L 7 KA 62/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 79 KA 2408/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 KA 62/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.

 

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Der Kläger wendet sich gegen einen Arzneimittelregress in Höhe von 87.302,32 Euro wegen Verordnungen des Arzneimittels Jurnista für sämtliche Quartale in den Jahren 2012 und 2013.

 

Der Kläger war bis zum 31. Dezember 2017 als Praktischer Arzt mit der Zusatzbezeichnung Sportmedizin zur vertragsärztlichen Versorgung in B zugelassen. Er behandelte seit  die bei der Beigeladenen zu 2) krankenversicherte B R. (geb. , im Folgenden: die Versicherte) schmerztherapeutisch. Die alkoholkranke (abstinent seit 1999) Versicherte leidet u.a. unter einem chronischen muskuloskelettalen Schmerzsyndrom lumbal und nuchal mit distoproximaler Generalisation nach Janda sowie einem chronischen Kopfschmerz. 

 

Der Kläger verordnete der Versicherten im Zeitraum vom 2. Januar 2012 bis zum 27. Dezember 2013 auf diversen Einzelrezepten insgesamt 5.350 Tabletten à 64 mg (höchste erhältliche Wirkstoffkonzentration) und 1.450 Tabletten à 32 mg des Arzneimittels Jurnista (entspricht 388.800 mg an 724 Tagen bzw. 537 mg oder 9,4 Tabletten pro Tag). Die Verordnungen sahen die mehrmals tägliche Einnahme einer oder mehrerer Tabletten vor, wobei die Art der Anwendung in dem Zeitraum stark variierte (z.B. am 2. Januar 2012: Jurnista 64 mg 4-0-3 sowie 32 mg 3-0-4, am 26. April 2012: täglich 7 Tabletten Jurnista 64 mg). Für die Verordnungen wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen (Bl. 6 bis 53 und 70 bis 89).

 

Das Arzneimittel Jurnista enthält den Wirkstoff Hydromorphonhydrochlorid (aus der Gruppe der Opioid-Analgetika, morphinähnliches Schmerzmittel) und ist zur Behandlung von starken Schmerzen zugelassen. Der Wirkstoff wird in retardierter Form – schrittweise über 24 Stunden – im Körper freigesetzt. In den ab Juni 2011 geltenden Fachinformationen für Jurnista heißt es, dass Jurnista nicht öfter als einmal in 24 Stunden eingenommen werden darf. Unter der Überschrift „ergänzende Schmerzmedikation“ wird aufgeführt, dass bei allen Patienten mit chronischen Schmerzen zusätzlich zu der einmal täglichen Einnahme von Jurnista bei Durchbruchschmerzen eine ergänzende Schmerzmedikation in Form von Präparaten mit sofortiger Wirkstofffreisetzung gegeben werden kann.

 

Vom 31. Juli bis zum 1. August 2012 befand sich die Versicherte im EKrankenhaus KE H zu einem stationären Opiatentzug, der auf ihren Wunsch vorzeitig abgebrochen wurde. Dort wurde gemäß der Epikrise vom 26. März 2013 neben dem chronischen muskuloskelettalen Schmerzsyndrom und dem Kopfschmerz ein Opiatübergebrauch mit Verdacht auf opioidinduzierte Hyperalgesie (OIH) diagnostiziert und dringend die langsame ambulante Reduzierung der Opioiddosis empfohlen.

 

Mit Schreiben vom 26. Juni 2013 beantragte die Beigeladene zu 2) bei der Prüfungsstelle für die Quartale I bis IV 2012 und I 2013 für die Verordnung des Arzneimittels Jurnista einen Verordnungsregress wegen fehlender Leistungspflicht in Höhe von 87.892,03 Euro. Der Kläger habe das Arzneimittel der Versicherten bei einem bestehenden Abhängigkeitssyndrom verordnet. Er selbst habe u.a. die Diagnose F 10.2 (Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol: Abhängigkeitssyndrom) gestellt. Bei Alkoholismus sei Jurnista mit Vorsicht anzuwenden, da es bei dieser Patientengruppe häufig zu einer Opioid-Toleranz sowie psychischen Abhängigkeit komme. Die Fachinformation führe aus, dass bei dauerhafter Anwendung von Opioiden wie Jurnista mit der Entwicklung einer Toleranz mit physischer Abhängigkeit gerechnet werden könne. Es liege ein off-label-use vor.

