L 2 R 108/21

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 234/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 R 108/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 12 R 2/23 R
Datum
-
Kategorie
Urteil


I.    Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 29. März 2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II.    Die Beteiligten haben einander in beiden Instanzen keine Kosten zu erstatten.

III.    Die Revision wird zugelassen.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Befreiung der Klägerin von der Rentenversicherungspflicht für den Zeitraum vom 28. Oktober 2011 bis 31. Oktober 2016.

Die Klägerin verfügt über zwei abgeschlossene juristische Staatsexamina und war seit dem 25. Februar 2002 Pflichtmitglied der Beigeladenen zu 1) sowie ab dem 28. Februar 2002 Mitglied der Beigeladenen zu 2). Mit Bescheid vom 6. Mai 2002 befreite die Beklagte die Klägerin für ihre Beschäftigung als „Rechtsanwältin“ ab dem 1. März 2002 von der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung.

Am 28. Oktober 2011 nahm die Klägerin eine Beschäftigung bei der D. Bank AG (nach Umbenennung später E. Bank AG) in A-Stadt auf. Am 9. Dezember 2011 beantragte die Klägerin bei der Beigeladenen zu 2) für diese Beschäftigung die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht. Vorgelegt wurde eine Bescheinigung des Arbeitgebers vom 28. November 2011, wonach die Klägerin als Rechtsanwältin für das Vorstandssekretariat in der Organisationseinheit Strategie und Kommunikation beschäftigt sei. Die Klägerin betreue die Gremien des Hauses, insbesondere den Vorstand und den Aufsichtsrat bei allen Fragen, berate in rechtlichen Fragestellungen hinsichtlich der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Hauptversammlung und schätze die rechtlichen Risiken in der Organisationseinheit Strategie und Kommunikation ein. Sie bereite Rechtsstreitigkeiten vor und führe diese dann auch durch. Zu ihrem Aufgabenbereich gehörten zudem die Vorbereitung und Nachbereitung der Entscheidung des Vorstands, des Aufsichtsrats und der Hauptversammlung. Sie führe selbständig und unabhängig Korrespondenz. In ihre Zuständigkeit fielen zudem die Erstellung von Meldungen nach dem Kreditwesengesetz, Wertpapierhandelsgesetz und Handelsgesetzbuch. Sie müsse die unternehmensbezogenen Offenlegungs- und Veröffentlichungspflichten eigenständig gestalten. Darüber hinaus schule sie die Mitarbeiter und arbeite abstrakte Regelungskomplexe auf. Zudem passe sie interne Richtlinien und Musterformulare im Hinblick auf sich ergebende Änderungsnotwendigkeiten an.

Mit Bescheid vom 21. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Dezember 2012 lehnte die Beklagte die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht mit der Begründung ab, es handele sich nicht um eine berufsspezifische anwaltliche Tätigkeit. Eine hiergegen erhobene Klage wurde mit rechtskräftigem Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 16. Mai 2019 abgewiesen (S 6 R 255/16).

Mit Antrag vom 29. Februar 2016 beantragte die Klägerin bei der Beigeladenen zu 1) die Zulassung als Syndikusrechtsanwältin nach § 46a Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO). 

Mit Antrag vom 22. März 2016, eingegangen bei der Beklagten am 29. März 2016, beantragte die Klägerin bei der Beklagten die rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 231 Abs. 4b Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) und die Erstattung zu Unrecht gezahlter Pflichtbeiträge an die berufsständische Versorgungseinrichtung für Syndikusrechtsanwälte.

Mit weiterem Antrag vom 22. März 2016, eingegangen bei dem Beigeladenen zu 2) am 29. März 2016, weitergeleitet an die Beklagte am 1. April 2016, beantragte die Klägerin die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI für ihre am 28. Oktober 2011 aufgenommene Tätigkeit bei der E. Bank AG A-Stadt.

Mit Eingangsbestätigung vom 27. April 2016 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Bearbeitung der Befreiungsanträge bis zur Zulassung der Klägerin als Syndikusrechtsanwältin durch die Beigeladene zu 1) zurückgestellt werde.

Am 12. Juli 2016 wurde die Beklagte von der Beigeladenen zu 1) hinsichtlich der Zulassung der Klägerin als Syndikusrechtsanwältin angehört. Der Anhörung lag eine Kopie des Anstellungsvertrags der Klägerin mit der D. Bank AG sowie Vollmachts- und Kompetenzübertragungsschreiben des Arbeitgebers bei. Die Beigeladene zu 1) beabsichtige, die Zulassung zu erteilen. Der Beklagten wurde eine Frist zur Äußerung bis zum 28. Juli 2016 gewährt. Mit Schreiben vom 22. Juli 2016 teilte die Beklagte der Beigeladenen zu 1) mit, dass sie der beabsichtigten Zulassung nicht zustimme, da die Voraussetzungen des § 46 Abs. 3 BRAO nicht erfüllt seien. Die Klägerin sei nach dem eingereichten Anstellungsvertrag nicht fachlich unabhängig. Am 13. September 2016 erhielt die Beklagte von der Beigeladenen zu 1) eine Ergänzung zur Tätigkeitsbeschreibung der Klägerin durch den Arbeitgeber, datiert auf den 1. März 2016, mit der erneuten Gelegenheit, sich bis zum 4. Oktober 2016 zu äußern. Daraufhin teilte die Beklagte der Beigeladenen zu 1) am 4. November 2016 mit, dass gegen die beabsichtigte Zulassung nunmehr keine Bedenken mehr bestünden.

