L 2 AS 519/22

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 19 AS 1839/19
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 2 AS 519/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Nimmt einer von mehreren Klägern seine Klage nach Verkündung, aber vor Absetzung des Berufungsurteils zurück, ist das Urteil, soweit es ausschließlich ihn betrifft, nicht mehr abzusetzen.
2. Auf die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts per Telefax findet § 37 Abs 2 Satz 2 SGB X Anwendung, wonach ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland elektronisch übermittelt wird, am dritten Tag nach der Absendung als bekannt gegeben gilt. 3. § 328 SGB III (iVm § 40 Abs 2 Nr 1 SGB II aF) sieht keine besondere Frist für die endgültige Festsetzung eines Leistungsanspruchs und eine darauf beruhende Erstattungsforderung vor. Der Einwand der Verwirkung gegen eine endgültige Festsetzung und einen Erstattungsanspruch kann nicht erfolgreich geltend gemacht werden, wenn nicht sowohl ein Zeit- als auch ein Umstandsmoment vorliegen.

 

Die Berufung der Klägerin zu 1. wird zurückgewiesen.

 

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand:

 

Die Klägerin zu 1. (im Folgenden: Klägerin) wendet sich im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens gegen die endgültige Festsetzung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für die Zeit von Mai bis Oktober 2012 und eine daraus resultierende Erstattungsforderung.

 

Die 1972 geborene Klägerin und ihr 1992 geborener Sohn, der ursprüngliche Kläger zu 2., bezogen als Bedarfsgemeinschaft laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom Beklagten. Die Klägerin übte daneben eine selbständige Tätigkeit („Promotion“) aus. Für ihren Sohn bezog sie Kindergeld i.H.v. 184 € pro Monat. Er absolvierte ab dem 23. April 2012 ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) und erhielt dafür ein Taschengeld i.H.v. 150 € und Geldersatzleistungen ebenfalls i.H.v. 150 € pro Monat.

 

Für die gemeinsam bewohnte 65,11 qm große Wohnung hatte die Klägerin monatlich insgesamt 467,37 € zu zahlen: 291,32 € Grundmiete, 84,94 € Heizkosten, 91,11 € Nebenkosten. Einen 9 qm großen Raum der Wohnung nutzte sie als Arbeitszimmer.

 

Mit Bescheid vom 26. April 2012 bewilligte der Beklagte der Klägerin vorläufig Leistungen für Mai bis Oktober 2012 i.H.v. insgesamt 499,58 € pro Monat. Die Vorläufigkeit begründete er damit, dass ihr Einkommen aus selbständiger Tätigkeit nur geschätzt werden könne. Mit Bescheid vom 20. Juni 2012 änderte er die Bewilligung und gewährte der Klägerin und ihrem Sohn vorläufig insgesamt 820,84 € pro Monat (davon 528,32 € für die Klägerin und 292,52 € für ihren Sohn).

 

Im Mai 2013 legte die Klägerin eine Erklärung zu ihrem tatsächlich erzielten Einkommen aus selbständiger Tätigkeit in der Zeit von Mai bis Oktober 2012 vor. Ihre Betriebseinnahmen bezifferte sie auf 4.789,58 €, ihre Betriebsausgaben auf 2.664,46 €, den Gewinn auf 2.125,12 €. Als Betriebsausgaben machte sie u.a. Raumkosten (70,23 € pro Monat) und insgesamt 422,70 € Reisekosten geltend. Zu den Reisekosten fand sich in der Anlage zur Erklärung eine detaillierte handschriftliche Auflistung, aus der sich ergab, dass davon insgesamt 370 € auf Verpflegungsmehraufwand entfielen, der je nach Dauer der Ortsabwesenheit mit 6 €, 12 € oder 24 € pro Trag bemessen war.

 

Im Juli 2013 forderte der Beklagte die Klägerin im Hinblick auf die Leistungen für Mai bis Oktober 2012 auf, ein Fahrtenbuch vorzulegen, dessen Führung ihr aufgegeben worden sei. Im August 2013 rief die Klägerin beim Beklagten an und teilte mit, dass sie kein Fahrtenbuch geführt habe.

 

Mit zwei Schreiben vom 24. Oktober 2014, die mit weiteren Schreiben vom 28. Oktober 2015 korrigiert wurden, hörte der Beklagte die Klägerin und ihren Sohn wegen einer Überzahlung von Leistungen für die Zeit von Mai bis Oktober 2012 an. Daraufhin teilte die Klägerin im November 2015 telefonisch mit, dass sie einen Anwalt konsultieren wolle.