 

Mit derselben Begründung beantragte die Beigeladene zu 2) mit Schreiben vom 25. März 2014 bei der Prüfungsstelle die Prüfung der ärztlichen Verordnungsweise im Einzelfall u.a. für die Verordnung von Jurnista in den Quartalen II bis IV 2013 für die Versicherte in Höhe von 42.320,94 Euro.

 

Im Rahmen der Anhörungen wies der Kläger den Vorwurf der fehlenden Leistungspflicht zurück. Er führe bei der alkoholkranken Versicherten seit 1993 eine gezielte Schmerzbehandlung durch. Seit ihrer Alkoholabstinenz im Jahre 1999 hätten die Schmerzen deutlich zugenommen, und es seien immer mehr Krankheiten hinzugetreten (insgesamt 24 Diagnosen). Die Medikamente der Stufe II nach der WHO-Stufentherapie habe er ausgeschöpft. Eine Opioidtherapie (z.B. Tramal) habe nicht den analgetischen Erfolg gebracht. Daher sei er auf eine Morphiumtherapie umgestiegen und habe sich nach dem Einsatz verschiedener Morphine für das Medikament Jurnista entschieden. Es sei von der Versicherten gut toleriert worden. Wegen der erhöhten Schmerztoleranzgrenze der Versicherten habe er im Jahr 2012 eine Krankenhauseinweisung mit achtwöchiger Schmerztherapie veranlasst, die die Versicherte jedoch abgebrochen habe. Der dringenden Empfehlung des Krankenhauses folgend habe er dann die Opioiddosis langsam reduziert. Die Verordnungen in dem von ihm getätigten Umfang stünden im Einklang mit den Leitlinien der Deutschen Schmerzliga und der Qualitätssicherungsvereinbarung zur schmerztherapeutischen Versorgung chronisch schmerzkranker Patienten.

 

Mit Beschluss vom 14. Juli 2014 lehnte die Prüfungsstelle für sämtliche Quartale der Jahre 2012 und 2013 die Festsetzung von Maßnahmen ab. Es sei weder ein Abhängigkeitssyndrom kontraindiziert noch lasse sich aus der Tatsache, dass die Patientin bis zum Jahr 1999 Alkoholmissbrauch betrieben habe, seither jedoch abstinent sei, eine Anwendung außerhalb der Zulassung konstruieren.

 

Hiergegen legte die Beigeladene zu 2) Widerspruch ein. Zum indikationsgerechten Einsatz eines Arzneimittels gehöre auch die korrekte Dosierung des eingesetzten Wirkstoffs im Rahmen der Zulassung und anderer gesetzlicher  Vorschriften. Bei der Verordnung von Jurnista sei die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) zu beachten, die unabhängig von der Arzneimittelzulassung die Verordnungsmengen der Betäubungsmittel eingrenze. Die vorgegebene Grenze von max. 5000 mg Hydromorphon innerhalb von 30 Tagen (§ 2 Abs. 1a Punkt 7 BtMVV) sei erheblich überschritten worden, da die Versicherte in einem Zeitraum von 30 Tagen 18.000 mg verbraucht habe. Wegen der Überschreitung der zulässigen Dosierung habe es sich um einen off-label-use gehandelt. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) lägen nicht vor, weil es sich bei einem chronischen Schmerzsyndrom nicht um eine lebensbedrohliche Erkrankung handele. Außerdem habe es Therapiealternativen gegeben. Es sei kein Behandlungserfolg eingetreten.

