L 4 KR 15/18

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 3 KR 781/14
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 15/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

 

1. Bei der von der Klägerin begehrten Kostenerstattung für die durchgeführten therapeutischen Apheresebehandlungen handelt es sich um eine neue, ambulante Behandlungsmethode, für die es an der erforderlichen positiven Entscheidung des G-BA fehlt.

2. Zur fehlenden Indikation für eine Apheresebehandlung.

3. Die Voraussetzungen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V liegen bei der Klägerin nicht vor.

4. Es liegt auch kein Systemversagen vor.

 

I.     Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgericht München vom 21. November 2017 wird zurückgewiesen.

II.     Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III.    Die Revision wird nicht zugelassen.

T a t b e s t a n d :

Die Klägerin und Berufungsklägerin begehrt die Erstattung von Behandlungskosten in Höhe von 15.325,30 EUR für ambulant durchgeführte therapeutische Apheresebehandlungen (sog. Blutwäsche).

Die 1969 geborene Klägerin leidet gemäß Attest des M vom 04.11.2013 an einer chronischen Multisystemerkrankung (CMI), die unter anderem mit einer besonders schweren Form multipler Chemikaliensensitivität (MCS) einhergehe, sowie einem chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS) und einer Borreliose im Spätstadium. Es sei aus ärztlicher Sicht dringend zu empfehlen, der Patientin eine Apheresebehandlung zu erstatten. Anderweitige, bei der Erkrankung anwendbare Therapien verursachten auch bei vorsichtigem Gebrauch schwere Nebenwirkungen bis hin zu passageren linksbetonten Paresen. Die Klägerin beantragte bei der Beklagten am 20.12.2013 die Übernahme der Kosten einer therapeutischen Apheresebehandlung. Beigefügt war eine ärztliche Stellungnahme des Facharztes für Innere Medizin und Nephrologie S (Medical Center Tagesklinikum C) vom 16.12.2013. Als Diagnosen wurden darin benannt eine schwerstgradige Chemikaliensensitivität als chronisch chemische Verletzung, als chronische Multisystemerkrankung und Dekompensation des neuro-endokrinen-Immunregulationssystems (NEIS). Die Erkrankung sei gleichzusetzen "mit AIDS und Krebs, also lebenszerstörend und lebensbedrohlich zugleich" (Seite 1). Die therapeutische Apheresebehandlung sei als Ultima Ratio-Therapie bei komplexer, mit Standardtherapie nicht effektiv zu behandelnder chronischer inflammatorischer Multisystemerkrankung erforderlich.
Die erste Behandlung erfolgte ausweislich der Rechnung von S bereits am 12.12. 2013.

Die Beklagte holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Bayern (MDK, jetzt MD) vom 20.01.2014 ein. Als Diagnosen bestünden eine Somatisierungsstörung und der Verdacht auf eine Systemerkrankung. Eine medizinische Indikation für die beantragte Maßnahme liege nicht vor.

Nach Vorlage weiterer umfangreicher ärztlicher Berichte durch die Klägerin beauftragte die Beklagte erneut den MDK, der in einem Gutachten vom 14.02.2014 weiterhin die Ablehnung der therapeutischen Apherese als primäres experimentelles Verfahren bei im Vordergrund stehender somatoformer Schmerzstörung empfahl. Sie stelle keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) dar. Die Apheresebehandlung bei hier vorliegender Indikation sei von der vertragsärztlichen Versorgung mit Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) ausgeschlossen. Die neue Behandlungsmethode könne nach dem Beschluss des G-BA nur im Ausnahmefall als Ultima Ratio bei therapierefräkteren Verläufen bei Hypercholesterinämie (Störungen des Fettstoffwechsels), isolierter Lp(a)-Erhöhung und aktiver rheumatoider Arthritis als vertragsärztliche Leistung erbracht werden. Es wurde eine fachärztliche Mitbehandlung psychosomatisch und schmerztherapeutisch sowie verhaltenstherapeutisch empfohlen.
Auch liege keine akut lebensbedrohliche Erkrankung im Sinne des § 2 Abs. 1a SGB V vor.

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 21.02.2014 ab, da die Richtlinie des G-BA in Nr. 1 § 3 Anlage I "Anerkannte Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden" der "Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung" (MVV-RL) die Durchführung einer therapeutischen Apherese bei der Indikation MCS nicht vorsehe.

Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte ein weiteres Gutachten des MDK vom 04.03.2014 und 19.03.2014 ein. Der MDK bekräftigte, dass eine medizinische Notwendigkeit für die beantragte Maßnahme bei der Klägerin nicht bestehe. Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 05.06.2014 zurück.

Die Klägerin hat Klage beim Sozialgericht München erhoben und ihren Anspruch auf Kostenerstattung weiterverfolgt. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von M1 auf nephrologischem, internistischem, pharmakologischem und toxikologischem Fachgebiet. M1 ist in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 07.12.2016 zu dem Ergebnis gelangt, dass für keine der bei der Klägerin festgestellten Diagnosen multiple Chemikaliensensitivität, chronische Multisystemerkrankung, Borreliose im Spätstadium bzw. chronisches Erschöpfungssyndrom eine Apherese als typische Behandlung durchgeführt werde. Aus der Auswertung der Arztbriefe ergebe sich, dass die Apheresebehandlung im Fall der Klägerin zur Behandlung des multiplen chemischen Sensitivitätssyndroms angewandt worden sei. Insbesondere für dieses Krankheitsbild handele es sich bei der extrakorporalen Behandlung mittels Apherese um keine anerkannte Behandlungsmethode. Es fehlten kontrollierte Studien in der Literatur bzw. jedenfalls Literatur von Behandlungsversuchen, die man kritisch analysieren könnte. Auch eine Aussicht auf Heilung durch die begehrte Behandlungsmethode könne nicht bestätigt werden. Im Übrigen sei die Apherese auch keine völlig ungefährliche Methode.

Auf die klägerischen Einwendungen hat M1 in einer ergänzenden Stellungnahme vom 15.02.2017 ausgeführt, dass es auch im Einzelfall der Klägerin keinerlei evidenzbasierte Hinweise gäbe, dass die Klägerin von der Apherese profitiere. Aus den vorgelegten Unterlagen ließen sich keine Vergiftung bzw. Belastung mit Toxinen entnehmen.

Die Beklagte hat im Klageverfahren ihr Vorbringen wiederholt, dass die Richtlinie des G-BA in Nr. 1 § 3 Anlage I "Anerkannte Untersuchung-oder Behandlungsmethoden" der MVV-RL die Durchführung einer therapeutischen Apherese bei der Indikation MCS nicht vorsehe. Die vorgelegten Laborrechnungen belegten lediglich, dass entsprechende Laboruntersuchungen durchgeführt worden seien, nicht aber die behaupteten toxischen Belastungen. Auch ein Anspruch aus § 2 Abs. 1a des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) ergebe sich nicht.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 21.11.2017 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Erstattung der von ihr für die therapeutischen Apheresen geltend gemachten Kosten in Höhe von 15.325,30 EUR nach § 13 Abs. 2 oder 3 SGB V. Hinsichtlich eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs. 3 SGB V fehle es sowohl an der erforderlichen Kausalität als auch am Bestehen eines Primäranspruchs.

Für die bis zum Zugang des Bescheides vom 21.02.2014 durchgeführten Therapieeinheiten liege die vom Gesetz geforderte Kausalität zwischen der ablehnenden Entscheidung der Beklagten und den aufgewandten Kosten nicht vor. Hier habe die Klägerin die Behandlung unstreitig bereits am 12.12.2013 begonnen, also noch vor Stellung des Antrags auf Kostenübernahme bei der Beklagten am 20.12.2013. Damit fehle es zumindest für die bis zum 21.02.2014 durchgeführten Apheresen an der erforderlichen Kausalität. Ob die weitere Behandlung im Sinne einer einheitlichen Betrachtungsweise nicht ohnehin als Gesamtbehandlung zu werten sei, könne hier offen bleiben, da ungeachtet der Einhaltung des Beschaffungswegs für die Apheresen-Therapie schon kein Sachleistungsanspruch bestehe.

