im Zeugnis vom 2. Februar 1996 war weiterhin festgehalten, dass sich die Klägerin nach anfänglichen Schwierigkeiten gut in die Klasse eingelebt hat. Den Zeugnissen durchgehend zu entnehmen ist lediglich, dass sich die Klägerin um eine ordentliche Heftführung und eine Steigerung der Leistungsbereitschaft zu bemühen hat.

Korrespondierend hierzu ist im Entlassungsbericht des Krankenhauses B4 ausgeführt, dass die Leistungsvoraussetzungen der Klägerin und ihre intellektuellen Fähigkeiten begrenzt sind, sodass die schulischen Anforderungen für sie einen enormen Leistungsdruck begründen, dem sie nicht gewachsen ist und auf den sie mit „Tics“ reagiert. Zum psychologischen Befund ist ausgeführt, dass das intellektuelle Niveau der Klägerin im unterdurchschnittlichen Bereich lag bzw. sogar nur im Bereich einer leichten Intelligenzschwäche bei instabilen Leistungsvoraussetzungen und langsamen Denkabläufen. Hingewiesen wurde darauf, dass mit steigendem Leistungsdruck die Symptomatik zunehmen und eine soziale Isolation bewirken könne, sodass eine persönlichkeitsorientierte Psychotherapie für indiziert erachtet worden ist. Dass es in der Folge tatsächlich zu einer solchen sozialen Isolation gekommen wäre, lässt sich den Schulzeugnissen hingegen nicht entnehmen. Die nur durchschnittlichen schulischen Leistungen sind mit den Feststellungen der Klinik damit zwanglos erklärt, ein von der Klägerin behaupteter deutlicher Leistungsabfall folgt aus den Zeugnissen hingegen nicht.

Wenn die Klägerin nunmehr behauptet, erst durch den Tod des Vaters „Erlösung“ gefunden zu haben, ist dies schon deshalb nicht plausibel, da sie selbst angegeben hat, dass es vor dessen Tod zu einer Trennung der Eltern gekommen und sie mit der Mutter vom Vater weggezogen ist, zum Zeitpunkt seines Todes also mit ihm nicht mehr in einem Haushalt gelebt hat. Das Vorbringen der Klägerin lässt sich aber auch nicht damit vereinbaren, dass H1, der die Klägerin seinerzeit behandelt hat, in seinem Befundschein mitgeteilt hat, dass die Klägerin durch die Trennung der Eltern belastet gewesen ist und dem Befundschein der P1 entnommen werden kann, dass bei der Klägerin noch 2007, also zwei Jahre nach dessen Tod, eine akute Belastungsreaktion wegen des Todes eines nahen Familienangehörigen bestanden hat. Wenn die Klägerin den Auszug und den Tod des Vaters als Erlösung empfunden hätte, wie sie jetzt glauben machen will, erschließt sich die psychische Befundverschlechterung nicht. Dementsprechend ist es nicht nachvollziehbar, wenn die Klägerin 2021 gegenüber N1 geltend macht, über die Vorfälle bisher aus Angst vor weiteren Übergriffen nicht habe berichten können, nachdem der Vater schon 2005 verstorben ist, von diesem also keine Gefahr mehr ausgehen konnte.