 

Mit Beschluss vom 12. März 2015 gab der Beklagte dem Widerspruch hinsichtlich der Verordnungen von Jurnista für die Versicherte statt und setzte eine Ersatzverpflichtung in Höhe von 87.302,32 Euro fest. Die nach der Fachinformation jeweils höchstzulässige Darreichungsform sei mehrmals am Tag verordnet worden. Auch die in der BtMVV festgesetzte Höchstmenge von 5.000 mg Hydromorphon innerhalb von 30 Tagen (ca. 172 mg pro Tag) sei überschritten worden. Auf 724 Tage gerechnet hätten 124.528 mg Hydromorphon verordnet werden dürfen, damit seien 264.272 mg zu viel verordnet worden. Bei dieser Berechnung sei die Verordnung vom 27. Dezember 2013 nicht berücksichtigt worden, da diese noch verbraucht werden müsse. Die Überschreitung entspreche 82 Packungen Jurnista à 64 mg sowie jeweils einer Packung à 32 mg, 8mg und 4 mg, woraus sich die zu ersetzenden Verordnungskosten errechneten.

 

Gegen den Beschluss hat der Kläger am 20. Mai 2015 Klage erhoben. Es handele sich nicht um einen unzulässigen off-label-use. Das Arzneimittel Jurnista sei für die Schmerztherapie zugelassen. Den Fachinformationen sei keine Höchstmenge zu entnehmen, vielmehr werde auf den Einzelfall abgestellt. Zudem hätte der Beklagte die Menge des verordneten Arzneimittels falsch berechnet. Es komme auf den Wirkstoff Hydromorphon an, der beispielsweise in Jurnista 64mg nur in Höhe von 56,96 mg enthalten sei. Daher sei nicht 388.800 mg Hydromorphon verschrieben worden, sondern nur 345.032 mg (täglich 477,94 mg). Der Beklagte habe außerdem § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BtMVV nicht beachtet, wonach in begründeten Einzelfällen und unter Wahrung der erforderlichen Sicherheit des Betäubungsmittelverkehrs die festgesetzten Höchstmengen überschritten werden dürften. Zuletzt führe eine Überschreitung der in der BtMVV vorgesehenen Höchstgrenzen nicht dazu, dass ein off-label-use vorliege, da die BtMVV eine andere Zielrichtung – Gefahrenabwehr – verfolge als das Leistungsrecht der GKV.

 

Der Beklagte hat dem entgegen gehalten, dass die Vorschriften der BtMVV auch für Salze und Molekülverbindungen der Betäubungsmittel gelten würden, was sich aus § 1 Abs. 1 BtMVV ergebe. Dementsprechend sei zutreffend zur Berechnung der Ersatzverpflichtung nicht der Säure- bzw. Basewert des Wirkstoffs Hydromorphon zugrunde gelegt, sondern die Menge für das Chlorid zusätzlich berücksichtigt worden. Im erstinstanzlichen Verfahren hat der Beklagte eine Stellungnahme des Arztes für Anästhesiologie, spezielle Schmerztherapie und Palliativmedizin Prof. Dr. C M-B vom 20. März 2019 zu der Überschreitung der Verordnungsmenge von Jurnista in den Jahren 2012 und 2013 eingereicht, auf die verwiesen wird (Bl. 137 GA).

 

Mit Urteil vom 16. Oktober 2019 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Beklagte habe zu Recht den angefochtenen Regress festgesetzt, da die Versicherte die Verordnungen nicht in dem vom Kläger vorgenommenen Umfang habe beanspruchen können. Der Versorgungsanspruch der Versicherten umfasse nach §§ 2 Abs. 1 und 12 Abs. 1 SGB V nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich seien und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprächen. Außerdem seien bei der Verordnung von Arzneimitteln alle einschlägigen Gesetze, Verordnungen und Vereinbarungen über die Verschreibung von Arzneimitteln zu beachten, hier insbesondere die BtMVV, die eine Höchstverordnungsmenge für Hydromorphon von 5.000 mg für 30 Tage vorsehe. Der Kläger habe die Höchstmenge nach den zutreffenden Feststellungen des Beklagten um insgesamt 264.272 mg überschritten. Bei der Berechnung der verordneten Menge des in Jurnista 64 mg enthaltenen Wirkstoffs Hydromorphon sei nicht von 56,96 mg auszugehen, sondern von 64 mg, da nicht allein der Säure- bzw. Basenwert des Wirkstoffs Hydromorphon, sondern die Menge für das Chlorid zusätzlich zu berücksichtigen sei.