Bereits zum 31. Oktober 2016 hatte die Klägerin zwischenzeitlich ihre Beschäftigung bei der E. Bank AG beendet und ab dem 1. November 2016 eine Beschäftigung für einen neuen Arbeitgeber begonnen, für die sie mit Bescheid vom 20. Dezember 2016 von der Beigeladenen zu 1) als Syndikusrechtsanwältin zugelassen wurde. Eine Zulassung für die vorherige Tätigkeit bei der E. Bank AG wurde nicht ausgesprochen. Mit Bescheiden vom 19. Januar 2017 und 6. November 2017 befreite die Beklagte die Klägerin für die neu ausgeübte Tätigkeit ab dem 22. November 2016 (Datum der Antragstellung auf Befreiung) von der Rentenversicherungspflicht.

Mit Schreiben vom 24. November 2016 bestätigte die Beigeladene zu 1) der Klägerin, dass ihre Tätigkeit bei der E. Bank AG im Zeitraum vom 28. Oktober 2011 bis 31. Oktober 2016 den Anforderungen des § 46 Abs. 2 bis 5 BRAO entsprochen habe und ihr bei Fortführung ihrer Tätigkeit für die E. Bank AG die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft als Syndikusrechtsanwältin erteilt worden wäre.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin fragte mit Schreiben vom 19. Dezember 2016 bei der Beklagten an, ob im Hinblick auf das zeitliche Verschulden der Beklagten ausnahmsweise eine rückwirkende Befreiung möglich sei. Wäre die Zulassung als Syndikusrechtsanwältin vor der Beendigung der Beschäftigung bei der E. Bank AG erfolgt, hätte auch eine rückwirkende Befreiung ausgesprochen werden können.

Mit Bescheid vom 19. Januar 2017 lehnte die Beklagte den Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI für die am 28. Oktober 2011 aufgenommene Beschäftigung als Referentin bei der E. Bank AG A-Stadt ab. Zur Begründung führte die Beklagte aus, eine Befreiung könne nicht ausgesprochen werden, da die Klägerin aufgrund ihrer angeführten Beschäftigung kein Pflichtmitglied der Beigeladenen zu 1) sei. Die Beigeladene zu 1) habe ihrem Antrag auf Zulassung als Syndikusrechtsanwältin nach § 46a BRAO nicht zustimmen können. Zum Zeitpunkt der eventuellen Zulassung habe die Klägerin die Tätigkeit bei der E. Bank AG nicht mehr ausgeübt. Die Voraussetzungen für eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI lägen daher nicht vor.

Hiergegen legte die Klägerin am 22. Februar 2017 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 3. April 2017 zurückgewiesen wurde. Zur Begründung führte die Beklagte aus, einer Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI i.V.m. § 231 Abs. 4b SGB VI für die Beschäftigung vom 28. Oktober 2011 bis 31. Oktober 2016 als Referentin bei der E. Bank AG (vormals D. Bank AG) könne nicht entsprochen werden. Eine rückwirkende Befreiung nach § 231 Abs. 4b SGB VI setze u.a. das Vorliegen einer Befreiung von der Versicherungspflicht als Syndikusrechtsanwalt nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI unter Berücksichtigung der BRAO in der ab dem 1. Januar 2016 geltenden Fassung voraus. Für die Beschäftigung bei der E. Bank AG sei von der zuständigen Rechtsanwaltskammer keine Zulassung als Syndikusrechtsanwältin ausgesprochen worden. Versäume die Beklagte die von der Rechtsanwaltskammer bei ihrer Anhörung gesetzte Frist, so führe dies nicht zur Präklusion, sondern zum Recht der Rechtsanwaltskammer, ohne die Stellungnahme der Beklagten zu entscheiden. Nach Ablauf der Frist zum 4. Oktober 2016 hätte die Rechtsanwaltskammer ohne weitere Stellungnahme der Beklagten über den Antrag der Klägerin auf Zulassung als Syndikusrechtsanwältin vom 29. Februar 2016 entscheiden können, was bislang nicht geschehen sei. Gegen die Zulassungsentscheidung hätte der Klägerin ein Klagerecht vor dem Anwaltsgerichtshof zugestanden.

Gegen den ihren Prozessbevollmächtigten am 4. April 2017 zugestellten Widerspruchsbescheid erhob die Klägerin am 4. Mai 2017 Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main.

