Leistungen nach dem OEG sind wegen einer leichtfertigen Selbstgefährung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 OEG auch dann zu versagen, wenn zwar für ein Ansprechen der Täter aufgrund einer vorhergegangen Beleidigung ein rechtfertigender Grund besteht, die Täter aber in der Überzahl sind und deren Hemmschwelle aufgrund des Konsums von Alkohol und Drogen erkennbar herabgesetzt ist. In einer solchen Situation hat das Opfer polizeiliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 28. März 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung von Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz – OEG) i. V. m. dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz – BVG), insbesondere eine Beschädigtengrundrente, aufgrund einer körperlichen Auseinandersetzungen mit einer Gruppe Jugendlicher am 30. April 2019.
Sie ist 1989 geboren, verheiratet und Mutter von drei Kindern, von denen zwei in Pflegefamilien leben. Ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 ist festgestellt (vgl. Angaben der Klägerin im Verwaltungsverfahren).
Ihre Krankenkasse (AOK) legte dem Landratsamt S1 (LRA) am 4. Juni 2019 den von der Klägerin ausgefüllten Unfallfragebogen vom 13. Mai 2019 vor. Es könne möglicherweise ein entschädigungspflichtiger Tatbestand i. S. d. OEG vorliegen. In diesem Fragebogen gab sie an, am 30. April 2019 gegen 22 Uhr zusammen mit ihrem Ehemann von mehreren Jugendlichen angegriffen worden zu sein. Sie habe eine Radiusfraktur erlitten, deren Behandlung noch nicht abgeschlossen sei.
Am 18. Juni und am 2. August 2019 stellte die Klägerin beim LRA Anträge auf Leistungen nach dem OEG. In dem ihr daraufhin übersandten Formantrag führte sie aus, am 30. April 2019 um 22 Uhr in S1 im Park in der Nähe des Kauflands zusammen mit ihrem Ehemann von einer Gruppe von 20 Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen angegriffen worden zu sein. Zuerst habe sich der Angriff gegen ihren Ehemann gerichtet, als sie dazwischen gegangen sei, wäre sie getreten, geschlagen und auf den Boden geworfen worden. Teilweise leide sie unter Erinnerungslücken hinsichtlich der Tat. Strafanzeige habe sie am 30. April 2019 erstattet. Am Arm habe sie einen Bruch erlitten, dessen operative Versorgung notwendig gewesen sei. Deshalb sei dessen Gebrauchsfähigkeit beeinträchtigt, wegen der Operation sei eine Narbe verblieben, zusätzlich leide sie unter den psychischen Folgen der Tat, habe Ängste.
Aus der von der AOK dem LRA vorgelegten Mitglieds- und Vorerkrankungsbescheinigung der Klägerin ergaben sich von Juli 2017 bis Januar 2019 u. a. Krankenhaus- und Rehabilitationsbehandlungen aufgrund der Diagnosen Persönlichkeitsstörung (nicht näher bezeichnet), mittelgradige depressive Episode, emotional instabile Persönlichkeitsstörung: Borderline-Typ und rezidivierende depressive Störung, z. Zt. schwere Episode ohne psychotische Symptome.
Aus dem Karteikartenauszug der R1 und S2, Chirurgische Gemeinschaftspraxis, ließ sich entnehmen, dass die Klägerin am 30. April 2019 von Unbekannten überfallen worden sei und dabei eine distale Radiusfraktur rechts erlitten habe. Am 14. Mai 2019 sei eine offene Reposition und Plattenosteosynthese erfolgt, am 24. Oktober 2019 hätten eine reizlose Narbe, keine wesentliche Schwellung und eine gute Beweglichkeit des rechten Handgelenks imponiert.
Der Bericht des S3 Krankenhaus S1 über die Notfallbehandlung der Klägerin am 30. April 2019 beschrieb die Diagnose distale Fraktur des Radius rechts.
Die L1 führte in ihrem Therapie- und Befundbericht vom 24. August 2020 aus, die Klägerin im Rahmen einer Psychotherapie seit dem 8. Oktober 2018 zu behandeln. Anlass hierfür seien deren familiären Umstände. Im Alter von einem Jahr sei sie aufgrund frühkindlicher Vernachlässigung in einer Pflegefamilie untergebracht worden; es sei zu Gewalterfahrungen in der Pflegefamilie und in Beziehungen gekommen. Anfang 2019 sei die Klägerin gemeinsam mit ihrem Ehemann Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Sie habe eine akute Belastungsreaktion gezeigt, die zur Reaktualisierung der ursprünglichen Traumatisierung geführt habe. Nach dem gewalttätigen Überfall sei zunächst die Stabilisierung der Klägerin notwendig gewesen, diese Notwendigkeit sei auch weiterhin gegeben. Die Klägerin leide unter einer Anpassungsstörung und einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Aktuell bestünden Flashbacks, erhöhte psychische Erregung, Unruhe, Schreckhaftigkeit und Hypervigilanz. Die Klägerin habe Probleme in der sozialen Interaktion mit anderen, ziehe sich teilweise zurück, vermeide dem Trauma ähnelnde Situationen, in denen sie eine Wiedertreffen mit den Tätern fürchte, und leide aufgrund der körperlichen Verletzungen teils unter Schmerzen wie Ängsten vor weiteren Operationen und körperlichen Einschränkungen. Vor allem in ihrem Privatleben sei sie durch die psychischen Symptome eingeschränkt, eine normale Lebensführung sei erschwert.
Am 19. Februar 2021 stellte die Klägerin beim LRA einen weiteren Antrag auf Leistungen nach dem OEG wegen der Gewalttat vom 30. April 2019 gegen 22 Uhr. Sie gab an, infolge der Gewalttat eine Verletzung am Arm, die bereits zweimal habe operiert werden müssen, und eine PTBS erlitten zu haben. Verblieben seien Einschränkungen am Arm und psychische Folgen (Ängste). Zum Tathergang verwies die Klägerin auf einen beigefügten Zeitungsbericht, wonach laute Musik vermutlich der Auslöser für eine Körperverletzung, ausgehend von einer 20-köpfigen Personengruppe gewesen sei, wie die Polizei mitgeteilt habe. Ein 29-jähriger sei am Dienstagabend gegen 22.10 Uhr zusammen mit seiner 29-jährigen Ehefrau zu Fuß auf der Hängebrücke über die Donau in Richtung S -Platz unterwegs gewesen. Am Ende der Brücke seien sie auf eine Personengruppe getroffen, die laute Musik gehört habe. Auf die Musik angesprochen hätte sich zunächst ein Streitgespräch entwickelt und schließlich eine handfeste Auseinandersetzung. Vier bis sechs Personen der Gruppe seien unvermittelt auf den 29-jährigen losgegangen, nachdem dieser zu Boden gestürzt sei, hätten die Täter auf ihn eingetreten. Als seine Ehefrau versucht habe ihm zu Hilfe zu kommen, sei auch sie rücklings auf den Boden gestoßen worden. Im Anschluss sei die Tätergruppierung zu Fuß in Richtung einer nahegelegenen Gaststätte geflüchtet. Das Ehepaar sei bei der Auseinandersetzung verletzt worden. Die Personen der Gruppierung seien als etwa 15 bis 18 Jahre alt und überwiegend schwarz bekleidet beschrieben worden, ein Mädchen der Gruppe habe lange braune Haare gehabt und eine weiß-silberne Jacke getragen. Zeugen des Vorfalls sollten sich beim Polizeirevier S1 melden.
Das LRA zog die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte (12 Js 10093/20) bei.
Es wurde ein Ermittlungsverfahren gegen A1, K1 und G2 wegen gefährlicher Körperverletzung geführt.
Die Klägerin habe in ihrer Geschädigtenvernehmung am 10. Mai 2019 angegeben, sie sei am Dienstag, den 30. April 2019, zusammen mit ihrem Ehemann zu Fuß von L2 nach S1 unterwegs gewesen, um eine Freundin zu besuchen. Über die Hängebrücke hätten sie in Richtung Kaufland/Innenstadt gehen wollen, kurz vor der Hängebrücke hätten sie laute Musik gehört. Da sie früher einen Hund gehabt hätten, der sich bei lauter Musik panisch aus seinem Geschirr befreit habe, hätten sie sich darüber unterhalten. Nach dem Überqueren der Brücke sei ihnen zusätzlich das Schreien junger Leute aufgefallen; sie wüssten nicht, ob sie gemeint gewesen wären oder ob sich die jungen Leute gegenseitig angeschrien hätten. Als sie sich der Gruppe genährt hätten ohne diese bereits sehen zu können, sei sie als „fette Sau“ bezeichnet worden.