 

Zwar könne nach § 2 Abs. 2 BtMVV der Arzt in begründeten Einzelfällen von der festgesetzten Höchstmenge abweichen, allerdings liege für die streitige Überschreitung keine nachvollziehbare Begründung vor. Die Kammer habe sich dabei auf die Ermittlungen des Beklagten gestützt und die in diesem Zusammenhang erfolgte Stellungnahme von Prof. Dr. M-B vom 21. März 2019 als Urkundsbeweis (§ 103 SGG) verwertet. Danach habe bei der Versicherten ein „multifaktorell bedingtes, chronisches Rückenschmerzsyndrom nicht maligner Genese mit komorbiden psychiatrischen Diagnosen (Alkoholsuchtanamnese, Depression)“ bestanden. Das streitige Verordnungsverhalten des Klägers in den Jahren 2012 und 2013 habe nicht dem bereits im Jahr 2009 bekannten Wissensstand einer leitliniengerechten Schmerztherapie mit Opiaten bei Patienten mit Nichttumorschmerzen und Komorbidität (u.a. auch somatoforme Schmerzstörungen, Alkoholkrankheit und Abhängigkeitsproblem) entsprochen. Bei Patienten mit komorbiden psychiatrischen Diagnosen sei ein restriktiver Einsatz von Jurnista zur Vermeidung von Folgeschäden einer Opiatmedikation im Rahmen eines multimodalen Konzeptes notwendig. Bereits seit dem Ende der 90er Jahre hätten sich auch in Deutschland vermehrt Hinweise darauf ergeben, dass Suchtverhalten und psychosomatische Komorbidität bei Patienten mit chronischen Schmerzen des Stütz- und Bewegungsapparates sehr viel mehr beachtet werden sollten, statt eine gesteigerte Opioidmedikation fortzusetzen. Die 2009 veröffentliche S3-Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden (LONTS) bei nicht tumorbedingten Schmerzen lege u.a. fest, dass nach Umstellung auf ein Opioid bereits nach sechs Wochen die Wirksamkeit des Mittels hinsichtlich Schmerzlinderung und Funktionsverbesserung überprüft werden müsse und der Versuch der Dosisreduktion und/oder eine Opioidpause nach drei bis sechs Monaten erfolgen solle. Ein daran orientiertes Vorgehen sei der Patientendokumentation nicht zu entnehmen. Es sei weder eine klare Indikation zur Langzeittherapie mit Opioiden zu erkennen, noch seien Auslassungsversuche oder eine Begründung für die hohe Dosierung dokumentiert. Es habe sich gezeigt, dass es durch die langjährige Verordnung von hochdosierten Opiaten zu einem Fehlgebrauch und einer iatrogen verursachten Abhängigkeitsproblematik bei der Versicherten gekommen sei, die nicht nur eine Entzugsbehandlung notwendig gemacht, sondern auch die Korrektur der eigentlich notwendigen multimodalen Behandlung des chronischen Schmerzsyndroms erschwert habe. Die Hochdosis- bzw. Ultrahochdosisverordnungen von Jurnista, die weit über die in der BtMVV angegebenen Höchstmenge hinausgingen, seien weder nachvollziehbar noch gerechtfertigt. Im Übrigen liege ein unzulässiger off-label-use bereits deswegen vor, da der Kläger die in der Fachinformation vorgegebenen Dosierung (nicht öfter als einmal in 24 Stunden) nicht beachtet habe. Die Anfangsdosis habe 8 mg nicht überschreiten sollen. Im Rahmen der Dauertherapie könnten Dosisanpassungen erforderlich sein. Der Kläger habe seit 2007 Jurnista verordnet und die Tagesdosis so gesteigert, dass sie im August 2010 bei 200 mg gelegen habe, im Oktober 2010 bereits bei 560 mg und ab November 2011 bei 672 mg. Begründungen für diese Höchstdosierungen ließen sich den Patientenunterlagen und dem Klägervortrag nicht entnehmen. Die Schadensberechnung des Beklagten, der die Unwirtschaftlichkeit der Verordnung von Jurnista ab einer Verordnungsmenge von 5.000 mg Hydromorphon innerhalb von 30 Tagen angenommen habe, sei nicht zu beanstanden.