 

Mit Bescheid vom 22. Juni 2017, der an die Klägerin adressiert war, setzte der Beklagte die Leistungsbewilligung an sie und ihren Sohn für Mai bis Oktober 2012 auf 558,29 € pro Monat endgültig fest, davon entfielen 393,86 € auf die Klägerin und 164,43 € auf ihren Sohn. Mit gesonderten Bescheiden vom selben Tag forderte er von der Klägerin die Erstattung von 806,76 € und von ihrem Sohn die Erstattung von 768,54 €. Die Zustellung an die Klägerin erfolgte ausweislich der in der Verwaltungsakte des Beklagten enthaltenen Postzustellungsurkunden am 27. Juni 2017, die Zustellung an ihren Sohn, der inzwischen unter einer anderen Anschrift wohnte, am 18. September 2017.

 

Mit anwaltlichem Telefax-Schreiben vom 16. Oktober 2017 legten die Klägerin und ihr Sohn „Widerspruch“ gegen den „Bescheid vom 22.6.2017 (versandt am 14.9.2017)“ ein. Unter Verweis auf § 41a Abs. 5 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II; jetzt: Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende) vertraten sie die Auffassung, eine endgültige Festsetzung für den Bewilligungszeitraum von Mai bis Oktober 2012 sei wegen „der Ausschlußfrist des 31.7.2017 nach diesem Zeitraum nicht mehr zuzustellen“ gewesen. Aus der genannten Vorschrift ergebe sich eine „Jahresschutzfrist“. Sie hätten einen Anspruch darauf, dass die vorläufig erfolgte Bewilligung als endgültige Entscheidung bestehen bleibe.

 

Den Widerspruch der Klägerin verwarf der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 2017 als unzulässig. Den Widerspruch ihres Sohnes verwarf er mit Widerspruchsbescheid vom selben Tag als unzulässig, soweit er sich gegen den Festsetzungsbescheid richtete; soweit er sich gegen den Erstattungsbescheid richtete, wies er ihn als unbegründet zurück. Im daraufhin geführten Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) H. (S 5 AS 3743/17) gab der Beklagte in einem Erörterungstermin am 26. Februar 2019 ein Teilanerkenntnis dahingehend ab, dass der Anspruch des Sohnes der Klägerin anerkannt und der Bescheid vom 22. Juni 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Oktober 2017 gegen ihn aufgehoben werde. Dieses Teilanerkenntnis nahm der Sohn der Klägerin an. Die Klägerin nahm ihre Klage zurück.

 

Der Beklagte hatte die Widersprüche sogleich auch als Überprüfungsanträge behandelt und bereits mit zwei Bescheiden vom 11. Dezember 2018 „ohne Sach- und Rechtsprüfung“ abgelehnt. Die Klägerin und ihr Sohn hätten auch auf entsprechende Aufforderung hin keine Begründung für die behauptete Rechtswidrigkeit der Bescheide vorgetragen. In dem Erörterungstermin am 26. Februar 2019 gab der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, der auch ihren Sohn vertrat, allerdings an, solche Überprüfungsbescheide vom 11. Dezember 2018 nicht zu kennen. Der Beklagte bot daraufhin an, ein erneutes Überprüfungsverfahren durchzuführen.

 

Mit Bescheid vom 21. März 2019 lehnte er den Überprüfungsantrag erneut ab. Der Bescheid war adressiert an die Klägerin, eine Mehrfertigung an ihren Sohn. Zugestellt wurde der Bescheid am 23. März 2019 mit Postzustellungsurkunde an ihren gemeinsamen Bevollmächtigten. Der Beklagte führte aus, von den Raumkosten hätten lediglich 43,32 €?(7,22 € pro Monat) als Betriebsausgaben berücksichtigt werden können; diese beinhalteten anteilig die Hausratversicherung und die Stromkosten für die angegebenen 9 qm, die auf das Arbeitszimmer entfielen. Weitere Raumkosten könnten nicht berücksichtigt werden, weil sie bereits bei der regulären Bedarfsberechnung als Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) anerkannt worden seien; eine Doppelberücksichtigung sei nicht möglich. Der Verpflegungsmehraufwand sei für elf Tage jeweils mit 6 € als Absetzbetrag nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB II i.V.m. § 6 Abs. 3 Arbeitslosgengeld II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V; jetzt: Bürgergeld-Verordnung [Bürgergeld-V]) berücksichtigt worden, insgesamt monatlich 66 €. Die übrigen Reisekosten würden in voller Höhe (52,70 €) anerkannt.