Der Kostenerstattungsanspruch scheitere für sämtliche bislang durchgeführten und noch durchzuführenden therapeutischen Apheresen bereits daran, dass der Klägerin kein Primäranspruch nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V auf die streitige Behandlung zustehe, weil die begehrte Therapie nicht zu den im Rahmen des gesetzlichen Leistungssystems der GKV erbringbaren Leistungen gehöre. Es handele sich um eine neue ärztliche Untersuchungs- und Behandlungsmethode gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Hierfür fehle es an der erforderlichen positiven Entscheidung des G-BA (§ 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Denn gemäß Anlage I Nr. 1 § 3 der MVV-RL könnten LDL-Apheresen nur durchgeführt werden bei Patienten mit bestimmten Formen der Hypercholesterinämie oder isolierter Lp(a)-Erhöhung und Immunapheresen unter bestimmten Voraussetzungen bei der aktiven rheumatoiden Arthritis. Diese Indikationen lägen bei der Klägerin unstreitig nicht vor.

Es läge auch eine "neue ärztliche Untersuchungs- und Behandlungsmethode" im Sinne des § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V vor: Gemäß § 2 Abs. 1 der Verfahrensordnung des G-BA (in der seit Inkrafttreten am 1. April 2009 geltenden Fassung) gälten als "neue" Untersuchungs- und Behandlungsmethoden nicht nur Leistungen, die noch nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistungen im EBM-Ä enthalten seien, sondern auch solche, die zwar als ärztliche Leistungen im EBM-Ä aufgeführt seien, deren Indikation aber wie hier wesentliche Änderungen oder Erweiterungen erfahren hätten (vgl. zu § 2 Abs. 1 der Richtlinie zur Bewertung medizinischer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden: BSG, Urteil vom 04.04.2006, B 1 KR 12/05 R - juris).

Nach Darlegung des Sozialgerichts lägen auch keine Ausnahmefälle in Form eines Seltenheitsfalls oder eines Systemversagens vor. Ein Fall des Systemversagens liege schon deshalb nicht vor, weil das Verfahren vor dem G-BA antragsabhängig sei und ein entsprechender Antrag beim G-BA offensichtlich nicht gestellt worden sei. Denn dieser habe sich zwar mit bestimmten Indikationen der therapeutischen Apherese befasst (z.B. im Jahr 2003 mit der altersabhängigen Makuladegeneration, der Myasthenia gravis und vielen anderen Indikationen), zum Anwendungsbereich bei Borreliose, CFS oder MCS lägen jedoch keine Anträge vor.

Schließlich hat das Sozialgericht auch keine Anhaltspunkte für eine gebotene grundrechtsorientierte Auslegung (hierzu § 2 Abs. 1a SGB V) gesehen. Eine hierfür zu fordernde lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung liege nach dem Gutachten des M1 hier nicht vor. Unabhängig davon fehle es nach den nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen von M1 mithin an einer "auf Indizien gestützten" nicht ganz fernliegenden Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf.

Gegen das am 13.12.2017 zugegangene Urteil hat die Klägerin am 10.01.2018 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Sie hat erneut Einwendungen gegen "das methodisch schwache Sachverständigengutachten" (Seite 2 des Schriftsatzes) des M1 erhoben. Es liege im Übrigen eine lebensbedrohliche Erkrankung vor. Gegeben sei auch eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder spürbare positive Entwicklung. Inzwischen sei es auch zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes (mit Notarzteinsätzen) gekommen. Grund hierfür dürfte ein Mastzellaktivierungssyndrom sein, das den Krankheitsverlauf stärker verschlechtere als dies ansonsten bei chronischen Multisystemerkrankungen ohnehin schon bedrohlicherweise üblich sei.

Der Ehemann der Klägerin könne bestätigen, selbst mit der Beklagten bereits vor der ersten Apherese telefoniert zu haben und das Antragsverfahren mit der Krankenkasse besprochen zu haben. Dies sei bei entsprechend lebensnaher Auslegung als mündliche Antragstellung zu werten. Im Übrigen habe es sich bei dem ersten Behandlungstermin um einen Therapieversuch gehandelt, der auch zu differential-diagnostischen Zwecken durchgeführt worden sei. Die Klägerin habe nur einen Antrag stellen wollen, wenn die Therapie erfolgversprechend sei. Eine einheitliche Gesamtbehandlung sei nicht gegeben.