Mit ihrem Mann habe sie abgesprochen, dass sie gemeinsam nachschauten, wer das gerufen habe. Schließlich seien sie auf eine Gruppe von 20 bis 30 Jugendlichen getroffen. Einen Typen, der – ähnlich einem Wachhund – vor der Gruppe gestanden habe, habe sie gefragt, ob die Gruppe sie gemeint habe, als „fette Sau“ gerufen worden sei. Auch auf nochmaliges Nachfragen habe dieser Typ aber nicht reagiert. Gleichzeitig mit ihrem Mann habe sie gesagt, man solle die Musik leiser stellen. Weil der Typ bis dahin nicht reagiert habe, sei sie etwas aufgebracht gewesen, was man ihr bestimmt auch angehört habe. Ihr Mann sei relativ cool neben ihr gestanden. Daraufhin habe sich ihnen die ganze Gruppe zugewandt und ziemlich provokant, frech und fast unverschämt gefragt, was sie überhaupt wollten, sie sollten sie in Ruhe lassen. Es habe sich angefühlt, als würde sich der Mob gegen sie stellen. Sie habe gesagt, nur wissen zu wollen, wer sie als „fette Sau“ bezeichnet habe. Die Reaktion hierauf sei ein Anschreien – „verschwindet einfach, verpisst euch“ – gewesen. Es sei um sie herum laut und aggressiv geworden. Sie habe ihren Mann an der Hand genommen und zu diesem gesagt, dass sie jetzt gehen wolle, ihr Mann sei auch dieser Ansicht gewesen.
In dem Augenblick als sie der Meute den Rücken zugedreht hätten, seien sie von hinten angegriffen worden. Ihr Mann sei nach vorne gestürzt, hierfür müssten drei bis vier Personen der Gruppe verantwortlich gewesen sein. Noch bevor sie ihrem Mann habe helfen können, seien diese drei bis vier Personen über ihn hergefallen. Nun sei sie sich sicher, dass es vier Personen gewesen seien. Zwei Personen hätten auf dessen Kopf eingetreten, eine auf dessen Beine, die vierte habe auf Höhe der Hüfte gekniet und mit Fäusten auf den Bauch eingeschlagen. Als sie wieder in der Lage gewesen sei zu reagieren, habe sie versucht, diejenige Person, die auf den Bauch ihres Mannes eingeschlagen habe, wegzuziehen. Sie habe diese in eine Art Schwitzkasten genommen. In diesem Augenblick sei sie selbst von hinten gepackt worden; sie sei sich ziemlich sicher, dass es zwei Personen gewesen seien. Diese hätten sie nach hinten gezogen, so dass sie den Schwitzkasten habe lösen müssen. Mit ihren Händen sei sie auf dem Boden hinter sich aufgekommen, in diesem Augenblick habe sie eine Schuhsohle an den Fingern der rechten Hand gespürt. Aufgrund der Wucht habe sie sich nicht abstützen können, sei auf den Rücken gefallen und habe einen wahnsinnigen Schmerz im rechten Handgelenk verspürt.
Nach dem Aufrichten habe sie den „C“, einen in S1 bekannten Flaschensammler, erkannt. Sie wisse nicht, wo er hergekommen sei, und habe gesehen, dass er einfach weitergegangen sei. Plötzlich sei ein Mädchen aus der Gruppe mit einer weißen/silbernen Jacke vor ihr gestanden; sie vermute, das helle Licht neben dieser sei von einem Handy gewesen. Die Cousine ihres Mannes hätte dessen Zwillingsschwester mitgeteilt, ihr Arbeitskollege habe ihr auf dessen Handy ein Video von dem tätlichen Angriff gezeigt. Zu dem Mädchen habe sie gesagt, dass sie alle ein massives Problem (eine Anzeige) bekämen, wenn ihr Handgelenk gebrochen sei. Hierauf habe dieses gesagt, sie seien doch nur Mädels. Als sie selbst ihr Handy aus der Jackentasche gezogen habe, sei die Gruppe geflüchtet.
Auf einem Lichtbild hat die Klägerin das Mädchen und eine der Personen, die auf den Kopf ihres Mannes eingetreten hätten, erkannt.
In seiner Geschädigtenvernehmung am 14. Mai 2019 gab der Ehemann der Klägerin an, am 30. April 2019 mit der Klägerin zusammen beabsichtigt zu haben, eine gemeinsame Freundin zu besuchen. Nachdem sie über die Brücke beim gekommen seien, hätten sie jemanden schreien hören „He du dicke, fette Sau.“. Da außer ihnen niemand in der Nähe gewesen sei, hätten sie das auf die Klägerin bezogen. Sie seien auf eine Gruppe Jugendlicher getroffen, von der die Beleidigung ausgegangen sein musste. Die Klägerin habe die Gruppe zur Rede stellen wollen, habe sich die Beleidigung nicht gefallen lassen wollen. Er habe zu ihr gesagt, dass sie weitergehen sollten; der Klägerin sei es aber wichtig gewesen, die Sache zu klären. Die Klägerin habe die Gruppe angesprochen und gebeten, die Musik leiser zu machen. Nachdem hierauf nicht reagiert worden sei, habe sie lauter gerufen, daraufhin sei die Musik leiser geworden. Auf Nachfrage der Klägerin, wer sie beleidigt habe, habe die Gruppe gesagt, es sei keiner von ihnen gewesen. Er meine sich zu erinnern, dass die Gruppe sie zum Weitergehen aufgefordert habe. Es sei auch noch ein blöder Spruch gefallen, an den er sich aber nicht mehr erinnern könne; er leide unter einigen Erinnerungslücken hinsichtlich der Tat. Die Klägerin habe sich einem der jungen Männer gegenübergestellt, der diesen Spruch geäußert habe. Dieser habe die Klägerin dann nochmals als „dicke, fette Sau“ bezeichnet. Als er diesen habe zur Rede stellen wollen, sei eine andere Person von hinten gekommen, habe ihn am Hals gepackt, zugedrückt und hochgehoben. Dabei habe er von links Schläge auf den Kopf bekommen. Als er losgelassen worden sei, sei er auf den Bauch gefallen. Die Kapuze seiner Jacke sei über seinen Kopf gerutscht, er habe deshalb nichts mehr sehen können. Von einem Fuß sei er an der Lippe getroffen worden, habe mehrere Tritte gegen den Kopf erhalten und gegen die Hüfte/Oberschenkel. An Schläge oder Tritte in den Rücken oder Bauch könne er sich nicht mehr erinnern.
Als die Tritte nachgelassen hätten, er meine es seien fünf oder sechs gewesen, habe er aufstehen wollen und erkannt, wie jemand auf die Klägerin habe losgehen wollen. Er sei aber wieder zu Boden gezogen worden, habe die Klägerin nicht mehr sehen können und weitere Tritte gegen seine Beine erhalten. Irgendwann habe er wieder aufstehen wollen, es sei dann der „Flaschensammler“ auf ihn zugekommen. Als dieser bemerkt habe, dass er ihn kenne, sei er aber abgehauen. Schließlich sei er aufgestanden und habe seine Frau weinend am Boden sitzen sehe, sie habe gerufen, dass ihr Handgelenk gebrochen sei und dass sie Schmerzen habe. Dann seien alle Jugendlichen geflüchtet.
Heute habe er noch leichte Kopfschmerzen, es sei eine Schädelprellung diagnostiziert worden. Wenn er esse, bestünden noch leichte Schmerzen am Kiefer. Ansonsten sei er nicht verletzt worden, habe keine blauen Flecken gehabt. An seiner Stirn und am linken Oberschenkel hätten leichte Schürfwunden und an der Lippe Platzwunden innen und außen links bestanden.
Nach der Zeugenaussage des G1 habe dieser am 30. April 2019 Flaschen gesammelt. Er sei in Richtung eines von ihm vernommenen Lärms gegangen und habe ein Gerangel zwischen vielen Leuten gesehen. Besonders auffallend sei eine Frau gewesen, die laut herumgeschrien habe. Die anderen Leute hätte der Frau mehrfach gesagt, sie solle weggehen. Das habe sie aber nicht gemacht, sie habe die anderen provoziert und auch zugeschlagen. Diese Frau sei auf jeden Fall älter als die anderen Leute gewesen. Er glaube, sie sei von einem Mann begleitet worden, der an einer anderen Stelle mit anderen Leuten geredet habe. Total sei ihm im Gedächtnis geblieben, dass die Frau nicht aufgehört habe zu provozieren, obwohl aus der Gruppe heraus immer wieder gesagt worden sei, sie solle gehen. Irgendwann sei laut geschrien worden und er habe nichts mehr verstanden. Dann sei der Mann auf dem Boden gelegen und ein anderer über ihm drüber. Als es ihm gelungen sei den Mann zu befreien, sei dieser aufgestanden und habe die Gruppe wieder angepöbelt. Dann sei er wieder auf dem Boden gelegen und er habe ihm nochmals helfen müssen. Er habe versucht, ihn zur Seite zu schieben und ihm gesagt, dass er gehen solle, weil es sonst ganz schlecht für ihn aussehe. Der Mann habe zu ihm gesagt, dass er ihn kenne, er selbst habe den Mann nur vom Sehen gekannt. An dem ganzen Ort habe es nach Alkohol gerochen, kaum einer sei nüchtern gewesen.