 

Gegen diesen Bescheid legten die Klägerin und ihr Sohn mit Telefax vom 23. April 2019 Widerspruch ein. Sie machten geltend, die Ausgaben für das Arbeitszimmer gehörten einschließlich der hierauf entfallenden Mietaufwendungen nicht zu den KdUH; darauf sei bereits im Antrag hingewiesen worden. Die Ausgaben seien als Betriebsausgaben zu berücksichtigen. Wenn es dadurch zu einer Doppelberücksichtigung komme, beruhe dies allein auf der „fehlerhaften Bedarfsbewilligung“ des Beklagten. Die Kosten des Arbeitszimmers seien in voller Höhe als Betriebsausgaben anzuerkennen.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 21. August 2019 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Aufgrund der Vorläufigkeit der Bewilligung habe sie nicht darauf vertrauen können, dass der Bescheid vom 26. April 2012 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 20. Juni 2012 Bestand haben würde. Der Erstattungsanspruch sei auch nicht verjährt oder verwirkt. Die Erstattungsforderung i.H.v. 806,76 € sei nicht zu beanstanden. Die Klägerin sei durch den zu überprüfenden Bescheid bereits begünstigt. Bei zutreffender Berücksichtigung des Arbeitszimmers ergebe sich ein geringerer Bedarf für KdUH. Außerdem sei der von ihr im Rahmen der Betriebsausgaben angegebene Verpflegungsmehraufwand (erst) als Absetzbetrag vom Einkommen zu berücksichtigen. Korrekt ergebe sich ein monatlicher Anspruch der Klägerin von 379,39 € (statt 393,86 €). Die Erstattungsforderung i.H.v. 806,76 € sei nicht zu beanstanden. In der Verwaltungsakte des Beklagten befindet sich unmittelbar im Anschluss an den Widerspruchsbescheid ein Fax-Sendebericht, wonach am 21. August 2019 um 17:30 Uhr ein fünf Seiten umfassendes Telefax erfolgreich an die Nummer +49 345 292 67 299 gesandt wurde. Auf der Zweitschrift des Widerspruchsbescheids in der Verwaltungsakte befindet sich ein Absendevermerk vom 22. August 2019.

 

Am 24. September 2019, einem Dienstag, haben die Klägerin und ihr Sohn beim SG H. Klage erhoben. Die Ablehnung des Überprüfungsantrags sei rechtswidrig, weil eine Änderung der vorläufigen Bewilligung nach mehr als fünf Jahren unzulässig gewesen sei.

 

Mit Gerichtsbescheid vom 4. Januar 2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Sie sei unzulässig, weil sie nicht binnen eines Monats ab Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids erhoben worden sei. Dieser sei dem Prozessbevollmächtigten des Klägers noch am 21. August 2019 per Fax übersandt und damit bekanntgegeben worden. Die Frist sei somit am 23. September 2019 abgelaufen, die Klage aber erst am Folgetag, dem 24. September 2019 beim SG eingegangen. Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht gestellt worden und Wiedereinsetzungsgründe seien auch nicht erkennbar. Der Gerichtsbescheid, dessen Rechtsmittelbelehrung die Berufung als statthaftes Rechtsmittel angibt, ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin und ihres Sohnes am 8. Januar 2021 zugestellt worden.

 

Am 8. Februar 2021 haben die Klägerin und ihr Sohn beim SG mündliche Verhandlung beantragt und zugleich Berufung eingelegt. Den Antrag auf mündliche Verhandlung haben sie am 21. Juli 2022 zurückgenommen.

 

Die Klägerin meint, ihre Klage sei fristgemäß erhoben worden. Für den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids gelte eine gesetzliche Drei-Tages-Fiktion. Diese sei auch auf Telefaxe anzuwenden. Allerdings sei der Widerspruchsbescheid nicht per Telefax, sondern nur per Post an ihren Prozessbevollmächtigten übersandt worden. In dessen anwaltliches Aktenbearbeitungssystem sei er am 29. August 2021 (sic!) eingestellt worden; die anwaltliche Fristberechnung habe sich an der Zugangsfiktion orientiert.