Die Beklagte ist mit Schriftsatz vom 26.06.2018 der Berufung entgegengetreten. Sie hat sich auf die Gründe des sozialgerichtlichen Urteils bezogen. Eine "Zäsur" in Bezug auf den Leistungsanspruch habe auch nicht durch die ablehnende Entscheidung der Beklagten vom 21.02.2014 stattgefunden. Unterlagen über eine Kommunikation mit der Klägerin im Jahre 2013 lägen ihr nicht vor. Sie hat ferner ein weiteres Gutachten des MDK vom 25.09.2018 im Rahmen einer Folgebegutachtung vorgelegt. Der MDK hat auch hierin festgehalten, dass vorliegend keine Indikation zu Lasten der GKV gegeben sei.

Der Senat hat umfangreiche medizinische Ermittlungen durchgeführt, beginnend mit der Einholung von Befundberichten (mit ärztlichen Unterlagen) des Internisten H vom 05.07.2018 sowie des S vom 18.07.2018.

Auf klägerischen Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat den Facharzt für Allgemeinmedizin J mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt (Gutachten vom 27.10.2019). Das Krankheitsbild der Klägerin entspreche einer besonders schweren Form der MCS mit diversen Allergien und Störungen des Fremdstoffwechsels. Nach den ersten vier Apheresebehandlungen sei es ab April 2014 zu einer langsamen Verbesserung des Allgemeinzustandes gekommen; die Beschwerdesymptomatik sei deutlich reduziert. 2015 habe die Klägerin eine weitere Apherese finanziert, 2016 sei pausiert worden. 2016 sei es deshalb zu deutlichen Verschlechterungen gekommen - protokolliert seien z.B. sechs Notarzteinsätze. Die Klägerin halte sich seitdem die meiste Zeit in der häuslichen Umgebung auf. Am 05.07.2018 sei eine erneute Apherese auf eigene Kosten erfolgt. Seitdem sei aus finanziellen Gründen keine weitere Apheresebehandlung erfolgt. Aus der Akte ergäben sich zwei weitere Notarzteinsätze im August und Oktober 2019.
Die Nierenfunktion sei normal. Die schwere Form der MCS mit zahlreichen nachgewiesenen Allergien sei in ihrer Intensität einer lebensbedrohlichen Erkrankung zumindest wertungsmäßig vergleichbar.
Es stünde keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung. Vertragliche Behandlungsmethoden seien ausgeschöpft.
Die schwere Form der MCS sei dem aktuellen Standard der therapeutischen Apherese der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie entsprechend einer Erkrankung der Kategorie III zuzuordnen, für die die Position der therapeutischen Apherese unter den verfügbaren Behandlungsoptionen nicht etabliert sei. Deren Einsatz müsse jeweils im klinischen Einzelfall entschieden werden. Er sei im Falle einer schweren Erkrankung erforderlich, bei der die Apheresebehandlung eine Ultima ratio der ambulanten Therapie darstelle (notstandsähnliche Situation). Eine derartige Situation läge bei der Klägerin vor.
Es bestehe eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Aufgrund der nachgewiesenen genetischen Varianten seien bei der Klägerin die Schritte der körpereigenen Entgiftung von Umweltschadstoffen und die Arzneimitteverträglichkeit gestört. Durch die Apheresebehandlung bestehe im Fall der Klägerin die einzige reale Möglichkeit, eine tödlich verlaufende anaphylaktische Schocksituation abzuwenden.   
Der Vergleich der Eluatanalysen vom 16.12.2013 bis 07.03.2015 zeige in Folge der durchgeführten Apheresebehandlungen eine insgesamt rückläufige Schadstoffkonzentration (keine Notarzteinsätze).   