 

Gegen das ihm am 8. November 2019 zugestellte Urteil hat der Kläger am 6. Dezember 2019 Berufung eingelegt. Er hat den erstinstanzlichen Vortrag wiederholt und eine Stellungnahme des Facharztes für Anästhesie und Intensivmedizin, Spezielle Schmerztherapie Dr. J-P J vom 4. Mai 2020 zur Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise eingereicht, auf die verwiesen wird.

 

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Oktober 2019 und den Bescheid des Beklagten vom 12. März 2015 aufzuheben.

 

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Es handele sich um unzulässige off-label-use-Verordnungen. In der Fachinformation zum Arzneimittel Jurnista werde zwar keine Maximaldosierung angegeben, aber aufgeführt, dass Jurnista nicht häufiger als einmal in 24 Stunden eingenommen werden dürfe. Lediglich die Dosierung richte sich nach der Art der Schmerzen und den Begleiterkrankungen. Wegen der speziellen Freisetzungskinetik des Präparates beziehe sich die Limitierung nicht auf die Dosis, sondern auf die Anzahl der einzunehmenden Tabletten. Die Abweichung von der Fachinformation und damit einhergehend die Überschreitung der Höchstmenge nach BtMVV sei nicht medizinisch begründet. Die Stellungnahme von Dr. J sei nicht überzeugend, da er sich auf eine seltene Genmutation beziehe, die nicht belegt sei, sondern nur vermutet werde. Die streitigen Jurnista-Verordnungen des Klägers in den Jahren 2012 und 2013 entsprächen nicht den damaligen Therapieleitlinien, insbesondere LONTS 2009 – Langzeitanwendung von Opioiden bei chronisch nicht tumorbedingten Schmerzen.

 

Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.

 

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte, der vom Kläger geführten Patientenakte der Versicherten und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung ist zulässig aber unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Beschluss des Beklagten vom 12. März 2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

 

I. Rechtsgrundlage für die Festsetzung von Arzneimittelregressen ist § 106 Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in der Fassung vom 22. Dezember 2011. Danach wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen entweder am Maßstab von Richtgrößenvolumina (S. 1 Nr. 1) und/oder anhand von Stichproben (S.1 Nr. 2), geprüft. Über diese Prüfungsarten hinaus können die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren (S. 4). In den Verträgen ist auch festzulegen, unter welchen Voraussetzungen Einzelfallprüfungen durchgeführt und pauschale Honorarkürzungen vorgenommen werden; festzulegen ist ferner, dass die Prüfungsstelle auf Antrag der Kassenärztlichen Vereinigung, der Krankenkasse oder ihres Verbandes Einzelfallprüfungen durchführt (Abs. 3 S. 3 SGB V).

 

Nach § 24 der hier einschlägigen Prüfvereinbarung vom 14. Februar 2008 (PrüfV) entscheidet die Prüfungsstelle auf Antrag einer Krankenkasse oder eines Verbandes über die Festsetzung eines Verordnungsregresses, wenn der Vertragsarzt Leistungen verordnet hat, für die keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht. Dies gilt nach § 24 Abs. 1 S. 2 PrüfV insbesondere für die Verordnung von Arzneimitteln, die nach gesetzlichen bzw. vertraglichen Bestimmungen, oder nach den Richtlinien und Beschlüssen des Gemeinsamen Bundesausschusses von der Versorgung ausgeschlossen sind oder für die aufgrund arzneimittelrechtlicher Regelungen keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht (lit. a) oder für die unzulässige Verordnung von Arzneimitteln außerhalb der Zulassungsindikation dieser Arzneimittel (off-label-use, lit. b).

 

II. Die Voraussetzungen für die Festsetzung eines Verordnungsregresses liegen vor.

 

1. Der Kläger hat Leistungen verordnet, für die aufgrund arzneimittelrechtlicher Regelungen keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bestand (§ 24 Abs. 1 S. 1 lit. a PrüfV).

 

Der Anspruch der Versicherten auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln nach § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V umfasst nach §§ 2 Abs. 1 und 12 Abs. 1 SGB V nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Außerdem sind bei der Verordnung von Arzneimitteln die einschlägigen Gesetze, Verordnungen und Vereinbarungen über die Verschreibung von Arzneimitteln zu beachten, hier insbesondere § 2 Abs. 1 lit. a Nr. 9 BtMVV in der ab dem 18. Mai 2011 und bis zum 7. April 2023 geltenden Fassung, der eine Höchstverordnungsmenge für Hydromorphon von 5.000 mg für 30 Tage vorsah.