 

Einen konkreten Antrag hat die anwaltlich vertretene Klägerin nicht formuliert.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er verweist darauf, dass auf dem anwaltlichen Widerspruchsschreiben, das sich in der Verwaltungsakte befinde, sehr wohl die Faxnummer des Prozessbevollmächtigten der Klägerin angegeben worden sei. Der Widerspruchsbescheid sei am frühen Abend des 21. August 2021 gefaxt und dann am nächsten Tag zusätzlich per Post versandt worden. Da die zum Versand bestimmte Post am späten Nachmittag bzw. frühen Abend des 21. August 2022 nicht mehr das Haus verlassen habe, trage der Absendevermerk auf dem Widerspruchbescheid das Datum des Folgetages.

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin schriftlich mitgeteilt, seit 2019 gebe es in seiner Kanzlei kein Faxgerät mehr. Schriftsätze trügen „seit 2018 diese Faxnummer nicht mehr“. Wenn eine Erreichbarkeit per Telefax noch bestehe (was wegen der Administration durch ein Dienstleistungsunternehmen nicht durchgehend der Fall sei), werde das Fax elektronisch empfangen und in einem Sammelordner auf dem Server gespeichert. „Wenn die Sache richtig funktioniert“, erscheine es am nächsten Tag als Posteingangsmitteilung im Anwaltsprogramm; dann müsse es von der Schreibkraft aufgerufen und der richtigen Akte zugeordnet werden. Anschließend werde es dem zuständigen Rechtsanwalt als Eingangspost vorgelegt. Da „die Sache so unsicher“ sei, werde die Faxnummer offiziell nicht mehr verwendet. Am 21. August 2019 seien tatsächlich noch Telefaxe über eine Faxschnittstelle empfangen worden. Dazu existiere aber keinerlei Empfangsaufzeichnung. Die empfangenen Datensätze würden lediglich als pdf-Dateien in die Anwaltssoftware eingestellt. Der Prozessbevollmächtigte der Kläger hat einen Ausdruck einer Seitenansicht seiner Anwaltssoftware vorgelegt, der die Eingänge vom 21. August 2019 zeigen soll, allerdings einer Weitergabe dieses Ausdrucks an den Beklagten widersprochen.

 

Der Berichterstatter hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass nach dem Vorbringen ihres Prozessbevollmächtigten die am 22. August 2019 erfassten Eingänge relevant sein dürften und dass der Senat nur Unterlagen berücksichtigen dürfe, die auch der Gegner zur Kenntnis nehmen könne; ggf. könnten zur Wahrung des anwaltlichen Berufsgeheimnisses Angaben teilweise geschwärzt werden. In der Sache hat er darauf hingewiesen, dass ein tatsächlich höherer Verpflegungsmehraufwand, als in § 6 Abs. 3 Alg II-V pauschal beziffert sei, berücksichtigt werden könne, wenn er konkret dargelegt und nachgewiesen werde. Den Sohn der Klägerin und ursprünglichen Kläger zu 2. hat der Berichterstatter darauf hingewiesen, dass für sein Begehren kein Rechtsschutzbedürfnis zu erkennen sei.

 

Der Senat hat die Prozessakte des SG und die Verwaltungsakte des Beklagten beigezogen.

 

Aufgrund mündlicher Verhandlung vom 15. März 2023, zu der für die Klägerin und ihren Sohn niemand erschienen ist, hat der Senat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und die Berufung ihres Sohnes verworfen. Mit Schriftsatz vom 16. März 2023 hat der Prozessbevollmächtigte der beiden die Klage und die Berufung des Sohnes der Klägerin zurückgenommen.

 

Entscheidungsgründe:

 

1. Gegenstand des vorliegenden Urteils ist nur noch die Berufung der Klägerin (der ursprünglichen Klägerin zu 1). Soweit der Senat am 15. März 2023 auch über die Berufung des ursprünglichen Klägers zu 2. entschieden hat, ist das bereits verkündete, zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht abgesetzte Urteil durch die am 16. März 2023 erklärte Klagerücknahme nachträglich wirkungslos geworden.

 

Die Klage kann gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bis zur Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils zurückgenommen werden. Dies gilt gemäß § 105 Abs. 3 Halbsatz 1 SGG für einen Gerichtsbescheid entsprechend. Der Gerichtsbescheid vom 4. Januar 2021 war am 16. März 2023 noch nicht rechtskräftig, weil das am Vortag verkündete Berufungsurteil den Beteiligten noch nicht zugestellt war, so dass die Rechtsmittelfrist noch nicht in Gang gesetzt war, und der ursprüngliche Kläger zu 2. auch keinen Rechtsmittelverzicht erklärt hatte. Während die Berufung nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung gemäß § 156 Abs. 1 Satz 2 SGG nur mit Einwilligung des Berufungsbeklagten zurückgenommen werden kann, setzt eine Klagerücknahme zu keinem Zeitpunkt eine solche Zustimmung voraus (vgl. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 102 Rn. 6b).