Der Senat hat eine ärztliche Äußerung des Internisten H vom 19.08.2020 eingeholt und F (Campus G - Nephrologisches Zentrum) mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Dieser hat in seinem internistisch-nephrologischen Gutachten vom 21.11.2021, erstellt nach ambulanter Untersuchung vom 11.11.2011, von der Verdachtsdiagnose einer fokalen Dystonie in Verbindung mit dem Verdacht auf eine symptomatische Epilepsie (begrenzte Krampfanfälle, welche z.B. als Folge einer Gehirnentzündung auftreten können) gesprochen. Als weitere Erkrankungen bestünden mehrere Nahrungsmittelunverträglichkeiten, eine Allergie auf Ethylhexyl Gallate, ein Zustand nach Gallenblasenentfernung, ein Zustand nach Eisenmangel mit Blutarmut sowie ein Zustand nach Entfernung der Rachenmandeln. Der Sachverständige hat nach Ansicht eines Anfallshandyvideos im Ergebnis dringend eine neurologische Untersuchung der Klägerin angeraten. Allerdings hat er zusammenfassend auch ausgeführt, dass der Weg, auf dem die Diagnose eines MCS gestellt worden sei, für ihn nicht nachvollziehbar sei. Die vorgelegten toxikologischen Untersuchungen erfolgten an Untersuchungsmaterial (mehrfach konzentriertes Blutplasma), für das keine Normbereiche existierten. Zutreffend hätten der MDK und M1 darauf hingewiesen, dass in der medizinischen Fachliteratur bislang keinerlei Evidenz für den Stellenwert einer therapeutischen Apherese bei MCS bestünden. Die Argumentation im Gutachten des J hinsichtlich der Notwendigkeit einer Apherese-Behandlung gründe sich auf der von der Klägerin berichteten subjektiven Besserung. Erforderlich sei aber die Diagnose einer entsprechenden Erkrankung. Eine Eignung der therapeutischen Apherese zur Therapie eines MCS sei nicht gegeben.

Das Gericht hat deshalb gemäß der gutachterlichen Empfehlung ein neurologisch-epileptologisches Gutachten des R (Neurologische Klinik und Poliklinik M, Klinikum G) vom 21.11.2022, erstellt ebenfalls nach ambulanter Untersuchung, eingeholt. Er hat die Anfälle als psychogene, nicht-epileptische Anfälle eingeordnet. Auf neurologischem Fachgebiet lägen im strengen Sinne aktuell keine Störungen vor. Psychogene, nicht-epileptische Anfälle seien dissoziative Störungen, im strengen Sinne eine Erkrankung auf psychiatrisch-psychologischem Fachgebiet. Nach Ende der Apheresebehandlungen seien die Anfälle wieder häufiger aufgetreten, somit sei eine Verschlechterung eingetreten. Im Vergleich zum Zustand vor der Apheresebehandlung sei der Zustand wahrscheinlich am ehesten stabil bis leicht gebessert. Eine Indikation zur Dialyse ergebe sich auf neurologischem Fachgebiet nicht.
Die dissoziative Störung sei an sich nicht lebensbedrohlich, jedoch durch ihre Ausprägung sehr wesentlich negativ den Lebensalltag beeinflussend. Durch die Apherese-Behandlung sei eine Besserung aufgetreten, die auf neurologischem Fachgebiet jedoch nicht kausal auf die Apherese-Behandlungen zurückzuführen sei. Auf neurologischem Fachgebiet ergebe sich keine Indikation zur Apherese-Behandlung. Die Behandlung von dissoziativen Störungen bestehe vor allem in verhaltenstherapeutisch-orientierter Psychotherapie. Die vertraglichen Behandlungsmethoden seien bei der Klägerin nicht ausgeschöpft. Dies liege vor allem daran, dass die von ihm angenommene Krankheitsursache von der Klägerin nicht so gesehen werde. Eine psychiatrische Erkrankung stelle aber keine Indikation zur Apherese-Behandlung dar.  

Zur abschließenden internistisch-nephrologischen Begutachtung hat der Sachverständige F in dem zweiten Teil seines Gutachtens am 30.12.2022 ausgeführt: Auf neurologischem Fachgebiet sei eine faziobrachiale Dystonie (z.B. als Folge einer entzündlich bedingten Erkrankung des Gehirns) auszuschließen. Dementsprechend liege, in Übereinstimmung mit der Aussage im Gutachten des R, keine lebensbedrohliche, regelmäßig tödlich verlaufende oder zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vor. Die Apherese-Behandlung sei bei der hier vorliegenden dissoziativen Störung keine anerkannte Behandlungsmethode. Die anerkannten Behandlungsmethoden seien nicht ausgeschöpft, auch weil die Diagnose einer dissoziativen Störung von der Klägerin nicht gesehen werde.
Im Falle einer dissoziativen Störung wie auch eines MCS bestehe keine wissenschaftliche Evidenz auf eine positive Beeinflussung der Symptomatik durch eine Apherese-Behandlung. Soweit von einer Verbesserung des Gesundheitszustandes auszugehen sei, sei nicht von einem kausalen Effekt der Apherese-Behandlung auszugehen.