Die Beschuldigten A1, K1 und G2 haben bestritten, zum Zeitpunkt der tätlichen Auseinandersetzung am Tatort gewesen zu sein. Die Ermittlungsverfahren gegen sie wurden mit Verfügung vom 18. November 2020 nach § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) mangels Beweisen eingestellt.
Das LRA lehnte durch Bescheid vom 28. Juni 2021 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Die erforderliche Anspruchsvoraussetzung, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen Angriffs geworden sei, sei nicht erfüllt. Eine derartige Angriffshandlung sei nach Auswertung der staatsanwaltlichen Ermittlungsakten und den Angaben der Klägerin nicht erwiesen. Die Angaben der Beteiligten bzw. der Zeugen im staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren seien entgegengesetzt gewesen, weshalb eine authentische und detaillierte Rekonstruierbarkeit der Tat, welche zumindest in Grundzügen erforderlich sei, um den Tatbestand des § 1 OEG als erfüllt ansehen zu können, nicht gegeben sei. Die Rolle der Klägerin bei der Auseinandersetzung habe aufgrund ihrer Angaben und den Feststellungen im staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren nicht eingegrenzt und eine konkrete Gewaltanwendung gegen sie nicht festgestellt werden können. Die fehlende Beweisbarkeit gehe zu ihren Lasten.
Deswegen erhob die Klägerin Widerspruch, zu dessen Begründung sie geltend machte, sie habe am 30. April 2019 eine Gruppe Jugendlicher gebeten, ein sozial missbilligendes Verhalten abzustellen. Dies habe die Gruppe zum Anlass genommen, sie und ihren Ehemann verbal zu beleidigen. Sie habe versucht, sich gemeinsam mit ihrem Ehemann der Situation zu entziehen. Innerhalb weniger Sekunden sei aus der verbalen Beleidigung körperliche Gewalt geworden. Der Hinweis auf das sozialadäquate Verhalten sei von den unbekannten Angreifern ausgenutzt worden, um sie und ihren Ehemann unvermittelt von hinten anzugreifen. Vor diesem Hintergrund könne sie nicht nachvollziehen, wenn von Seiten des LRA im Raum stehe, dass sie sich selbstverschuldet in diese Situation gebracht habe. Sie und auch ihr Ehemann hätten nicht damit rechnen müssen, dass der Hinweis auf ein sozialadäquates Verhalten unmittelbar in körperlicher Gewalt ende. Wäre dies vorhersehbar gewesen, wären sie und ihr Ehemann einfach weitergegangen. In der Situation, in der sie versucht habe sich zu entfernen, sei eine zeitliche Zäsur zu sehen, die mit dem unmittelbar danach erfolgten Angriff nur bedingt in Zusammenhang gebracht werden könne.
Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 2021 zurück. Bei der nochmaligen Überprüfung des angefochtenen Bescheides unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin sei festgestellt worden, dass dieser der Sach- und Rechtslage entspreche. An der getroffenen Entscheidung werde festgehalten. Nach der Aussage des Zeugen G1 habe die Klägerin gegenüber der Gruppe laut geschrien; als sie wiederholt aufgefordert worden sei zu gehen, habe sie hierauf nicht reagiert. Sie habe vielmehr die Gruppe anhaltend provoziert und auch zugeschlagen. Bei dem anschließenden Gerangel mit der Gruppe sei in Anbetracht der unterschiedlichen Angaben der Beteiligten nicht auszuschließen, dass die Handverletzung der Klägerin infolge der Notwehrreaktion eines Gruppenmitglieds oder lediglich durch ein vorsatzloses Beiseiteschieben mit anschließendem Sturz verursacht worden sei.
Mit der am 29. Oktober 2021 beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG weiterverfolgt.
Zur Klagebegründung hat sie ausgeführt, sie sei zusammen mit ihrem Ehemann am Abend des 30. April 2019 bei einem Spaziergang hinterrücks von einer Gruppe Jugendlicher angegriffen worden. Der Angriff habe sich zunächst gegen den Hals/die Gurgel ihres Ehemanns gerichtet, der infolge des Angriffs in einen Brunnen gefallen und dann getreten worden sei. Sie habe ihrem Ehemann helfen wollen und einen der Angreifer in den Schwitzkasten genommen, so dass die Tritte gegen ihren Ehemann beendet worden seien. Hierbei sei sie zu Boden gestoßen worden, wobei sie sich das Handgelenk gebrochen habe. Der Beklagte gehe zu Unrecht davon aus, dass sie an den körperlichen Übergriffen ein Mitverschulden treffe. Nach der Beleidigung als „fette Sau“ sei alles geklärt gewesen. Sie und ihr Ehemann hätten versucht, die Örtlichkeit zu verlassen, damit liege eindeutig eine zeitliche Zäsur vor. Zu keinem Zeitpunkt habe sie davon ausgehen müssen, dass gegenüber ihr oder ihrem Ehemann körperliche Gewalt angewendet werde.
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat ausgeführt, die Rolle der Klägerin bei dem Vorfall am 30. April 2019 ließe sich aufgrund ihrer eigenen Angaben und den Feststellungen im Ermittlungsverfahren nicht eingrenzen, eine konkrete Gewaltanwendung gegenüber ihr damit nicht feststellen. Dies gehe zu ihren Lasten, da ihr die objektive Beweislast obliege.
Zur weiteren Sachaufklärung hat das SG zunächst die von der Klägerin angegebenen Ärzte als sachverständige Zeugen schriftlich befragt.
R1, Chirurgische Gemeinschaftspraxis, hat ausgeführt, die Klägerin vom 10. Mai 2019 bis zum 20. November 2020 unter der Diagnose dislozierte distale Radiusfraktur rechts behandelt zu haben. Zum Zeitpunkt der letztmaligen Untersuchung habe am rechten Handgelenk eine bleibende Narbe und eine endgradige Bewegungseinschränkung bestanden. Der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) sei auf 10 zu schätzen gewesen.
W1, hat von der hausärztlichen Behandlung der Klägerin sei circa 2015 berichtet. Er hat hinsichtlich des Ereignisses vom 30. April 2019 im Wesentlichen auf die Berichte des S3 Krankenhaus S1 und des R1 verwiesen.
Als sachverständige Zeugin hat die. L1 eine Behandlung der Klägerin (Verhaltenstherapie) seit dem 8. Oktober 2018 mitgeteilt. Eingangs sei eine Anpassungsstörung mit verlängerter depressiver Reaktion diagnostiziert worden. Am 30. April 2019 sei die Klägerin von einer Gruppe Jugendlicher angegriffen und körperlich verletzt worden. Es habe sich nachfolgend eine deutliche Belastungsreaktion auf psychischer Ebene gezeigt, die sich in einer PTBS manifestiert habe. Aus ihrer biographischen Anamnese hätten sich Hinweise für negative Erfahrungen in der Kindheit und Jugend ergeben. Aufgrund der PTBS bestünden wesentliche Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit; die Lebensqualität sei infolge von Alpträumen, Konzentrationsproblemen, Ängsten etc. vermindert. Der GdS liege im Bereich von 30 bis 40.
Die Klägerin hat ein Luftbild der Örtlichkeit des Angriffs zur Akte gereicht. Der erste Angriff habe auf der Brücke über die Donau stattgefunden. Sie sei dann zusammen mit ihrem Ehemann weg vom in Richtung der Gartenanlage gelaufen, als ihr von den unbekannten Dritten erhebliche Verletzungen zugefügt worden seien. Sie und ihr Ehemann hätten sich dann zum Schießplatz (Festplatz der Stadt S1) schleppen müssen, um dort von Sanitätern versorgt werden zu können. Zunächst seien sie von diesen im Bereich dess gesucht und nicht gefunden worden.
In nichtöffentlicher Sitzung am 15. März 2022 hat das SG die Klägerin persönlich angehört und ihren Ehemann als Zeugen vernommen.