 

Da es sich bei den geltend gemachten Leistungsansprüchen nach dem SGB II um Individualansprüche handelt (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7b AS 8/06 R – juris Rn. 12), konnte der ursprüngliche Kläger zu 2. seine Berufung selbständig zurücknehmen, ohne dass dies Auswirkungen auf das Verfahren der Klägerin (zu 1.) hatte.

 

Die Klagerücknahme erledigt gemäß § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG den Rechtsstreit in der Hauptsache. Gemäß § 202 Satz 1 SGG i.V. § 269 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 Zivilprozessordnung (ZPO) werden in der Sache bereits ergangene Entscheidungen – abgesehen von Kostenentscheidungen nach § 192 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 SGG – mit der Klagerücknahme wirkungslos (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 27. Oktober 2016 – B 13 R 337/15 B – juris Rn. 10). Dies betrifft auch Entscheidungen der Rechtsmittelinstanzen (vgl. BSG, Beschluss vom 27. Oktober 2016 – B 13 R 337/15 B – juris Rn. 10; Burkiczak in: jurisPK-SGG, 2. Auflage 2022, § 102 Rn. 51). Ein bereits verkündetes, aber noch nicht abgesetztes Urteil ist nicht mehr abzusetzen (vgl. Müller in: BeckOGK, § 102 SGG Rn. 18 [Stand: 1. Februar 2023]), ein noch nicht zugestelltes Urteil ist nicht mehr zuzustellen (vgl. Hauck in: Hennig, SGG, § 102 Rn. 28 [Stand: April 2010]). Bei einer zulässigen teilweisen Klagerücknahme werden die bereits ergangenen Urteile teilweise wirkungslos (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R – juris Rn. 36). Auch dem ist bei einer noch ausstehenden Urteilsabsetzung Rechnung zu tragen. Deshalb hat der Senat den wirkungslos gewordenen Teil der verkündeten Urteilsformel, der ausschließlich die Berufung des ursprünglichen Klägers zu 2. betraf und keine Bedeutung für die Entscheidung über die Berufung der Klägerin (zu 1.) hatte, nicht in das vorliegende schriftliche Urteil übernommen.

 

2. Der Senat konnte über die Berufung der Klägerin durch Urteil entscheiden, obwohl zur mündlichen Verhandlung vom 15. März 2023 für sie niemand erschienen ist. Die Ladung vom 7. Februar 2023 ist ihrem Prozessbevollmächtigten ausweislich der vorliegenden Postzustellungsurkunde am 9. Februar 2023 zugestellt worden. Im Ladungsschreiben wurde darauf hingewiesen, dass auch im Falle des Ausbleibens verhandelt und entschieden werden könne.

 

3. Der Gegenstand der Berufung der Klägerin ist neben dem Gerichtsbescheid des SG H. vom 4. Januar 2021 der Bescheid des Beklagten vom 21. März 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. August 2019, mit dem ihr Antrag auf Überprüfung der Bescheide vom 22. Juni 2017 abgelehnt worden ist.

 

4. Diese Berufung ist statthaft. Schon die Erstattungsforderung gegen die Klägerin übersteigt den Mindestwert von 750 € (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 SGG).

 

5. Die zulässige Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

 

a) Die Klage ist allerdings entgegen der Auffassung des SG zulässig.

 

aa) Sie ist bei der nach § 123 SGG gebotenen Auslegung des klägerischen Begehrens unter Berücksichtigung des sog. Meistbegünstigungsgrundsatzes (vgl. BSG, Urteil vom 26. November 2019 – B 2 U 8/18 R – juris Rn. 10) als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage statthaft. Als solche ist sie darauf gerichtet, den Beklagten unter Aufhebung seiner ablehnenden Überprüfungsentscheidung zu verurteilen, die Bescheide vom 22. Juni 2017 dahingehend abzuändern, dass der Klägerin für den Zeitraum von Mai bis Oktober 2012 Leistungen i.H.v. 528,32 € pro Monat endgültig bewilligt werden und keine Erstattungsforderung geltend gemacht wird.