Mit Bescheid vom 31. August 2017 stellte die Beklagte die rückwirkende Befreiung der Klägerin nach § 231 Abs. 4b SGB VI für den Zeitraum vom 28. Oktober 2011 bis zum 31. Oktober 2016 für die Beschäftigung als Referentin bei der E. Bank AG fest. Bereits mit Bescheid vom 1. September 2017 nahm die Beklagte den Bescheid vom 31. August 2017 hinsichtlich der rückwirkenden Befreiung der Klägerin nach § 231 Abs. 4b SGB VI nach § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) wieder zurück. Die Klägerin könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, da sie zumindest grob fahrlässig die Rechtswidrigkeit des Bescheids verkannt habe. Es hätte ihr als Rechtsanwältin auffallen müssen, dass der Bescheid über die rückwirkende Befreiung fehlerhaft erfolgt sei, nachdem eine Zulassung als Syndikusrechtsanwältin für diese Beschäftigung von der Rechtsanwaltskammer Frankfurt am Main nicht ausgesprochen werden konnte. Ferner sei sie durchgängig von einem im Rechtsgebiet der Syndikusrechtsanwälte und dem damit in Zusammenhang stehenden sozialversicherungsrechtlichen Befreiungsrecht dieser Berufsgruppe äußerst rechtskundigen Rechtsbeistand vertreten worden. Im Hinblick auf die Wissenszurechnung im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X müsse sie sich sein Wissen analog § 166 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zurechnen lassen.

Mit Schreiben vom 5. September 2017 erklärte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin einen Rechtsmittelverzicht bezüglich des Bescheides vom 31. August 2017. Gegen den Bescheid vom 1. September 2017 legte die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten am 5. September 2017, nach ihren Angaben dem Tag der Zustellung, Widerspruch ein. Eine Anhörung nach § 24 SGB X sei nicht erfolgt. Zudem sei der Bescheid vom 31. August 2017 rechtmäßig, da die Klägerin einen Anspruch auf die ausgesprochene Befreiung habe. Mit Schreiben vom 11. April 2018 holte die Beklagte die Anhörung der Klägerin zur Aufhebung des Bescheides vom 31. August 2017 nach. Das Widerspruchsverfahren wurde im Hinblick auf das vorliegende Berufungsverfahren ruhend gestellt.

Die Klägerin beantragte erstinstanzlich, den Bescheid vom 1. September 2017 aufzuheben, hilfsweise, den Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 3. April 2017 aufzuheben und die Klägerin für die Zeit vom 28. Oktober 2011 bis 31. Oktober 2016 für die Tätigkeit bei der E. Bank AG bzw. ihrer Rechtsvorgängerin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien.

Mit Urteil vom 29. März 2021 hob das Sozialgericht den Bescheid vom 1. September 2017 mit der Begründung auf, streitgegenständlich sei der Bescheid vom 1. September 2017, mit welchem die Beklagte den Befreiungsbescheid vom 31. August 2017 zurückgenommen habe. Bei Klageerhebung am 4. Mai 2017 sei Streitgegenstand des Klageverfahrens noch der Bescheid vom 19. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. April 2017 und die darin enthaltene Ablehnung der Beklagten gewesen, die Klägerin für den Zeitraum vom 28. Oktober 2011 bis 31. Oktober 2016 von der Rentenversicherungspflicht zu befreien. Mit Bescheid vom 19. Januar 2017 habe die Beklagte zunächst nur die Befreiung der Klägerin von der Rentenversicherungspflicht für die Zukunft nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI abgelehnt. Im Widerspruchsbescheid vom 3. April 2017 habe die Beklagte sodann ihre Entscheidung erweitert, indem sie die Ablehnung der Befreiung für die Zukunft bestätigt habe und zugleich die Befreiung für die Vergangenheit ab dem 28. Oktober 2011 nach § 231 Abs. 4b SGB VI ausdrücklich ebenfalls abgelehnt habe. Sodann seien die weiteren Bescheide vom 31. August und 1. September 2017 nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) streitgegenständlich geworden, da sie die Ablehnung der Befreiung zunächst durch positive Entscheidung abgeändert (Bescheid vom 31. August 2017) und sodann diese Entscheidung wieder aufgehoben habe (Bescheid vom 1. September 2017). Auf diese von Gesetzes wegen eingetretenen Änderungen des Streitgegenstands habe die Klägerin durch sachgemäße Umstellung ihrer Klageanträge reagiert, worin jedoch keine Klageänderung nach § 99 Abs. 1 SGG liege. Der Bescheid vom 1. September 2017 sei rechtswidrig, da die Beklagte ihr im Rahmen des § 45 SGB X auszuübendes Ermessen nicht entsprechend der gesetzlichen Vorgaben ausgeübt habe. Es liege ein Ermessensfehlgebrauch vor, da die Beklagte keine nachvollziehbare Abwägung der für und wider eine Aufhebung sprechenden Gründe ausgeführt habe. Die Ermessensausübung beschränke sich auf den Satz „Ermessensgründe, die gegen eine Rücknahme des Bescheides vom 31. August 2017 sprechen könnten, sind jedoch nicht ersichtlich.“ Weitere Ausführungen dazu, welche Punkte die Beklagte in ihre Abwägung eingestellt und wie diese gewichtet worden seien, seien nicht ersichtlich. Zur Überzeugung des Gerichts biete der vorliegende Sachverhalt jedoch mehrere in eine solche Abwägung einzustellende Gesichtspunkte. Der Erlass des Befreiungsbescheids vom 31. August 2017 beruhe ausschließlich darauf, dass der die Verwaltungsakten bearbeitende Sachbearbeiter der Beklagten einem Irrtum unterlegen gewesen sei. Er habe die Zulassung der Klägerin als Syndikusrechtsanwältin ab dem 1. November 2016 zugrunde gelegt, ohne zu erkennen, dass es sich um eine andere Beschäftigung bei einem neuen Arbeitgeber gehandelt habe. Zudem seien im Rahmen der Rücknahmeentscheidung die damit verbundenen Folgen der (möglicherweise rechtswidrigen) Befreiung im Vergleich zur Aufhebung derselben und die damit einhergehenden Interessen der Versichertengemeinschaft und der Klägerin zu berücksichtigen gewesen. Die Klägerin habe im Zeitraum vom 28. Oktober 2011 bis 31. Oktober 2016 Rentenversicherungszeiten erworben, im Übrigen liege eine lückenlose Erwerbsbiographie im Versorgungssystem der Rechtsanwälte vor, insbesondere auch im Zeitraum bis zum 31. Oktober 2016. Unerheblich sei, ob die Entscheidung der Beklagten auch bei Einstellung und Abwägung dieser Punkte weiterhin wie im Bescheid vom 1. September 2017 ausgefallen wäre. Eine Ermessensreduzierung auf Null liege nicht vor.