 

Der Kläger hat die Höchstmenge nach den zutreffenden Feststellungen des Beklagten und des Sozialgerichts im Verordnungszeitraum um insgesamt 264.272 mg überschritten. Bei der Berechnung der verordneten Menge des in Jurnista enthaltenen Wirkstoffs Hydromorphon ist entgegen der Auffassung des Klägers die Menge für das Chlorid zusätzlich zu berücksichtigen (etwa bei Jurnista 64 mg laut Fachinformation 64 mg Hydromorphonhydrochlorid und nicht nur 56,96 mg Hydromorphon). Dies ergibt sich bereits aus § 1 Abs. 1 S. 3 BtMVV in der ab dem 18. Mai 2011 geltenden Fassung, wonach die für ein Betäubungsmittel festgesetzte Höchstmenge auch für dessen Salze und Molekülverbindungen gilt, sofern im Einzelfall nichts anderes bestimmt ist. 

 

Es liegt auch kein begründeter Einzelfall gem. § 2 Abs. 2 BtMVV vor, in dem der Arzt für einen in seiner Dauerbehandlung stehenden Patienten von den festgesetzten Höchstmengen abweichen darf. Denn wie das Sozialgericht richtig darlegt, liegt keine nachvollziehbare Begründung hierfür vor. Der Patientenakte lassen sich keine Angaben dazu entnehmen, warum die Verordnungsdosis über die Jahre so stark erhöht wurde. Auch im Klageverfahren hat der Kläger keine nachvollziehbare Begründung vorgelegt. Eine nachvollziehbare Begründung hätte nach Überzeugung des Senats unter anderem berücksichtigen müssen, dass der Wirkstoff bei Jurnista in retardierter Form – schrittweise über 24 Stunden – im Körper freigesetzt wird und es daher laut den Fachinformationen nicht öfter als einmal in 24 Stunden eingenommen werden darf. Die Fachinformation führt außerdem auf, dass bei allen Patienten mit chronischen Schmerzen zusätzlich zu der einmal täglichen Einnahme von Jurnista bei Durchbruchschmerzen eine ergänzende Schmerzmedikation in Form von Präparaten mit sofortiger Wirkstofffreisetzung gegeben werden kann. Der Kläger hätte begründen müssen, warum er eine Abweichung von diesen Vorgaben und damit eine mehrfach tägliche Einnahme trotz der retardierenden Ausschüttung des Wirkstoffs für sinnvoll gehalten hat. Eine solche Begründung liegt nicht vor.

 

Die vom Kläger im Berufungsverfahren vorgelegte Stellungnahme von Dr. J vom 4. Mai 2020, welche der Senat als qualifizierten Parteivortrag verwertet, führt zu keiner anderen Beurteilung.

 

Dr. J geht bei seiner Bewertung der Behandlungsphase der Versicherten beim Kläger ausdrücklich nicht auf die Behandlungsunterlagen ein (vgl. Punkt 3 der Stellungnahme, Bl. 219 GA) und beschreibt stattdessen allgemein, dass Praxen der Schmerzmediziner ein sehr hohes Fallaufkommen hätten. Zur Verordnungsweise des Klägers (Punkt 4 der Stellungnahme, Bl. 220 GA) führt er zunächst allgemein aus, dass es in allen schmerzmedizinischen Zentren und Praxen „Ausreißer“ gebe, „welche dem Idealbild eines Patienten nur noch in der Erinnerung entsprechen“. Weiter heißt es: „Einerseits ist die Forderung der Betroffenen nach z.B. einer höheren Medikamentendosis oder einer häufigeren physiotherapeutischen Behandlung manchmal nicht abzuwehren, so dass sich der Therapeut je nach Situation auch dem Willen des Patienten unterwirft. Entscheidende Scharniere in dieser Beziehung sind zum Beispiel Zeit- und Entscheidungsnot des Arztes, übertragene Hilflosigkeit in der Arzt-Patienten-Beziehung oder aber auch energisch forderndes Vorgehen der Betroffenen. Alles in einer Mischung kann dazu führen, dass der Arzt die Handlungskompetenz zeitweise verliert.“ Die unter 5. in der Stellungnahme geführte „Diskussion zur Pharmakologie von hoch dosierten Opioiden“ (Bl. 220 GA) führt allgemeine Theorien dazu auf, warum manche Patienten eine „unvorstellbar hohe Dosis an Opiaten benötigen“. Zu der Frage, ob eine mögliche Ursache („super schnelles Abbauen“ oder Unempfindlichkeit gegen die Substanz) bei der Versicherten vorlag, verhält sich Dr. J nicht. Unter 8. führt er aus, dass sich die medizinische Indikation für eine höhere Dosis als üblich in den biologischen Eigenschaften der Patienten finde (Bl. 229 GA). „Sie reagiert, wie in der Biografie sichtbar und auch in den nachfolgenden Therapieversuchen bewiesen, stets nur auf ungewöhnlich hohe Dosierungen“ (Bl. 230 GA).