Die Klägerin hat ausgeführt, am 30. April 2019 vom losgegangen zu sein und auf der Brücke erstmals die verbale Äußerung der Jugendlichen gehört zu haben. Auf der anderen Seite der Brücke seien sie dann auf die Jugendlichen getroffen, es sei zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen. Im Anschluss daran habe sie sich mit ihrem Ehemann von der Örtlichkeit entfernt und den Jugendlichen den Rücken zugedreht. Nach sechs oder sieben Metern hätten dann die körperlichen Übergriffe angefangen; ihr Mann habe auf dem Rücken gelegen, so schnell habe sie gar nicht sehen können. Aufgrund des zeitlichen Abstands zum Geschehen sei ihr nicht erinnerlich gewesen, ob sie nur einmal oder mehrfach beleidigt worden sei.
Der Aufforderung des SG szenisch nachzustellen, wie sie die Jugendlichen angesprochen habe, habe die Klägerin nicht nachkommen können und sei in Tränen ausgebrochen.
Im Weiteren habe die Klägerin angegeben, es sei ihr auch nicht mehr erinnerlich, ob ihr Ehemann, nachdem sie zu diesem gesagt habe, dass sie jetzt gehen möchte, noch mit den Jugendlichen habe sprechen wollen. Nachdem er seitlich auf dem Boden gelegen habe, habe ein Jugendlicher auf dessen Kopf eingetreten, zwei andere auf den Bauch und Rücken. Denjenigen, der auf den Bauch eingetreten habe, habe sie dann gepackt und in den Schwitzkasten genommen. Dann sei sie von drei Jugendlichen nach hinten gezogen worden, wobei sie den Schwitzkasten gelockert habe, damit der Jugendliche nicht auf sie falle. Während des Fallens habe sie einen Tritt auf ihre rechte Hand verspürt, sei dann zuerst mit der linken und dann mit der rechten Hand aufgekommen. Abgestützt habe sie sich nur mit der linken Hand. Mit dieser habe sie dann ihr Handy hervorgeholt, die 110 gewählt und den Jugendlichen, die nun vor ihr mit einer Taschenlampe gestanden hätten, gesagt, dass sie jetzt die Polizei informiere. Sie sei sowohl Rechts- als auch Linkshänderin. Nach dem Hinweis auf die Polizei hätten die Jugendlichen sowohl von ihr als auch von ihrem Ehemann abgelassen und seien geflüchtet. Ihr Ehemann habe zu diesem Zeitpunkt gekrümmt auf dem Boden gelegen.
Der „italienische Flaschensammler“ sei bereits bei den Jugendlichen gewesen, als sie diese hinter der Brücke sitzend angetroffen hätten. Während der körperlichen Auseinandersetzung sei er zwar vor Ort gewesen, habe sich hieran aber nicht beteiligt.
Auf Nachfrage der Beklagtenvertreterin hat die Klägerin dargelegt, dass von der Brücke aus die Jugendlichen nur zu hören, nicht aber zu sehen gewesen seien. Sie gehe aber davon aus, dass die Beleidigung auf sie bezogen gewesen sei, da es noch nicht ganz dunkel und keine andere Person vor Ort gewesen sei. Zusammen mit ihrem Ehemann habe sie klären wollen, ob die Jugendlichen sie gemeint hätte, das allerdings auf freundliche Art und Weise. Wegen der lauten Musik habe man mit der Gruppe aber nicht sprechen können, auf ihre Bitte, die Musik leiser zu drehen, sei nicht reagiert worden. Zu diesem Zeitpunkt habe sie die Gruppe verlassen wollen, der Inhalt des Gespräches ihres Ehemanns mit einem Blondhaarigen und einer anderen Person aus der Gruppe sei ihr nicht bekannt. Sie gehe davon aus, dass ihr die Verletzung an der rechten Hand durch einen Tritt zugefügt worden sei, da sie sich beim Fallen nur mit der linken und nicht mit der rechten Hand abgestützt habe. Die Schmerzen an der rechten Hand habe sie erst nach dem Geschehen und nach der Benachrichtigung der Polizei bemerkt. Sie sei die einzige gewesen, die ihrem Ehemann geholfen habe, er habe es selbst geschafft sich nach dem Angriff aufzuraffen.
Als gesundheitliche Folgen der Tat mache sie sowohl die Beeinträchtigung ihrer rechten Hand als auch psychische Folgeschäden geltend. An der Hand träten bei verschiedenen Bewegungen Schmerzen auf, ebenso bei Temperaturschwankungen.
Der Ehemann der Klägerin hat als Zeuge ausgesagt, er sei mit der Klägerin am Tatabend durch den Park auf die Brücke gegangen. Gegenüber dem Campingplatz hätten sich Jugendliche aufgehalten und laute Musik gehört. Daraufhin seien sie zu diesen gegangen und hätten sie gebeten, die Musik leiser zu stellen. Hierauf sei keine Reaktion erfolgt, die Klägerin sei nach dem Wiederholen der Bitte als „fette Sau“ beleidigt worden. Danach habe man sehen können, dass die Jugendlichen auf Krawall gebürstet gewesen seien. Er sei dann von hinten angegriffen und in den Würgegriff genommen worden. Irgendwann habe der Täter ihn losgelassen und er habe sich auf dem Boden wiedergefunden. Dann sei er aufgestanden, erneut angegriffen worden und habe wieder auf dem Boden gelegen. Die Klägerin habe ihm helfen wollen und sei dabei selbst angegriffen worden. Vom Angriff auf diese habe er selbst wenig mitbekommen, da er auf dem Boden gelegen habe. Jedoch habe er gehört, dass sie vor Schmerzen geschrien und zum Täter gesagt habe, er habe ihr die Hand gebrochen. Die Jugendlichen seien daraufhin geflüchtet und die Klägerin habe die Polizei gerufen.
Erstmals am Tatabend sei die Beleidigung „fette Sau“ gefallen, als die Jugendlichen auf ihre Bitte, die Musik leiser zu stellen, nicht reagiert hätten. Sie hätten diese aufgrund der lauten Musik aufgesucht und sie gebeten, diese leiser zu stellen, wie es jeder anständige Bürger machen würde.
Der Angriff auf ihn von hinten sei unmittelbar am Ort des Antreffens der Jugendlichen erfolgt. Sie hätten sich zuvor nicht von den Jugendlichen entfernt gehabt. Auch der Angriff auf die Klägerin habe unmittelbar vor Ort stattgefunden.
Als er auf dem Boden gelegen habe, habe die Klägerin ihm helfen wollen. Er meine sie habe erfolglos versucht, einen der Angreifer wegzuziehen, hieran könne er sich allerdings nicht mehr ganz genau erinnern. Die Klägerin sei dann selbst von hinten gepackt worden, was danach mit ihr passiert sei, habe er nicht mehr gesehen. Das Geschehen habe er erst wieder wahrgenommen, als die Klägerin den Angreifer angeschrien habe, ihre Hand sei gebrochen. Danach habe sich die Klägerin von der Szenerie entfernt, unter einen Baum gesetzt und die Polizei gerufen, worauf sich alle Jugendlichen entfernt hätten.
Die Gruppe der Jugendlichen sei ihm schon zuvor bekannt gewesen. Diese hätten am Tatabend Alkohol und Drogen konsumiert gehabt, was man vor Ort gut habe riechen können. Leute, die derartige Sachen konsumierten, seien grundsätzlich auf Krawall gebürstet. Sie hätten die Jugendlichen gebeten, die Musik leiser zu machen, aus Rücksicht vor den Mitmenschen und dem nahegelegenen Campingplatz. Ob die Klägerin auf die Beleidigung „fette Sau“ reagiert habe, könne er nicht mehr angeben. Der „italienische Flaschensammler“ sei auch zu diesem Zeitpunkt vor Ort gewesen, mit diesem hätten sie allerdings keinen Kontakt gehabt. Wie er es bereits zuvor gesagt habe, habe die Klägerin die Polizei erst angerufen, als die Jugendlichen bereits weg gewesen seien.
Er meine sich erinnern zu können, dass die Klägerin den Ort bereits vor der Beleidigung habe verlassen wollen, sei sich aber nicht mehr ganz sicher. Sie hätten den Ort dann aber nicht verlassen, da er zu diesem Zeitpunkt bereits angegriffen worden sei.