Gegen das ihr am 31. März 2021 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 28. April 2021 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt.

Die Beklagte ist im Wesentlichen der Auffassung, der angegriffene Bescheid vom 19. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. April 2017 sei rechtmäßig. Unabdingbare Voraussetzung für die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI als Syndikusrechtsanwalt nach § 46 BRAO in der ab 1. Januar 2016 geltenden Fassung sei eine bestandskräftige Zulassung durch die Rechtsanwaltskammer. Aufgrund welcher Umstände eine Zulassung als Syndikusrechtsanwalt nicht erwirkt werden konnte, sei nach dem Wortlaut des Gesetzes für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage unerheblich. Die Klägerin habe für die in der Zeit vom 28. Oktober 2011 bis 31. Oktober 2016 bei der E. Bank AG (vormals D. Bank AG) ausgeübte Beschäftigung keine Zulassung besessen. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts sei die im Bescheid vom 1. September 2017 gegenständliche Befreiung nach § 231 Abs. 4b SGB VI nicht nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. 

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 29. März 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Sie sei mittlerweile als Syndikusrechtsanwältin zugelassen worden und wäre auch für die vorhergehende Tätigkeit bei der E. Bank AG als Syndikusrechtsanwältin zugelassen worden, wenn die Beigeladene zu 1) und die Beklagte ihren Antrag ordnungsgemäß behandelt hätten. Sie habe aufgrund der Besonderheiten einen Anspruch auf rückwirkende Befreiung. Der Bescheid vom 31. August 2017 sei rechtmäßig, der Aufhebungsbescheid vom 1. September 2017 sei rechtswidrig.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakte, die Gegenstand der Beratung des Senats gewesen sind, Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die statthafte Berufung (§§ 143, 144 Abs. 1 SGG) der Beklagten ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 Abs. 1 SGG).