Die Ausführungen des N1 überzeugen somit schon deshalb nicht, da er die Aussagegenese in keiner Weise kritisch gewürdigt hat und von nicht erwiesenen Anknüpfungstatsachen ausgegangen ist. Ebenso lässt sich dem Entlassungsbericht des A1 Gesundheitszentrums nicht entnehmen, von welchen als gesichert angesehenen Anknüpfungstatsachen bei der Diagnosestellung ausgegangen worden ist. Vielmehr sind nur die subjektiven Angaben der Klägerin übernommen worden, Anhaltspunkte dafür, dass die Vorbefunde vorlagen und berücksichtigt worden wären, ergeben sich keine. Generell gilt, dass eher von einer – objektiv zutreffenden – Erinnerung auszugehen ist, wenn die Schilderungen über einen längeren Zeitraum konstant bleiben, während Geschehensabläufe, die sich nicht zugetragen haben, an die aber subjektiv ein Gedächtnisinhalt besteht, im Laufe der Zeit eher auszuufernd beschrieben werden (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19. August 2015 – L 4 VG 5/13 –, juris, Rz. 28; Senatsurteil vom 22. September 2016 – L 6 VG 1927/15 –, juris, Rz. 90; Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, Kommentar, 2012, § 1 OEG Rz. 49 m. w. N.; generell zur Konsistenz mit früheren Aussagen auch Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, 5. Aufl. 1994, Rz. 1101). Auf nicht bewusst Erlebtes deutet demgegenüber die ernsthafte Möglichkeit suggestiver Einflüsse hin, insbesondere bei intensiven Gesprächen, Befragungen und Nachforschungen durch andere Autoritätspersonen mit entsprechenden Voreinstellungen und Erwartungen (vgl. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl. 2014, Rz. 324). Dabei besteht mitunter das Bedürfnis, die massiven psychischen und körperlichen Beschwerden, welche über die Jahre hinweg aufgetreten sind, erklären zu können (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, a. a. O., Rz. 28; Senatsurteil vom 9. November 2017 – L 6 VG 2118/17 –, juris, Rz. 44f.).

Mit der Möglichkeit von Scheinerinnerungen hätte sich N1 schon deshalb auseinandersetzten müssen, da das Vorbringen der Klägerin, bis 2021 aus Angst vor weiteren Gewalttätigkeiten des Vaters geschwiegen zu haben, schon deshalb unplausibel ist, da dieser schon vor gut 16 Jahren verstorben gewesen ist (vgl. oben). In diesem Zusammenhang hätte er sich insbesondere mit dem weiteren Vorbringen auseinandersetzen müssen, dass die Schwester und ggf. die Mutter – nach Bekunden der Klägerin – Zeuginnen der Taten gewesen sein sollen, diese also nicht im Verborgenen geschehen sein sollen. Daneben geht er davon aus, dass die Klägerin bereits seit ihrem neunten Lebensjahr mit Psychopharmaka behandelt worden ist, ohne dass erkennbar ist, welchen Befundunterlagen er dies entnimmt. Tatsache ist nämlich, dass der Entlassungsbericht des A1 Gesundheitszentrums ausdrücklich aufführt, dass keine Medikation besteht und eine solche ist auch nicht empfohlen worden. Weiter hätte er sich damit auseinanderzusetzen gehabt, worauf das SG zu Recht hingewiesen hat, dass bei massiven Übergriffen über 14 Jahre, wie die Klägerin behauptet, zwischen 300 und 400 Taten im Raum stehen, die zu keinen objektivierten körperlichen Folgen geführt haben, obwohl das Ausmaß der Übergriffe nach Angaben der Klägerin zugenommen haben soll. Letztlich würdigt N1 nicht, dass dem Entlassungsbericht eine zum damaligen Zeitpunkt bereits acht Jahre bestehende stabile Beziehung entnommen werden kann, die Klägerin offensichtlich trotz des Tourette-Syndroms in der Lage war, eine Berufsausbildung abzuschließen und auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig zu werden. Folgewirkungen der behaupteten Übergriffe des Vaters sind damit in keiner Weise erkennbar. Allein, dass N1 meint, die Schilderungen der Klägerin für glaubhaft zu erachten, ohne sich mit der Aussageentstehung und der Vorgeschichte eingehend befasst zu haben, führt damit zu keiner anderen Beurteilung.

Dementsprechend belegen seine Ausführungen, entgegen der Auffassung der Klägerin, in keiner Weise einen entscheidungserheblichen medizinischen Sachverhalt. Es kommt daher schon deshalb nicht darauf an, dass § 4 Abs. 5 SGB XIV noch gar nicht in Kraft getreten ist und das SGB XIV im Übrigen keine Taten vor dem 31. Dezember 2023 erfasst (vgl. zum besonderen zeitlichen Geltungsbereich: § 138 SGB XIV).

Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

 

Rechtskraft
Aus
Saved