Im Einverständnis der Beteiligten hat das SG die Klage durch Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 28. März 2022 abgewiesen. Zu Recht habe der Beklagte die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG abgelehnt, da die hierfür notwendigen tatbestandlichen Voraussetzungen nicht allesamt mit der erforderlichen Sicherheit belegt seien. Insbesondere lasse sich das Vorliegen eines konkreten tätlichen Angriffs nicht mit dem notwendigen Überzeugungsmaßstab für das Gericht ausreichend genau plausibilisieren. Vorliegend verbleibe es beim Maßstab des Vollbeweises, die Beweismaßstäbe der Wahrscheinlichkeit und Glaubhaftmachung seien nicht einschlägig. Nach der erneuten Befragung der Klägerin und der Vernehmung deren Ehemanns als Zeugen habe ein einheitliches Tatgeschehen nicht festgestellt werden können. Die Angaben der Klägerin und ihres Ehemanns im Erörterungstermin seien auch in Abgleich mit deren Einlassungen im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren derart widersprüchlich und inkonsistent gewesen, dass diese keine belastbare Grundlage für eine zusprechende gerichtliche Entscheidung geboten hätten.
Widersprüchlich seien bereits die Ausführungen zum Zeitpunkt und des Anlasses der ersten Beleidigung. Nach den Angaben der Klägerin sei sie bereits auf der Brücke beleidigt worden, was in einem signifikanten Widerspruch zu den Angaben ihres Ehemanns stehe und Plausibilitätsbedenken aufwerfe. Denn sie habe ausgesagt, dass man die Gruppe der Jugendlichen von der Brücke aus nur habe hören, nicht aber sehen können, womit diese sie im Umkehrschluss ebenfalls nicht hätten sehen, sondern nur beim Überqueren der Brücke hätten hören können, was aber in Anbetracht der geschilderten lauten Musik ebenso fraglich sei. Im Rahmen des Erörterungstermins habe die Beklagtenvertreterin zudem zutreffend darauf hingewiesen, dass eine derartige Beleidigung nicht zwingend auf die Klägerin habe bezogen sein müssen. Es liege damit durchaus im Bereich des Möglichen, dass sich innerhalb der Gruppe eine derartige verbale Auseinandersetzung zugetragen habe, zumal Alkohol und Drogen konsumiert worden seien.
Auch bestehe eine Diskrepanz im Hinblick auf den Grund des Ansprechens der Gruppe. Die Klägerin habe nach ihren Ausführungen der Beleidigung nachgehen wollen, wogegen nach den Angaben ihres Ehemanns die laute Musik ursächlich gewesen sei.
Lege man den vom Ehemann der Klägerin mitgeteilten Geschehensablauf zugrunde, wäre wohl zusätzlich der Anwendungsbereich einer Versagung nach § 2 OEG eröffnet. Dieser habe die Gruppe Jugendlicher gekannt und den Konsum von Alkohol und Drogen sowie deren Aggressivität bemerkt. Anlässlich der offensichtlichen Disproportionalität des Grunds des Ansprechens, der zu lauten Musik, und der erkennbaren Aggressivität sei eine leichtfertige Selbstgefährdung nicht von vornherein von der Hand zu weisen gewesen.
Auch habe sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit eine zeitliche und örtliche Distanzierung der Klägerin und ihres Ehemanns vor dem Angriff und damit eine Zäsur, wie im Rahmen der Klagebegründung vorgebracht, nachvollziehen lassen.
Ebenso habe die Klägerin angegeben, einen der Angreifer auf ihren Ehemann in den Schwitzkasten genommen und diesen erfolgreich von ihrem Ehemann entfernt zu haben, wogegen nach dessen Aussage die Klägerin hierbei gerade nicht erfolgreich gewesen sei.
Selbst wenn man aber die Widersprüche hinsichtlich des Vortatgeschehens außer Acht ließe, ergäben sich auch in Bezug auf die eigentliche Tat Inkonsistenzen. So habe die Klägerin im Ermittlungsverfahren ausgesagt, mit beiden Händen auf dem Boden aufgekommen zu sein und sich hierbei die Handgelenksfraktur rechts zugezogen zu haben. Nach ihren Ausführungen im Erörterungstermin hingegen sei sie nunmehr nicht von zwei, sondern von drei Personen angegriffen worden und vermute, sich die Verletzung nicht infolge des Sturzes, sondern durch einen Tritt gegen ihre Hand zugezogen zu haben. Auch habe sie sich – entgegen ihren Ausführungen im Ermittlungsverfahren – ausschließlich mit der linken Hand abgestützt.
Zuletzt ergäben sich auch Unstimmigkeiten in den Aussagen der Klägerin und ihres Ehemanns insoweit, ob sich die Jugendlichen vor oder nach dem Anruf bei der Polizei entfernt hätten oder von wo die Klägerin – an Ort und Stelle oder unter einem Baum sitzend – den Notruf abgesetzt habe.
Die aufgezeigten Unsicherheiten, wegen denen sich ein konkretes Tatgeschehen i. S. eines tätlichen Angriffs nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht mit hinreichender Sicherheit nachvollziehen lasse, gingen zu Lasten der materiell beweisbelasteten Klägerin, weswegen die Klage demnach abzuweisen gewesen sei.
Am 26. April 2022 hat die Klägerin gegen das ihren Prozessbevollmächtigten am 4. April 2022 zugestellte Urteil des SG Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt.
Mit Verfügung vom 23. August 2022 hat der Berichterstatter die Klägerin darauf hingewiesen, dass der Antrag, ihr Leistungen nach dem OEG zu gewähren, zu unbestimmt sein dürfte. Die Klägerin wurde zur Konkretisierung des Antrags aufgefordert. Hierauf hat sie erwidert, die grundsätzliche Feststellung der Leistungspflicht des Beklagten und die Zuerkennung eines GdS von 30 zu verfolgen. Im Übrigen solle nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz verfahren werden.
Auf Nachfrage des Berichterstatters (Verfügung vom 7. November 2022) hat die Klägerin mitgeteilt, dass ihr Ehemann keinen Antrag nach dem OEG gestellt habe.
Zur Berufungsbegründung führt sie aus, dass entgegen der Ansicht des SG auf sie und auch auf ihren Ehemann ein körperlicher Angriff erfolgt sei. Noch auf der Brücke sei sie als „fette Sau“ beleidigt worden. Um ihren Weg fortsetzen zu können, hätten sie an der Gruppe Jugendlicher vorbeigehen müssen. Sie seien von diesen hinterrücks angegriffen worden; der Angriff habe sich zunächst gegen den Hals/die Gurgel ihres Ehemanns gerichtet. Er sei aufgrund dessen zu Boden gestürzt und dort getreten worden. Nachdem sie einen der Angreifer in den Schwitzkasten genommen habe, seien die Tritte gegen ihren Ehemann beendet worden. Hierbei habe man sie zu Boden gestoßen, bei dem Versuch sich abzustützen habe sie sich ihr Handgelenk gebrochen. Im Hinblick darauf, dass das SG keinen einheitlichen Geschehensablauf habe feststellen können, sei darauf hinzuweisen, dass jedes Individuum, insbesondere auch ihr am Boden liegender Ehemann, das Geschehen anders wahrnehme. Durch die Vorgehensweise des SG im Termin zur nichtöffentlichen Sitzung – der Aufforderung zur szenischen Nachstellung des Geschehens – sei sie in erheblichem Maße retraumatisiert geworden, so dass sie im Folgenden nur noch „wilde Angaben“ habe machen können und in Weinkrämpfe ausgebrochen sei. Auch ihr als Zeuge in diesem Termin vernommener Ehemann sei vor seiner Aussage zunächst mit seiner weinenden Ehefrau konfrontiert worden. Im Ergebnis sei es völlig irrelevant, ob sie sich ihr Handgelenk beim Sturz oder danach, als auf sie selbst eingetreten worden sei, gebrochen habe. Letztlich habe sie ihrem Ehemann, der Opfer eines tätlichen Angriffs gewesen sei, zu Hilfe eilen wollen, weshalb auch ihr gegenüber massive körperliche Übergriffe erfolgt seien.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 28. März 2022 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Juni 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2021 zu verurteilen, ihr ab dem 1. Mai 2019 Beschädigtenversorgung, insbesondere Beschädigtengrundrente, zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Er verweist auf die zutreffenden Ausführungen des SG, wonach die tatbestandlichen Voraussetzungen nicht allesamt mit der erforderlichen Sicherheit belegt seien. Ein einheitliches Tatgeschehen habe auch nach Befragung der Klägerin nicht festgestellt werden können. Deren Angaben seien in Abgleich mit ihren Einlassungen im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren in größeren Teilen widersprüchlich gewesen. Bereits dort hätten sich Widersprüche bei den Angaben der Beteiligten bzw. der Zeugen ergeben.