Die Berufung ist auch begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 29. März 2021 kann keinen Bestand haben.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Befreiung der Klägerin von der Rentenversicherungspflicht als Rechtsanwältin oder Syndikusrechtsanwältin nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI. Nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens ist - entgegen der Ansicht des Sozialgerichts - eine rückwirkende Befreiung der Klägerin von der Rentenversicherungspflicht als Syndikusrechtsanwältin nach § 231 Abs. 4b SGB VI. Der von der Klägerin angefochtene Bescheid vom 19. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. April 2017 hat sich durch die zwischenzeitlich mit Bescheid vom 31. August 2017 ausgesprochene rückwirkende Befreiung nach § 231 Abs. 4b SGB VI für den Zeitraum vom 28. Oktober 2011 bis 31. Oktober 2016 nicht in sonstiger Weise im Sinne des § 39 Abs. 2 SGB X erledigt. Der Bescheid vom 31. August 2017 wurde insoweit nicht nach § 96 Abs. 1 SGG Streitgegenstand des bereits anhängigen Klageverfahrens über die Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, da es sich bei der Befreiung als Rechtsanwalt nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI und der rückwirkenden Befreiung als Syndikusrechtsanwalt nach § 231 Abs. 4b SGB VI um unterschiedliche Streitgegenstände handelt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Beschluss vom 22. März 2018, B 5 RE 12/17 B; hierzu auch die Anmerkung von B. Schmidt in NZS 2018, 552; BSG, Urteil vom 28. Juni 2018, B 5 RE 2/17 R) ergibt sich bereits aus dem Vergleich der Verfügungssätze beider Bescheide, dass die Regelungstatbestände nicht identisch sind. Während sich der Bescheid vom 19. Januar 2017 nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI auf den Status der Klägerin als Rechtsanwältin bezieht, bezieht sich der Bescheid vom 31. August 2017 auf ihren - in diesem Fall vermeintlichen - Status als Syndikusrechtsanwältin. Diese veränderte Tatsachengrundlage führt auch zu einer Änderung des Streitstoffs der gerichtlichen Auseinandersetzung. Die Ablehnung des einen Tatbestandes stellt keine Änderung oder Ersetzung des jeweils anderen Tatbestandes dar. Insbesondere handelt es sich nicht lediglich um zwei abweichende Begründungen ein und derselben Regelung (vgl. Urteil des Senats vom 18. Mai 2021, L 2 R 30/21).

Die Beklagte hat die Regelungsgegenstände auch nicht im Rahmen des Widerspruchsbescheids vom 3. April 2017 rechtlich verbunden. Die Klägerin hat durch ihre beiden Anträge vom 29. März 2016 zwei separate Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt, gerichtet einerseits auf die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, andererseits auf die rückwirkende Befreiung von der Rentenversicherungspflicht als Syndikusrechtsanwältin nach § 231 Abs. 4b SGB VI. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Bescheids vom 19. Januar 2017 wurde der Antrag hinsichtlich der Befreiung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI von der Beklagten abgelehnt. Eine Bescheidung des Antrags nach § 231 Abs. 4b SGB VI erfolgte zunächst nicht. Gegen den von der Beklagten allein im Hinblick auf § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI erlassenen Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein und setzte ein Widerspruchsverfahren (Vorverfahren im Sinne des § 83 SGG) in Gang. Dieses Widerspruchsverfahren wurde mit Bescheid vom 3. April 2017 beendet und der Widerspruch durch die Widerspruchsstelle der Beklagten zurückgewiesen. Wörtlich heißt es insoweit:
„die [...] Widerspruchsstelle hat Ihren Widerspruch gegen den Bescheid vom 19.01.2017 geprüft und beschlossen:
Der Widerspruch wird zurückgewiesen.
Die Ihnen durch das Widerspruchsverfahren entstandenen Aufwendungen werden nicht erstattet.“

Die Auslegung eines Verwaltungsakts hat ausgehend von seinem Verfügungssatz und der Heranziehung des in § 133 BGB ausgedrückten allgemeinen Rechtsgedankens zu erfolgen, so dass es nicht auf den Buchstaben, sondern auf den wirklichen Willen der Behörde oder des Verwaltungsträgers ankommt, soweit er im Bescheid greifbar seinen Niederschlag gefunden hat. Für die Ermittlung des erklärten Willens sind dabei auch die Umstände und Gesichtspunkte heranzuziehen, die zur Aufhellung des Inhalts der Verfügung beitragen können und die dem Beteiligten bekannt sind, wenn der Verwaltungsakt sich erkennbar auf sie bezieht. Maßstab der Auslegung ist insofern der verständige und Zusammenhänge berücksichtigende Beteiligte (BSG, Beschluss vom 22. März 2018, B 5 RE 12/17 B m.w.N.).

Unter Beachtung dieser Vorgaben ist der Bescheid vom 3. April 2017 lediglich dahingehend zu verstehen, dass er den Widerspruch gegen den Bescheid vom 19. Januar 2017 zurückweist. Demgegenüber kann dem Widerspruchsbescheid aus seinem Verfügungssatz nicht entnommen werden, dass er eine inhaltliche Regelung im Hinblick auf den weiteren und bis dahin noch nicht beschiedenen Antrag der Klägerin vom 29. März 2016 zu einer rückwirkenden Befreiung nach § 231 Abs. 4b SGB VI treffen wollte. Gegen eine solche Auslegung spricht zudem, dass die nach § 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG bestimmte Widerspruchsstelle der Beklagten für eine solche Erstentscheidung über den Antrag sachlich nicht zuständig gewesen wäre. Der Beklagten kann im Rahmen der Auslegung aber nicht unterstellt werden, im Zweifel rechtswidrig gehandelt zu haben. Soweit im weiteren Wortlaut des Widerspruchsbescheids - nach der Kostenentscheidung und nach einer gedrängten Zusammenfassung des Sachverhalts - das Begehren der Klägerin unter Bezugnahme auf die Tatbestandsvoraussetzungen des § 231 Abs. 4b SGB VI abgelehnt wird, handelt es sich um eine fehlerhafte Begründung, welche die im Verfügungssatz getroffene Regelung nicht zu stützen vermag. Eine Erweiterung der Regelungswirkung und damit des Gegenstands des Widerspruchsbescheids erfolgte hierdurch nicht.