 

Diese Angaben genügen nach der Überzeugung des Senats nicht als Begründung für eine Abweichung von der Höchstdosis im Einzelfall gem. § 2 Abs. 2 BtMVV. Die Stellungnahme wertet nicht die Behandlungsunterlagen des Klägers aus, sondern stützt sich vor allem auf das Gespräch mit der Versicherten und die spätere Behandlung im Schmerzzentrum, wo Dr. J selbst tätig ist. Bezüglich der Verordnungsweise des Klägers berichtet Dr. J lediglich, dass es passieren könne, dass sich der Therapeut dem Willen des Patienten unterwerfen und die Handlungskompetenz verlieren könne. Zudem enthält die Stellungnahme von Dr. J auch keine Angaben darüber, warum eine Abweichung von den Vorgaben in den Fachinformationen, die wegen der retardierenden Wirkung eine einmalige Einnahme binnen 24 Stunden (ggf. zu ergänzen mit anderer Schmerzmedikation mit sofortiger Wirkstofffreisetzung) vorsieht, sinnvoll gewesen sein sollte.

 

Es ist zu beachten, dass Dr. J die Versicherte aus seinem Gespräch mit ihr u.a. mit folgenden Worten zitiert hat: „2012 habe er (der Kläger) ihr dann Jurnista verschrieben, weil das so eine lange Wirkdauer gehabt habe. Sie habe aber immer mehr Tabletten davon nehmen müssen, damit habe sie aber 3-6 Stunden am Tag arbeiten können. Ohne wäre das gar nicht gegangen. Sie habe dann immer wieder am Tag einige Tabletten genommen und selbst dabei den Überblick verloren.“ (Bl. 216 GA)

 

Anstelle einer begründeten und kontrolliert-begrenzten Dosiserhöhung im Einzelfall scheint bei der Versicherten eine „kontinuierliche Opioideskalation“ vorgelegen zu haben, wie es in der Epikrise des E Krankenhaus K EH vom 26. März 2013 heißt. In diesem Krankenhaus sollte bei der Versicherten ab dem 31. Juli 2012 – also mitten in dem hier streitgegenständlichen Verordnungszeitraum – ein stationärer Opiatentzug vorgenommen werden. Dort wird aufgeführt, dass es trotz der Opioideskalation nicht zu einer Linderung der Schmerzen gekommen sei, vielmehr seien weiterhin starke Schmerzen mit max. Intensitäten bis 9-10/10 beschrieben worden. Dr. J zitiert zudem aus der Anamnese-Akte aus dem Klinikum H-B hinsichtlich einer Aufnahme im Jahre 2014: „möchte keine Schmerzmittel, soll vom Morphin runter kommen, hatte Jurnista genommen seit 2010, davon bin ich abhängig geworden“ (Bl. 217 GA).

 

Da bereits dem Klägervortrag keine nachvollziehbare Begründung für die abweichende Dosierung entnommen werden kann, hielt der Senat die Befragung eines Sachverständigen in dieser Frage nicht für notwendig. Außerdem kann aus demselben Grund dahinstehen, ob die vom Beklagten eingeführte Stellungnahme von Prof. Dr. M-B vom 21. März 2019 nicht den wissenschaftlichen Stand im Verordnungszeitraum berücksichtigt hat, wie es Dr. J kritisiert.