Hierauf hat die Klägerin erwidert, sie sei Opfer einer Gewalttat i. S. d. § 1 OEG geworden, wie sich aus den polizeilichen Ermittlungen ergebe. Versagungsgründe nach § 2 OEG lägen nicht vor. Nach der Beleidigung als „fette Sau“ hätten sie und ihr Ehemann versucht, sich vom Tatort zu entfernen, was eine wesentliche Zäsur im Geschehensablauf darstelle. Ihre Nothilfehandlung zugunsten ihres Ehemanns, bei der sie sich das Handgelenk gebrochen haben, sei objektiv rechtlich geboten gewesen und könne ihr nicht zum Vorwurf gemacht werden. Seit der vom SG von ihr verlangten szenischen Darstellung des Geschehens leide sie unter Angstzuständen und habe sich erneut in psychologischen Behandlung begeben müssen. Allein aufgrund des zeitlichen Abstands von rund drei Jahren zwischen dem tätlichen Angriff und der Verhandlung vor dem SG seien die Divergenzen in den Aussagen nicht ungewöhnlich. Jede Person, die an dem Geschehen beteiligt gewesen sei, habe es aus einem anderen Blickwinkel erlebt. Würden ihre Angaben mit denen ihres Ehemanns wörtlich übereinstimmen, wäre vom Beklagten der Einwand der Absprache der Aussage zu erwarten gewesen.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 28. März 2022, mit dem das SG die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) der Klägerin auf Aufhebung des Bescheides vom 28. Juni 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2021 (§ 95 SGG) und Verurteilung des Beklagten, ihr Beschädigtenversorgung nach dem OEG aufgrund des Ereignisses vom 30. April 2019 zu gewähren, abgewiesen hat.
Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der vorliegenden Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34).
Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der angefochtene Bescheid vom 28. Juni 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Der Senat hat sich, wie auch das SG, nach Auswertung der Angaben der Klägerin, deren Ehemanns, den das SG im erstinstanzlichen Verfahren als Zeugen vernommenen hat, und der staatsanwaltlichen Ermittlungsakte, die er im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung <ZPO>) verwertet, nicht davon überzeugen können, dass die Klägerin am 30. April 2019 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden ist. Zudem steht einem Anspruch auf Beschädigtenversorgung zur Überzeugung des erkennenden Spruchkörpers der Versagungsgrund des § 2 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 OEG entgegen. Demnach hat das SG die auf die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG gerichtete Klage der Klägerin zu Recht durch Urteil vom 28. März 2022 abgewiesen.
Rechtsgrundlage des von der Klägerin begehrten Anspruchs auf Beschädigtenversorgung, insbesondere auf Beschädigtengrundrente, ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i. V. m. § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG).
Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VS 413/13 –, juris, Rz. 42; Dau in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 31 BVG, Rz. 2). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS – bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als MdE bezeichnet – nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG).
Für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG i. V. m. dem BVG sind folgende rechtlichen Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 <208 ff.>):
Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. In Altfällen, also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und dem Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 (BGBl I S. 1181), müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG i. V. m. § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in diesem Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Eine Schwerbeschädigung liegt nach § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn ein GdS von mindestens 50 festgestellt ist. Nach dieser Maßgabe erhalten Versorgung auch Personen, die in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben oder zum Zeitpunkt der Schädigung hatten, wenn die Schädigung in der Zeit vom 7. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 in dem vorgenannten Gebiet eingetreten ist (§ 10a Abs. 1 Satz 2 OEG).
Nach der Rechtsprechung des BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ i. S. d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffes hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff i. S. d. § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff i. S. d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz. 23 ff.).
Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R –, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.).
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit i. S. d. § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
Bei dem „Glaubhafterscheinen“ i. S. d. § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3 3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3d m. w. N.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15).
Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend – seit Juli 2004 – den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008, den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), (VG, Teil C, Nrn. 1 bis 3; vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 17).
Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben und der höchstrichterlichen Rechtsprechung, der der Senat folgt, hat der Beklagte zu Recht die Gewährung von Beschädigtenversorgung, insbesondere die Gewährung einer Beschädigtengrundrente, durch Bescheid vom 28. Juni 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2021 abgelehnt. Mithin hat das SG auch die hierauf gerichtete Klage der Klägerin zutreffend durch Urteil vom 28. März 2022 abgewiesen.
Der Senat geht ausgehend von den dargelegten Grundsätzen wie das SG vom Beweismaßstab des Vollbeweises aus, weil es für den von der Klägerin behaupteten vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff am 30. April 2019 neben ihrem Ehemann als weiteren Zeugen auch den Herrn G1, den „italienischen Flaschensammler“, gibt, der im Rahmen des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens als Zeuge vernommen worden ist.
Zur Überzeugung des Senats ist demnach im Vollbeweis ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf die Klägerin am 30. April 2019 nicht nachgewiesen, was sich letztlich mit dem Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen deckt. Der einzige unbeteiligte Zeuge G1 hat einen Tatablauf geschildert, nach dem die Aggression, die letztlich zu der tätlichen Auseinandersetzung geführt hat, von der Klägerin ausgegangen ist, was in Übereinstimmung mit der noch unbeeinflussten Geschädigtenvernehmung ihres Ehemanns steht. Danach soll die Klägerin, die als einzig ältere Frau trotz der Dunkelheit gut zu identifizieren war, die Gruppe nicht nur auffällig provoziert, sondern der mehrfachen Aufforderung zu gehen keine Folge geleistet haben. Dazu passend hat ihr Ehemann anfangs geschildert, dass sie die Gruppe entgegen seinem Rat zur Rede stellen wollte, also ebenfalls die Aktion allein von ihr ausging. Es war also keinesfalls so, dass es sich um ein sozial-adäquates Verhalten gehandelt hat, dieses hätte vielmehr darin bestanden, die für die Klärung solcher Vorkommnisse zuständige Polizei zu holen.
Allein der Umstand, dass die Klägerin unstreitig eine körperliche Verletzung davon getragen hat, führt nicht dazu, dass sie als eindeutiges Opfer der tätlichen Auseinandersetzung zu betrachten ist. Der Beklagte hat dazu im Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 2021 für den Senat nachvollziehbar ausgeführt, dass die Handverletzung der Klägerin auch infolge der Notwehrreaktion eines Gruppenmitglieds oder durch ein lediglich vorsatzloses Beiseiteschieben mit anschließendem Sturz verursacht worden sein kann. Diese möglichen alternativen Geschehensabläufe sind auch zur Überzeugung des Senats nicht schlüssig widerlegbar, so dass die Annahme eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen die Klägerin im Vollbeweis nicht belegt ist.
Dessen ungeachtet sind die Angaben der Klägerin im Ermittlungs-, Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren derart widersprüchlich, das umso mehr im Abgleich mit denen ihres Ehemanns wie des Zeugen G1, dass ein Angriff auf sie nicht nachweisbar ist, worauf bereits das SG hingewiesen hat. Der Senat schließt sich nach eigener Prüfung diesen Ausführungen an (§ 153 Abs. 2 SGG).
Der erste Widerspruch ergibt sich hinsichtlich der geschilderten Tätlichkeiten. So hat die Klägerin im Formantrag auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG geltend gemacht, am 30. April 2019 getreten, geschlagen und auf den Boden geworfen worden zu sein. Sowohl in ihrer Geschädigtenvernehmung am 10. Mai 2019 als auch in ihren weiteren Ausführungen, insbesondere im erstinstanzlichen Termin zur Erörterung des Sachverhalts, hat sie hingegen von Schlägen gegen ihre Person nicht mehr berichtet, sondern lediglich, dass sie von ihrem Ehemann weggezogen und auf ihre rechte Hand getreten worden sei.
Der Zeuge G1 hat einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff auf die Klägerin am 30. April 2019 ebenfalls nicht bestätigen können. Er hat vielmehr ausgesagt, diese habe laut herumgeschrien, die anderen anwesenden Personen, mithin die Gruppe Jugendlicher, provoziert und selbst zugeschlagen. Besonders einprägsam für ihn war, dass die Klägerin nicht aufgehört habe zu provozieren, obwohl sie von den Jugendlichen immer wieder aufgefordert worden sei zu gehen. Dass die Klägerin ihrem auf dem Boden liegenden Ehemann geholfen habe, hat der Zeuge G1 ebenfalls nicht beobachtet, vielmehr sei nicht die Klägerin, sondern er diesem nicht nur einmal, sondern sogar zweimal zu Hilfe gekommen. Weder die Klägerin noch ihr Ehemann haben dem Zeugen G1 ein strafrechtlich relevantes Verhalten zu ihren Lasten vorgeworfen, womit bereits kein Motiv ersichtlich ist, dass dieser unzutreffende Angaben gemacht haben sollte.