Mangels Identität der Regelungsgegenstände wurden - entgegen der Ansicht des Sozialgerichts - weder der Befreiungsbescheid vom 31. August 2017 noch der Aufhebungsbescheid vom 1. September 2017 Gegenstand des laufenden Klageverfahrens. Eine Entscheidung in der Sache obliegt der Beklagten im Rahmen des derzeit ruhenden Widerspruchsverfahrens gegen den Bescheid vom 1. September 2017. Die dem erstinstanzlichen Klageantrag der Klägerin, den Bescheid vom 1. September 2017 aufzuheben, zugrundeliegende Anfechtungsklage ist mangels durchgeführten Vorverfahrens im Sinne des § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG als Prozessvoraussetzung unzulässig.

Gegenstand ist weiterhin der Hilfsantrag der Klägerin, den Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 3. April 2017 aufzuheben und die Klägerin für die Zeit vom 28. Oktober 2011 bis 31. Oktober 2016 für die Tätigkeit bei der E. Bank AG bzw. ihrer Rechtsvorgängerin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien.

Die insoweit erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist zulässig, insbesondere liegt eine Befreiung der Klägerin von der Rentenversicherungspflicht nicht bereits aufgrund des Befreiungsbescheids vom 6. Mai 2002 vor. Die damals ausgesprochene Befreiung der Klägerin für ihre Beschäftigung als „Rechtsanwältin“ war beschäftigungsbezogen (vgl. Urteil des Senats vom 13. Dezember 2022, L 2 R 135/20 unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 16. Juni 2021, B 5 RE 4/20 R; Urteil vom 23. September 2020, B 5 RE 6/19 R m.w.N.) und endete mit Wechsel der Beschäftigung, hier spätestens mit Wechsel des Arbeitgebers und Aufnahme einer neuen Beschäftigung für die D. Bank AG ab dem 28. Oktober 2011.

Die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist jedoch unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 19. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. April 2017 ist rechtmäßig und beschwert die Klägerin nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI.

Soweit die Klägerin mit ihrem Antrag vom 29. März 2016 eine rückwirkende Befreiung von der Rentenversicherungspflicht ab dem 28. Oktober 2011 geltend macht, steht ihr bis zum frühesten möglichen Zeitpunkt des Beginns der Befreiung, d.h. nach § 6 Abs. 4 Satz 1 SGB VI frühestens drei Monate vor Antragstellung, die nach Rechtskraft des Gerichtsbescheids vom 16. Mai 2019 bestandskräftige und für die Beteiligten bindende (§ 77 SGG) Ablehnung der Befreiung mit Bescheid vom 21. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Dezember 2012 entgegen.

Die Klägerin hat auch für die Folgezeit auf ihren erneuten Antrag vom 29. März 2016 nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI unter Berücksichtigung der ab dem 1. Januar 2016 maßgeblichen berufsrechtlichen Vorschriften keinen Anspruch auf Befreiung von der Rentenversicherungspflicht.

Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI werden Beschäftigte und selbständig Tätige für die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit, wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind, von der Versicherungspflicht befreit, wenn
a) am jeweiligen Ort der Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit für ihre Berufsgruppe bereits vor dem 1. Januar 1995 eine gesetzliche Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der berufsständischen Kammer bestanden hat,
b) für sie nach näherer Maßgabe der Satzung einkommensbezogene Beiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zur berufsständischen Versorgungseinrichtung zu zahlen sind und
c) aufgrund dieser Beiträge Leistungen für den Fall verminderter Erwerbsfähigkeit und des Alters sowie für Hinterbliebene erbracht und angepasst werden, wobei auch die finanzielle Lage der berufsständischen Versorgungseinrichtung zu berücksichtigen ist.