Die Klägerin hat die Berufung aufrecht erhalten. Durch die Ansicht, die Klägerin leide wohl an einer dissoziativen Störung, habe sich die Sachlage nicht zu Ungunsten der Klägerin verändert. Nach wie vor sei mit gesicherter Diagnose festzustellen, ob eine dissoziative Störung überhaupt vorliege bzw. ob diese Ursache der Grunderkrankung sei oder eben jetzt nach langjährigem Verfahren und nach ständigem Rechtfertigungsdruck wegen der Erkrankung diese als Folgeerscheinung gegeben sein könne. Aus der Vielzahl von Stellungnahmen ergebe sich, dass die Klägerin von der Apherese durchaus profitieren könne. Sofern die Beklagte nicht zu einem Anerkenntnis oder Vergleich bereit sei, werde ein weiteres Gutachten aus dem Fachbereich Psychotherapie zur Vermeidung von Grund- und Folgenverwechslung erforderlich sein.

Die Beklagte hat zuletzt mit Schriftsatz vom 20.04.2023 nochmals eine vergleichsweise Einigung abgelehnt. Die Klägerin habe eine dissoziative Störung, für deren Behandlung eine Apherese keine adäquate Therapie darstelle.

In der mündlichen Verhandlung vom 17.05.2023 hat die Klägerin angegeben, nach Juli 2018 keine weitere Apheresebehandlung durchgeführt zu haben. Auf die Niederschrift der Sitzung wird im Übrigen verwiesen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 21.11.2017 und den Bescheid der Beklagte vom 21.02.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.06.2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die Kosten für die seit Antragstellung 12.12.2013 durchgeführten therapeutischen Apheresebehandlungen zu erstatten und die Kosten weiterer therapeutischer Apheresebehandlungen zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

      die Berufung zurückzuweisen.
      
Im Übrigen wird auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakt verwiesen.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), jedoch unbegründet.

Gemäß § 153 Abs. 2 SGG verweist der Senat auf die zutreffenden und umfassenden Ausführungen des Sozialgerichts in dem angefochtenen Urteil, gestützt vor allem auf das Gutachten des M1. Dies betrifft insbesondere auch die Ausführungen zur fehlenden Eignung der therapeutischen Apherese als Therapie der bei der Klägerin festgestellten Diagnosen wie insbesondere eines MCS, was auch von dem im Berufungsverfahren als Gutachter gehörten F bestätigt wurde.

Der Senat hat ergänzend im Berufungsverfahren eine weitere Aufklärung des medizinischen Sachverhalts durch Einholung von Gutachten nach § 109 SGG durch J sowie nach § 106 SGG durch F und R vorgenommen. Im Ergebnis folgt der Senat ergänzend zum Gutachten des M1 den Gutachten des F auf internistisch-nephrologischem Fachgebiet und des R auf neurologisch-epileptologischem Fachgebiet.

Der Senat kann offen lassen, ob der Behandlungsweg, der im Rahmen des § 13 Abs. 3 SGB V für die Annahme einer Kausalität zwischen der Leistungsablehnung und der Selbstbeschaffung (hier bereits am 12.12.2013) erforderlich ist, eingehalten wurde. Bei der von der Klägerin begehrten Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V für die durchgeführten therapeutischen Apheresebehandlungen handelt es sich um eine im Sinne des Krankenversicherungsrechts neue, ambulante Behandlungsmethode, für die es an der erforderlichen positiven Entscheidung des G-BA fehlt (§ 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V in Verbindung mit den sog. BUB-Richtlinien Untersuchungs- und Behandlungsmethoden). Gemäß Anlage I Nr. 1 § 3 der MVV-RL können LDL-Apheresen nur durchgeführt werden bei Patienten mit bestimmten Formen der Hypercholesterinämie oder isolierter Lp(a)-Erhöhung und Immunapheresen unter bestimmten Voraussetzungen bei der aktiven rheumatoiden Arthritis. Diese Indikationen liegen bei der Klägerin unstreitig nicht vor.