2. Im Übrigen liegt auch ein unzulässiger off-label-use nach § 24 Abs. 1 S. 1 lit. b PrüfV wegen der Verordnung von Arzneimitteln außerhalb der Zulassungsindikation vor. Von der Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) ist sowohl die Dosierung als auch die Art der Anwendung umfasst. Dies ergibt sich daraus, dass die Zulassung in rechtlicher Hinsicht das spiegelbildliche Pendant zu den eingereichten Angaben und Unterlagen ist (Pitz, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 31 SGB V [Stand: 11.01.2023], Rn. 39). Der Inhalt der Zulassung ergibt sich folglich mittelbar aus § 22 Abs. 1 AMG, der die einzureichenden Angaben und Unterlagen benennt, wie z.B. die Dosierung (Abs. 1 Nr. 10) und die Art der Anwendung (Abs. 1 Nr. 12). Der Einsatz eines Arzneimittels abweichend von dem Inhalt der Zulassung – wie der Dosierung oder der Art der Anwendung – stellt einen off-label-use dar (SG Berlin, Urteil vom 14. Dezember 2011, S 71 KA 161/11, zitiert nach juris, Rn. 24; Pitz, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 31 SGB V [Stand: 11.01.2023], Rn. 72).

 

Der Kläger hat die in der Fachinformation angegebene Art der Anwendung (nicht öfter als einmal in 24 Stunden) nicht beachtet. Die Zulassungsüberschreitung liegt nicht in der Abweichung von einer Höchstdosierung, weil eine solche in der Fachinformation nicht genannt wird. Der Kläger hat Jurnista aber für eine Anwendung verordnet, die vorsah, dass die Versicherte mehrfach am Tag eine oder mehrere Tabletten eingenommen hat und damit mehr als einmal in 24 Stunden (z.B. am 2. Januar 2012: Jurnista 64 mg 4-0-3 sowie 32 mg 3-0-4, am 26. April 2012: täglich 7 Tabletten Jurnista 64 mg).

 

Die Zulassungsüberschreitung war auch unzulässig, da die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien für einen rechtmäßigen off-label-use nicht einschlägig sind. Ein off-label-use ist zulässig, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (stRspr, vgl. nur BSG, Urteil vom 26. Mai 2020, B 1 KR 9/18 R, zitiert nach juris, Rn. 33). Es kann dahinstehen, ob bei der Versicherten eine schwerwiegende Erkrankung vorlag und keine andere Therapie verfügbar war. Denn nach der Überzeugung des Senats bestand (aufgrund der Datenlage) nicht die begründete Aussicht, dass mit der Art der (zulassungsüberschreitenden) Anwendung des betreffenden Präparats Jurnista ein Behandlungserfolg erzielt werden konnte. Wie oben erläutert, wird der Wirkstoff bei Jurnista in retardierter Form – schrittweise über 24 Stunden – im Körper freigesetzt. Daher darf das Arzneimittel laut den Fachinformationen nicht öfter als einmal in 24 Stunden eingenommen werden. Aufgrund der retardierten Form der Ausschüttung ist eine Einnahme mehrmals täglich nicht sachgerecht. Bei Durchbruchschmerzen hätte der Kläger zusätzlich eine ergänzende Schmerzmedikation in Form von Präparaten mit sofortiger Wirkstofffreisetzung verordnen können, wie es die Fachinformationen vorsehen. Es liegen auch keine Forschungsergebnisse vor, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für eine Einnahme mehrmals täglich zugelassen werden kann (BSG, Urteil vom 19. März 2002, a.a.O., zitiert nach juris, Rn. 26).

 

III. Die Schadensberechnung des Beklagten, der die Unwirtschaftlichkeit der Verordnung von Jurnista ab einer Verordnungsmenge von 5.000 mg Hydromorphon innerhalb von 30 Tagen angenommen hat, ist nicht zu beanstanden.

 

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 2 VwGO. Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, § 160 Abs. 2 SGG.

Rechtskraft
Aus
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