Auch die Angaben ihres Ehemanns in dessen Geschädigtenvernehmung am 14. Mai 2019 stützen nicht die Ausführungen der Klägerin hinsichtlich der Nothilfe zu seinen Gunsten. Zum einen hat er ausgeführt, nachdem er auf den Bauch gefallen sei, sei ihm die Kapuze seiner Jacke über den Kopf gerutscht, so dass er nichts mehr habe sehen können. Mithin hat er auch nicht erkennen können, ob ihm überhaupt jemand und wenn, wer ihm – die Klägerin oder der Zeuge G1 – geholfen hat. Darüber hinaus hat er angegeben, sich an Schläge oder Tritte in den Rücken oder den Bauch, als er auf dem Boden gelegen habe, nicht erinnern zu können. Dies steht aber im Widerspruch zu den Aussagen der Klägerin bei der Geschädigtenvernehmung am 10. Mai 2019, wonach sie denjenigen der Jugendlichen in den Schwitzkasten genommen habe, der auf der Höhe der Hüfte ihres am Boden liegenden Ehemanns gekniet sei und mit seinen Fäusten auf dessen Bauch eingeschlagen habe.
Im Weiteren hat die Klägerin erstmals zur Klagebegründung im erstinstanzlichen Verfahren behautet, ihr Ehemann sei infolge des Angriffs gegen ihn in einen Brunnen gefallen. Dieser Umstand betrifft zwar nicht den vermeintlichen Angriff gegen sie, zeigt aber ein gesteigertes Vorbringen und belegt wiederum Unstimmigkeiten, ist damit ein weiterer Gesichtspunkt für die Unschlüssigkeit ihrer Aussagen. Ebenso hat die Klägerin einzig und allein im erstinstanzlichen Verfahren konträr zu ihrer vorherigen und auch nachfolgenden Schilderung des Tathergangs geltend gemacht, dass der erste Angriff auf sie und ihren Ehemann bereits auf der Brücke über die Donau stattgefunden habe.
Zutreffend hat das SG herausgearbeitet, dass die Klägerin nach ihren Angaben im erstinstanzlichen Erörterungstermin nunmehr bei der Nothilfe nicht – wie bislang behauptet – von zwei, sondern von drei Tätern nach hinten gezogen worden sein will. Ebenso will sie sich nunmehr beim Fallen nach hinten nicht – wie bis zu diesem Zeitpunkt angegeben – mit beiden Händen, sondern nur mit der linken Hand nach hinten abgestützt, sich die Verletzung der rechten Hand, die distale Radiusfraktur rechts, wie sie der Senat u. a. der erstinstanzlichen sachverständigen Zeugenaussage des R1 Chirurgische Gemeinschaftspraxis, entnimmt, infolge eines Tritts auf diese zugezogen haben. Mithin ergeben sich insofern nicht erklärbare Widersprüche in den Aussagen der Klägerin.
Gleiches gilt für die Aussage des im Erörterungstermin als Zeugen vernommenen Ehemann, die ebenso Inkonsistenzen aufweist, die Zweifel an dem Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs auf die Klägerin begründen. Während er bei seiner Geschädigtenvernehmung noch angegeben hat, wegen seiner über den Kopf gerutschten Kapuze seiner Jacke nichts mehr habe wahrnehmen zu können, will er nun gesehen haben, dass die Klägerin die einzige gewesen sei, die ihm geholfen habe und dabei selbst angegriffen worden sei. Dabei hat er weiterhin den eigentlichen Angriff auf die Klägerin, damit wie es zur Verletzung deren rechten Hand gekommen ist, nicht beschreiben können, da er auf dem Boden gelegen ist. Er hat nur die Schreie der Klägerin und ihre Aussage gegenüber dem Täter, dass er ihre Hand gebrochen habe, vernommen.
Die Aussagen der Klägerin und ihres Ehemanns stehen darüber hinaus im Gegensatz zu der des Zeugen G1, der angegeben hat, dass er und nicht die Klägerin dem Mann geholfen habe.
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin versucht, ihre und auch die ihres Ehemanns im erstinstanzlichen Erörterungstermin gemachten widersprüchlichen Angaben mit der emotionalen Belastung während dieses Termin zu erklären. Der Senat hält das in Anbetracht der aufgezeigten erheblichen Widersprüche bereits im staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren für nicht entkräftend.
Soweit die Klägerin als Schädigungsfolge neben den aus der distale Radiusfraktur rechts verbliebenen Gesundheitsstörungen eine PTBS geltend macht, kann diese zwar grundsätzlich nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG auch ihre Ursache in dem vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff auf ihren Ehemann haben (vgl. Rademacker in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG, Rz. 16). Einem diesbezüglichen Anspruch auf Beschädigtenversorgung steht aber, ebenso wie dem Anspruch der Klägerin wegen des vermeintlichen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs auf sie, § 2 OEG entgegen.
Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung entweder selbst verursacht hat (Alternative 1) oder wenn es aus sonstigen, insbesondere aus in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren (Alternative 2). Als Sonderfall der Unbilligkeit (Alternative 2) ist die Alternative 1 der Vorschrift – Mitverursachung – stets zuerst zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 R – BSGE 88, 96; vgl. zum Verhältnis der beiden Alternativen insbesondere BSG, Urteile vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89 – BSGE 66, 115 und vom 25. März 1999 – B 9 VG 1/98 R – BSGE 84, 54).
Eine Mitverursachung in diesem Sinne kann nur angenommen werden, wenn das Verhalten des Opfers nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm nicht nur einen nicht hinweg zu denkenden Teil der Ursachenkette, sondern eine wesentliche Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers darstellt (st. Rspr. des BSG, vgl. z. B. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, BSGE 83, 62). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der entschädigungsrechtliche Kausalitätsmaßstab nicht mit dem der gesetzlichen Unfallversicherung identisch ist. Während dort nur ein gegenüber den betrieblichen Gefahren deutlich überwiegendes selbstgeschaffenes Risiko den Versicherungsschutz ausschließt, führt auf dem Gebiet des OEG bereits eine etwa gleichwertige Mitverursachung zur Versagung der Entschädigung (vgl. BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89 – BSGE 66, 115).
Ein Leistungsausschluss ist unter dem Gesichtspunkt der Mitverursachung vor allem dann gerechtfertigt, wenn das Opfer in der konkreten Situation in ähnlich schwerer Weise wie der Täter gegen die Rechtsordnung verstoßen hat (vgl. BSG, Urteile vom 25. März 1999 – B 9 VG 1/98 R –, BSGE 84, 54 und vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94 –, BSGE 79, 87). Sie kann aber auch dann vorliegen, wenn das Opfer zwar keinen Straftatbestand erfüllt hat, sich aber leichtfertig durch eine unmittelbare, mit dem eigentlichen Tatgeschehen insbesondere zeitlich eng zusammenhängende Förderung der Tat, z. B. eine Provokation des Täters, der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und dadurch selbst gefährdet hat. Gleiches gilt, wenn sich das Opfer einer konkret erkannten Gefahr leichtfertig nicht entzogen hat, obwohl es ihm zumutbar und möglich gewesen wäre (vgl. BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 5/95 –, BSGE 77, 18; vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94 –, BSGE 79, 87 und vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, BSGE 83, 62).
Ein Hauptzweck des § 2 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 OEG ist es gerade, diejenigen von der Versorgung auszuschließen, die sich selbst bewusst oder leichtfertig in hohem Maße gefährden und dadurch einen Schaden erleiden. Wer bewusst oder leichtfertig ein hohes Risiko eingeht, hat die Folgen selbst zu tragen; das Opferentschädigungsrecht schützt ihn dann nicht. Das BSG hat im Opferentschädigungsrecht die bewusste oder leichtfertige Selbstgefährdung in Fällen einer hohen Gefahr immer als Leistungsausschlussgrund beurteilt. Die bewusste Selbstgefährdung hat das BSG nur dann nicht dem Opfer angelastet, wenn für sie ein beachtlicher Grund vorlag, so dass die Selbstgefährdung nicht missbilligt werden konnte. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich das Opfer nach der besonderen Fallgestaltung für andere eingesetzt hat (vgl. BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 5/95 –, juris, Rz. 16). Eine leichtfertige Selbstgefährdung in diesem Sinne setzt nach der Rechtsprechung des BSG einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit voraus, der etwa der groben Fahrlässigkeit i. S. d. bürgerlichen Rechtes entspricht (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 –, juris, Rz. 18). Es gilt jedoch im Gegensatz zum bürgerlichen Recht nicht der objektive Sorgfaltsmaßstab des § 267 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), sondern ein individueller Maßstab, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt (vgl. BSG, a. a. O.). Voraussetzung ist, dass das Opfer in hohem Maße vernunftwidrig gehandelt und es in grob fährlässiger Weise unterlassen hat, einer höchstwahrscheinlich zu erwartenden Gefahr auszuweichen (vgl. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 4/97 –, juris, Rz. 15). Zu prüfen ist danach, ob sich das Opfer auch hätte anders verhalten können oder müssen und ob es sich der erkannten oder grob fahrlässig nicht erkannten Gefahr nicht entzogen hat, obwohl dies ihm zumutbar gewesen wäre. Dafür ist die gesamte tatnahe Situation, wie sie sich nach natürlicher Betrachtungsweise darstellt, zu würdigen (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 –, juris, Rz. 18; Senatsurteil vom 21. März 2013 – L 6 VG 4354/12 –, juris, Rz. 38).