Wie sich durch die Ermittlungen im Berufungsverfahren ergeben bzw. bestätigt hat, ist aber auch bereits eine Indikation für eine Apheresebehandlung nach § 27 SGB V bei der Klägerin nicht gegeben. Dies ergibt sich für den Senat überzeugend aus dem umfassenden und gründlichen Gutachten des R, das im Hinblick auf die von der Klägerin dargelegten Anfälle in Auftrag gegeben wurde. Dieser hat die Anfälle als psychogene, nicht-epileptische Anfälle eingeordnet; es handelt sich um dissoziative Störungen. Insoweit hat der Sachverständige dargelegt, dass für einen epileptischen Anfall die Dauer der Anfälle bei der Klägerin zu lange ist und die Symptomatik nicht-epileptischen Anfällen entspricht. Durch die Apherese-Behandlung sei eine Besserung aufgetreten, die auf neurologischem Fachgebiet jedoch nicht kausal auf die Apherese-Behandlungen zurückzuführen sei. Auf neurologischem Fachgebiet ergibt sich somit keine Indikation zur Apherese-Behandlung, da die bei der Klägerin bestehende psychiatrische Erkrankung keine Indikation zur Apherese-Behandlung darstellt.

F hat sich dieser gutachterlichen Einschätzung angeschlossen. Eine entzündlich bedingte Erkrankung des Gehirns konnte durch die Gutachten ausgeschlossen werden. Nach den Gutachten ist vor allem auch eine Autoimmunencephalitis mit faziobrachialer Dystonie ausgeschlossen. Die Apherese-Behandlung ist deshalb auch nach dem Gutachten des F bei der hier vorliegenden dissoziativen Störung keine anerkannte Behandlungsmethode. Im Falle einer dissoziativen Störung wie auch eines CMI bzw. MCS besteht keine wissenschaftliche Evidenz für eine positive Beeinflussung der Symptomatik durch eine Apherese-Behandlung. Soweit klägerseits mit einer Verbesserung des Gesundheitszustandes durch die erfolgten Apheresebehandlungen argumentiert wird, ist nach dem Gutachten nicht von einem kausalen Effekt der Apherese-Behandlung auszugehen.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass hierfür die anerkannten Behandlungsmethoden wie die Durchführung einer Verhaltenstherapie in keinster Weise ausgeschöpft sind, auch weil die Diagnose einer dissoziativen Störung von der Klägerin nicht gesehen bzw. dieser widersprochen wird.

Der Senat folgt nicht dem Gutachten des J, der von einer besonders schweren Form der MCS mit diversen Allergien und Störungen des Fremdstoffwechsels ausgegangen ist. Dieser stützt seine Einschätzung zum einen darauf, dass es nach den ersten vier Apheresebehandlungen ab April 2014 bis 2015 und im Juli 2018 zu einer langsamen Verbesserung des Allgemeinzustandes gekommen ist und sich die Beschwerdesymptomatik deutlich reduzierte. Hinsichtlich der übrigen Zeiten argumentiert er mit den Notarzteinsätzen 2016 und 2019. Er geht von einer ultima-ratio-Behandlung durch die therapeutische Apherese aus (Erkrankung der Kategorie III gemäß dem aktuellen Standard der Therapeutischen Apherese der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie). Zum anderen orientiert er sich hierbei und insgesamt an den subjektiven Angaben der Klägerin.

Auch F hält diese Einschätzung des Gutachters J jedoch für nicht vertretbar, da dieser die Besserung allein auf die subjektiven Darlegungen der Klägerin stützt. Es fehlt aber an einer Diagnose einer entsprechenden Erkrankung und an belastbaren Laborwerten, da die vorgelegten toxikologischen Untersuchungen an Untersuchungsmaterial erfolgten, für das keine Normbereiche existierten. R hat - auch wenn dies die Klägerin nicht akzeptiert - überzeugend dargelegt, dass die Ursache für die Anfälle eine dissoziative Störung ist und nicht eine epileptische. Es erscheint daher auch für den Senat nicht vertretbar, hierbei die Ursache für die subjektive Besserung nach einer Apheresebehandlung gerade in der therapeutischen Apherese zu sehen oder auch nur zu diskutieren.

Entsprechendes gilt für den ärztlichen Bericht des Internisten H vom 19.08.2020, der sich den Ausführungen des Sachverständigen J angeschlossen hat. Soweit dieser von einer "genetischen Veranlagung der Klägerin" spricht, könnte diese auch eine psychische Gesundheitsbeeinträchtigung wie eine dissoziative Störung betreffen.