Die Klägerin war im streitigen Zeitraum abhängig beschäftigt (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch <SGB IV>) als Referentin/Rechtsanwältin für das Vorstandssekretariat in der Organisationseinheit Strategie und Kommunikation in einem Arbeitsverhältnis bei der D. Bank AG/E. Bank AG (§ 611 BGB) und aufgrund dieser Beschäftigung auch rentenversicherungspflichtig (§ 1 Satz 1 Nr. 1 Halbs. 1 Alt. 1 SGB VI). Die Zulassung als Rechtsanwältin bei der Beigeladenen zu 1) mit gleichzeitiger verpflichtender Mitgliedschaft bei dem Beigeladenen zu 2) führt zwar dazu, dass die formalen Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI erfüllt sind. Allerdings gibt § 6 Abs. 1 Satz Nr. 1 SGB VI versicherungspflichtig Beschäftigten, die gleichzeitig verkammerte Mitglieder einer berufsständischen Versorgungseinrichtung sind, einen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht nur für die „Beschäftigung, wegen der“ sie auf Grund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind. Dies ist aber ausschließlich die anwaltliche Tätigkeit. Die Klägerin erfüllte im gegenständlichen Zeitraum bis zum 31. Oktober 2016 als angestellte Beschäftigte eines nicht-anwaltlichen Arbeitgebers in Form einer „Rechtsanwältin für das Vorstandssekretariat in der Organisationseinheit Strategie und Kommunikation“ zur Überzeugung des Senats nicht die Voraussetzungen für eine unabhängige Tätigkeit als Rechtsanwältin im Sinne der §§ 1, 3 Abs. 1 BRAO. In der Sache war dies bereits Gegenstand des bestandskräftigen Ablehnungsbescheids vom 21. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Dezember 2012.

Hinsichtlich der Frage, ob die Klägerin im gegenständlichen Zeitraum entsprechend ihres Antrags auf Zulassung als Syndikusrechtsanwältin nach § 46a BRAO für ihren Arbeitgeber anwaltliche Tätigkeiten im Sinne des § 46 Abs. 2 bis 5 BRAO ausgeübt hat - was in der Sache sowohl der Ansicht der Beigeladenen zu 1) als auch nunmehr der Beklagten entsprechen dürfte - ist die Beklagte nach § 46a Abs. 2 Satz 4 BRAO bei der Befreiungsentscheidung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 3 SGB VI an die (formell und materiell) bestandskräftige Entscheidung der Rechtsanwaltskammer gebunden. Die Zulassungsentscheidung hat rechtsgestaltende Wirkung und ist notwendige Voraussetzung für die Annahme einer anwaltlichen Tätigkeit (Gürtner in: Kasseler Kommentar, SGB VI, Stand: 01.07.2021, § 6, Rn. 7d).

Mit der erteilten Zulassung als Syndikusrechtsanwalt stellt die zuständige fachkundige Rechtsanwaltskammer nach den Regeln des Berufsrechts, auf welche der sozialversicherungsrechtliche Tatbestand des § 6 SGB VI Bezug nimmt, verbindlich das Vorliegen einer Tätigkeit, die zur Mitgliedschaft im Versorgungswerk führt, für den Träger der Rentenversicherung fest. Durch die gesetzliche Anordnung der Bindungswirkung wird vermieden, dass die berufsrechtliche und sozialversicherungsrechtliche Beurteilung der Frage, ob eine Tätigkeit als Syndikusrechtsanwalt und damit eine Pflichtmitgliedschaft in dem berufsrechtlichen Versorgungswerk vorliegen, voneinander abweichen (vgl. BT-Drs. 18/5201, S. 33).

Dem Rentenversicherungsträger ist es verwehrt, anstelle der Rechtsanwaltskammer über den Status des Versicherten als Syndikusrechtsanwalt zu entscheiden. Es obliegt dem Rentenversicherungsträger nicht, die Voraussetzungen des § 46 Abs. 2 bis 5 BRAO im Rahmen des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI eigenständig zu prüfen und eine Befreiung von der Versicherungspflicht allein auf die Annahme einer anwaltlichen Tätigkeit als Syndiskusrechtsanwalt im Sinne des § 46 Abs. 2 Satz 1 BRAO zu stützen. Erst mit Zulassung als Syndikusrechtsanwalt wird der Versicherte zur Rechtsanwaltschaft zugelassen und nach § 12 Abs. 3 BRAO „wegen seiner Tätigkeit“ Mitglied der Rechtsanwaltskammer und Pflichtmitglied im zuständigen Versorgungswerk (Segebrecht in Kreikebohm/Roßbach, SGB VI, 6. Aufl. 2021, § 6, Rn. 29). Im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI ist die Zulassung als Syndikusrechtsanwalt damit konstitutiv für die Befreiung von der Versicherungspflicht.

Vorliegend hat die Beigeladene zu 1) auf den Antrag der Klägerin vom 29. Februar 2016 keine Zulassung als Syndikusrechtsanwältin nach § 46a BRAO erteilt. Unter Verweis auf die zwischenzeitlich erfolgte Aufnahme einer neuen Beschäftigung für einen anderen Arbeitgeber hat die Beigeladene zu 1) der Klägerin lediglich eine Zulassung als Syndikusrechtsanwältin für die neue Tätigkeit erteilt, nicht für die hier gegenständliche Beschäftigung bis zum 31. Oktober 2016. Ohne Zulassung als Syndikusrechtsanwältin kann die Ausübung einer anwaltlichen Tätigkeit zum Zwecke der Befreiung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI von der Beklagten im Hinblick auf § 46a Abs. 2 Satz 4 BRAO nicht anerkannt werden.