Ein annähernd gleichwertiger Verursachungsbeitrag des Opfers ist auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass eine Straftat von der Rechtsordnung stärker missbilligt wird als eine Selbstgefährdung des Opfers dieser Straftat (vgl. Senatsurteil vom 29. April 2014 – L 6 VG 4545/13 –, juris, Rz. 30).
Nach diesen Maßstäben ergibt sich hinsichtlich des Ereignisses vom 30. April 2019, dass die Klägerin und deren Ehemann die Gruppe Jugendlicher nicht nur provoziert, sondern sich auch leichtfertig selbstgefährdet haben.
Bereits der Grund für das Ansprechen der offenbar ersichtlich alkoholisierten und damit ganz offensichtlich erkennbar enthemmten großen Gruppe von Jugendlichen ist unklar geblieben, womit ein rechtfertigender Grund nicht objektiviert ist.
Soweit die Klägerin und ihr Ehemann in ihren Geschädigtenvernehmungen ihre Beleidigung als „fette Sau“ beim Überqueren der Brücke als maßgeblich dafür dargestellt haben, hat das SG zutreffend dargelegt, dass beide die Gruppe von der Brücke aus nicht haben sehen können. Daraus folgt aber zugleich, dass sie genauso wenig von der Gruppe haben wahrgenommen werden können. Deswegen ist unklar, ob es sich überhaupt um eine Beleidigung der Klägerin oder nicht vielmehr um einen nicht untypischen jugendlichen verbalen Austausch innerhalb der Gruppe gehandelt hat, also gar nicht auf die zu diesem Zeitpunkt nicht sichtbare Klägerin bezogen war. Viel wahrscheinlicher ist es damit, dass diese Äußerung, wenn sie von der Klägerin und deren Ehemann bereits auf der Brücke vernommen worden ist, innerhalb der Gruppe ausgesprochen worden ist und sich damit nicht auf die Klägerin bezogen hat. Damit hat eine angebliche Beleidigung für die Klägerin erkennbar kein Grund für das Ansprechen der Gruppe sein können, weswegen sie eine solche zunächst bei Antragstellung nicht erwähnt hat.
Selbst wenn die Klägerin aber von der Gruppe der Jugendlichen als „fette Sau“ beleidigt worden sein sollte, hätte ein Grund für das Ansprechen der Gruppe i. S. eines Notwehrrechts (§ 32 Strafgesetzbuch <StGB>) nicht vorgelegen. Denn zum Zeitpunkt des Ansprechens wäre die Klägerin keinem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff in Form einer Beleidigung mehr ausgesetzt gewesen. Nach dem Aussprechen der Beleidigung wäre der Angriff nämlich beendet und damit nicht mehr gegenwärtig i. S. d. § 32 Abs. 2 StGB gewesen.
Darüber hinaus hat der Ehemann der Klägerin bei seiner erstinstanzlichen Zeugenvernehmung ausgesagt, dass der Grund für das Ansprechen der Gruppe nicht die vermeintliche Beleidigung der Klägerin, sondern die zu laute Musik gewesen sei. Sie sei erst danach beleidigt worden, als sie die Gruppe hierauf angesprochen habe.
Im Weiteren hat der Ehemann der Klägerin dabei sogar eingeräumt, dass ihm die Gruppe der Jugendlichen bekannt gewesen sei. Sie hätten erkennbar Alkohol und Drogen konsumiert, ebenso sichtlich seien sie „auf Krawall gebürstet“ gewesen, weswegen er dem Konflikt aus dem Wege gehen wollte. Trotzdem hat seine Ehefrau auf der Auseinandersetzung bestanden. Vor dem Hintergrund der sichtbaren Aggressivität der Jugendlichen, derer infolge des Konsums von Alkohol und Drogen reduzierter Hemmschwelle und zudem deren Überzahl von 20 bis 30 Personen hat es indessen für die Klägerin und deren Ehemann eine offensichtliche leichtfertige Selbstgefährdung dargestellt, diese auf ein Fehlverhalten – sei es eine Beleidigung, zu laute Musik oder sonst ein sozial missbilligendes Verhalten – anzusprechen und zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Gegebenenfalls hätten sich die Klägerin und ihr Ehemann polizeilicher Hilfe bedienen müssen. Der Ehemann der Klägerin hat dieses Gefahrpotential auch erkannt, indem er nach seinen Angaben in seiner Geschädigtenvernehmung am 14. Mai 2019 erfolglos versucht hat, die Klägerin zum Weitergehen zu bewegen. Das impliziert zugleich, dass er diese auf die erkennbare Gefahrsituation hingewiesen, ihr diese mehrfach vor Augen geführt hat, so dass sie diese ebenfalls erkannt hat oder hätte erkennen müssen, was ebenfalls Leichtfertigkeit begründet.
Ein im Verlauf des Gesprächs mit den Jugendlichen gesteigerte Selbstgefährdung der Klägerin und deren Ehemanns, damit eine Provokation der Jugendlichen, hat zudem darin bestanden, dass sie deren Aufforderung sie in Ruhe zulassen, wie sie selbst in ihrer Geschädigtenvernehmung am 10. Mai 2019 dargelegt hat, zunächst keine Folge geleistet, erst nach nochmaliger Aufforderung die Örtlichkeit habe verlassen wollen. Dazu passend hat ihr Ehemann am 14. Mai 2019 bestätigt, die Gruppe hätte sie zunächst lediglich zum Weitergehen aufgefordert. Erst danach ist es nach beiderlei Aussage zu den Handgreiflichkeiten gekommen. Sie hätten demnach – für sie beide erkennbar – die Eskalation vermeiden können.
Die Aussage des Zeugen G1 unterstreicht das provozierende Verhalten der Klägerin. Demnach sei diesem besonderes auffallend eine Frau gewesen, die älter als der Rest der Gruppe gewesen sei, damit die Klägerin, die laut herumgeschrien und die Gruppe provoziert habe, obwohl sie mehrfach zum Gehen aufgefordert worden sei. Trotz dieser mehrfachen Aufforderung habe die Klägerin die Gruppe aber weiterhin provoziert und auch zugeschlagen. Auch ihr Ehemann habe, nachdem er nach dem ersten Angriff wieder aufgestanden sei, die Gruppe wieder angepöbelt.
Die von der Klägerin behauptete Zäsur zwischen dem Streitgespräch mit der Gruppe und dem Angriff auf ihren Ehemann, weil sie sich zuvor von der Gruppe hätten entfernen wollen, die einer Leistungsversagung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 OEG entgegenstehen soll, ist ein lebensfremdes Konstrukt und kann der Senat demzufolge bei dem einheitlichen Geschehen nicht erkennen. Es hat zwischen dem Streitgespräch und dem Angriff auf ihren Ehemann trotz des geltend gemachten beabsichtigten Entfernens weiterhin ein enger zeitlicher und örtlicher Zusammenhang und damit keine Zäsur bestanden (vgl. zur Zäsur auch Senatsurteil vom 21. März 2013 – L 6 VG 4354/12 –, juris, Rz. 42). Darüber hinaus hat der Ehemann der Klägerin als Zeuge im erstinstanzlichen Verfahren ausgesagt, der Angriff auf ihn sei unmittelbar am Ort des Antreffens der Jugendlichen erfolgt, demzufolge, dass sie beide sich zuvor nicht entfernt hätten, damit eine Zäsur gerade verneint.
Die Ausführungen der Klägerin und ihres Ehemanns wie die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen Grundlagen vermittelt. Weitere Ermittlungen waren deshalb nicht vorzunehmen. Es würde sich hierbei um Ermittlungen ins Blaue hinein handeln, mithin um eine Ausforschung des Sachverhaltes, zu der der Senat nicht verpflichtet ist (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – B 9 V 20/18 B –, juris, Rz. 19).
Nach alledem war die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG vom 28. März 2022 zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.