Ein Anspruch der Klägerin auf Kostenübernahme für eine therapeutische Apherese bzw. für die Kostenerstattung ergibt sich auch nicht unter den Voraussetzungen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung im Sinne von § 2 Abs.1a SGB V. Es liegt bei der Klägerin nämlich weder eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche noch eine hiermit wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vor. Der Senat folgt auch hier den Gutachtern R und F. Dabei ist für die Entscheidung die vorliegende Diagnose maßgeblich: Beide Gutachter gehen, wie dargelegt, von einer dissoziativen Störung im Sinne einer psychisch-psychogenen Erkrankung aus; eine faziobrachiale Dystonie konnte ausgeschlossen werden. Hierbei handelt es sich nicht um eine lebensbedrohliche, regelmäßig tödlich verlaufende oder zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung. Nicht ausreichend ist, dass die dissoziative Störung zweifelsfrei durch ihre Ausprägung sehr wesentlich negativ den Lebensalltag der Klägerin beeinflussend.

Der Senat kann aus den oben dargelegten Gründen offen lassen, ob die Voraussetzung des § 2 Abs. 1a SGB V bei Annahme einer schweren Form des MCS mit epileptischen Anfällen gegeben wären, wie dies der Gutachter J angenommen hat. Dies gilt auch für die weiteren Fragen, ob eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht und ob Behandlungsalternativen vorhanden waren. Erst recht kann keine pauschale Gleichsetzung der gestellten Diagnosen "mit AIDS und Krebs" (so aber S vom 16.12.2013) erfolgen, zumal auch bei diesen Erkrankungen nicht ohne Weiteres allein aufgrund der gestellten Diagnose die Voraussetzung des § 2 Abs. 1a SGB V gegeben ist.

Darüber hinaus ist im Rahmen der Prüfung eines Anspruchs nach § 2 Abs. 1a SGB V vorliegend maßgeblich, dass auch noch eine ärztlich angewandte Behandlungsmethode zur Verfügung steht, nämlich hinsichtlich der Behandlung von dissoziativen Störungen vor allem eine verhaltenstherapeutisch-orientierte Psychotherapie. Diese hat die Klägerin nicht in Anspruch genommen, vor allem weil sie die von den Sachverständigen R und F angenommene Krankheitsursache nicht akzeptiert.

Zutreffend ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass als Ausnahmefall zu § 135 SGB V auch kein Systemversagen vorliegt. Dies gilt erst recht im Hinblick auf die Diagnose einer dissoziativen Störung, wie sie im Rahmen des Berufungsverfahrens bestätigt wurde.

Der medizinische Sachverhalt ist nach Überzeugung des Senats umfassend aufgeklärt. Die vom Senat beauftragten Sachverständigen F und R sind ausgewiesene Spezialisten auf ihrem Fachgebiet im Klinikum G. Der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens, z.B. auf psychiatrischem Fachgebiet, bedarf es vor diesem Hintergrund nicht. Insbesondere hat R in seinem Gutachten bereits darauf hingewiesen, dass eine psychiatrische Erkrankung keine Indikation zur Apherese-Behandlung darstellt. Auch ergibt sich hieraus, wie oben bereits ausgeführt, keine Indikation für eine therapeutische Apherese.   

Auch war nicht ein von der Klägerin angeregtes Gutachten auf psychotherapeutischem Fachgebiet einzuholen - auch nicht im Hinblick auf die Frage, ob die dissoziative Störung die Grunderkrankung darstelle oder eine Folgeerscheinung "nach langjährigem Verfahren und nach ständigem Rechtfertigungsdruck wegen der Erkrankung" (S. 1 des kl. S. v. 05.04.2023). R hat unzweifelhaft dargelegt, dass die Anfälle "seit spätestens 2010" (S. 13 des Gutachtens) bestehen, also viele Jahre vor der ersten Apheresebehandlung 2013. Er stützt sich darauf, dass die Dauer für epileptische Anfälle zu lang ist und die Symptomatik nicht epileptischen Anfällen entspricht. Ein weiteres Gutachten nach § 109 SGG wurde nicht beantragt.
Die Berufung ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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