Die Zulassung der Klägerin als Syndikusrechtsanwältin kann schließlich auch nicht im Rahmen des sozialgerichtlichen Verfahrens durch das Gericht ersetzt werden. Für die nach § 46a Abs. 2 Satz 1 BRAO der zuständigen Rechtsanwaltskammer obliegende Entscheidung über die Zulassung als Syndikusrechtsanwalt ist nach § 112a Abs. 1 BRAO der Rechtsweg zu den Anwaltsgerichtshöfen eröffnet. Auch wenn es vorliegend an einer entsprechenden Verwaltungsentscheidung der Beigeladenen zu 1) bislang ganz fehlt, ist es dem Gericht verwehrt, im Rahmen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI die Voraussetzungen der Zulassung zum Syndikusrechtsanwalt nach § 45 Abs. 2 bis 5 BRAO in eigener Kompetenz zu prüfen und hierauf aufbauend einen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht anzunehmen.

Die Klägerin kann auch nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs von der Beklagten verlangen, so gestellt zu werden, als ob sie vor Wechsel der Beschäftigung zum 1. November 2016 als Syndikusrechtsanwältin zugelassen worden wäre. Die Klägerin kann insbesondere keine schuldhafte Verzögerung des Zulassungsverfahrens durch die Beklagte geltend machen.

Der von der Rechtsprechung entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder eines konkreten Sozialrechtsverhältnisses der Versicherten gegenüber erwachsenden Haupt- und Nebenpflichten, insbesondere zur Auskunft und Beratung, ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Er hat zur Voraussetzung, dass der Sozialleistungsträger eine ihm auf Grund Gesetzes oder Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung (§§ 14, 15 Sozialgesetzbuch Erstes Buch <SGB I>), verletzt hat, dem Betroffenen ein Nachteil entstanden ist und dass zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Schließlich muss der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können (st.Rspr., vgl. u.a. BSG, Urteil vom 26. April 2005, B 5 RJ 6/04 R).

Der Beklagten ist vorliegend keine Pflichtverletzung vorzuwerfen. Vor dem Hintergrund der Bindungswirkung der Zulassung zum Syndikusrechtsanwalt hat der Gesetzgeber im Zulassungsverfahren nach § 46a Abs. 2 Satz 1 BRAO eine Anhörung des Trägers der Rentenversicherung zur Wahrung seiner Rechte eingeführt (BT-Drs. 18/5201, S. 33). Er soll damit die Möglichkeit erhalten, frühzeitig die Erwägungen, die aus seiner Sicht gegen eine Zulassung als Syndikusrechtsanwalt und eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht sprechen, vorzubringen. Das Erfordernis einer Zustimmung oder eines Einvernehmens des Trägers der Rentenversicherung sieht § 46a BRAO indes nicht vor. Das Letztentscheidungsrecht bleibt bei den Rechtsanwaltskammern. Den Rechtsanwaltskammern soll das Anhörungsrecht ermöglichen, sich bereits frühzeitig mit den Erwägungen, die aus Sicht des Trägers der Rentenversicherung gegen eine Zulassung sprechen, auseinanderzusetzen und diese im Rahmen des Zulassungsverfahrens zu berücksichtigen. Es obliegt grundsätzlich der pflichtgemäßen Ermessensentscheidung der Rechtsanwaltskammern, wie sie die Anhörung im Einzelnen vornehmen. Die jeweilige Rechtsanwaltskammer kann dem Träger der Rentenversicherung eine angemessene Frist zur Stellungnahme setzen und die für eine sachgerechte Prüfung notwendigen Unterlagen übersenden. Versäumt der Träger der Rentenversicherung die Frist, führt dies nicht zu einer Präklusion. Die Rechtsanwaltskammer kann in diesem Fall ohne die Stellungnahme entscheiden (BT-Drs. 18/5201, S. 33).

Ausgehend von diesen Maßgaben durfte die Beigeladene zu 1) der Beklagten im Rahmen des Anhörungsverfahrens nach § 46a Abs. 2 Satz 1 BRAO eine Frist zur Stellungnahme bis zum 4. Oktober 2016 setzen. Das Versäumen der Frist zur Stellungnahme stellt jedoch keine Pflichtverletzung der Beklagten gegenüber der Klägerin dar, da die Beklagte im Rahmen des Anhörungsverfahrens zur Wahrung ihrer eigenen Rechte zwar ein Recht, aber keine Pflicht zur Stellungnahme hat. Die Beigeladene zu 1) war nicht daran gehindert, nach Ablauf der Frist zur Stellungnahme in der Sache zu entscheiden (vgl. Weyland, BRAO, § 46a, Rn. 21).

Das Urteil des Sozialgerichts war demnach aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen. Die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG sind erfüllt, da die Frage der Bindung an das Vorliegen einer formalen Zulassung als Syndikusrechtsanwalt für die Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI sowohl für den Rentenversicherungsträger als auch das Gericht noch nicht höchstrichterlich entschieden wurde.
 

Rechtskraft
Aus
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