 

bb) Die Klägerin hat auch die Klagefrist des § 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGG gewahrt. Danach ist die Klage binnen eines Monats ab Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids zu erheben. Der Widerspruchsbescheid ist der Klägerin frühestens am 24. August 2019 bekanntgegeben worden. Ihre am 24. September 2019 beim SG eingegangene Klage ist deshalb fristgemäß erhoben worden. Eine wirksame Bekanntgabe i.S.v. § 37 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) ist zu bejahen, wenn die Behörde willentlich dem Adressaten vom Inhalt des Verwaltungsakts Kenntnis verschafft und der Adressat zumindest die Möglichkeit der Kenntnisnahme hat (vgl. BSG, Urteil vom 4. Juni 2014 – B 14 AS 2/13 R – juris Rn. 22). Es kann dahinstehen, ob der Widerspruchsbescheid per Telefax oder ausschließlich per Post übermittelt worden ist. In jedem Fall ist die Bekanntgabe nicht vor dem 24. August 2019 erfolgt.

 

(1) Der Senat hat keinen Zweifel, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Zugangsweg per Telefax für das Widerspruchsverfahren eröffnet hat, indem er auf seinem Widerspruchsschreiben vom 23. April 2019, das er per Telefax übermittelt hat, seine Faxnummer angegeben hat. Soweit er offenbar behaupten will, auf Schriftsätzen seiner Kanzlei werde seit 2018 keine Faxnummer mehr angegeben, hält der Senat dies aufgrund der in der Verwaltungsakte des Beklagten befindlichen Schreiben vom 15. März 2019 und 23. April 2019, die unter den Absenderangaben jeweils auch die Faxnummer enthalten, für widerlegt. Auch spricht vieles dafür, dass eine Bekanntgabe per Telefax tatsächlich erfolgt ist. Das Sendeprotokoll des Beklagten begründet insoweit zwar keinen Anscheinsbeweis, hat aber Indizwirkung (vgl. Bundesgerichtshof [BGH], Urteil vom 19. Februar 2014 – IV ZR 163/13 – juris Rn. 30; Landessozialgericht [LSG] H., Urteil vom 27. Februar 2020 – L 4 AS 72/18 – juris Rn. 28), und es hätte der Klägerin oblegen, diese Indizwirkung durch substantiierten Vortrag zu entkräften. Der von ihrem Prozessbevollmächtigten vorgelegte Ausdruck von Daten aus seiner Anwaltssoftware war aber im Verfahren nicht verwertbar, weil eine Weitergabe an den Gegner ausdrücklich ausgeschlossen worden war (§§ 62, 128 Abs. 2 SGG, Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz [GG]). Zudem wäre es nach dem eigenen Vorbringen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin wohl nicht (allein) auf die am 21. August 2019 registrierten Posteingänge angekommen, sondern (auch) auf diejenigen des Folgetages.

 

Geht man von der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids per Telefax aus, ist diese jedoch erst am 24. August 2019 erfolgt. Dies folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB X. Danach gilt ein Verwaltungsakt, der im Inland oder Ausland elektronisch übermittelt wird, am dritten Tag nach der Absendung als bekannt gegeben. Die Übermittlung des schriftlich vorliegenden Widerspruchsbescheids per Telefax stellt eine elektronische Übermittlung dar (vgl. Heße in: BeckOK Sozialrecht, § 37 SGB X Rn. 7 [Stand: 1. Dezember 2022]; Pattar in: jurisPK-SGB X, 2. Auflage 2017, § 37 Rn. 100; Baer in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, § 41 VwVfG Rn. 83 [Stand: Juli 2020]; Stelkens in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Auflage 2023, § 41 Rn. 82; Schmitz/Schlatmann, NVwZ 2002, 1281, 1288). Für die Anwendung der Vorschrift spricht schon der Wortlaut: Die Versendung eines Telefax stellt einen elektronischen Übermittlungsvorgang dar. Davon gehen auch die Gesetzesmaterialien ausdrücklich aus (vgl. BT-Drs. 14/9000, S. 32 [zu § 15 VwVfG]). Soweit vereinzelt eingewandt wird, Sinn und Zweck der Drei-Tages-Fiktion ließen sich nicht auf eine Übermittlung per Telefax übertragen (vgl. SG B., Urteil vom 28. Januar 2016 – S 26 AS 26429/14 – juris Rn. 23; SG Wiesbaden, Gerichtsbescheid vom 14. Juni 2018 – S 34 AS 95/18 – juris Rn. 19 ff.), überzeugt dies nicht. Hier stellen sich zwar – anders als z.B. beim Versand von Dateien per E-Mail – keine Unwägbarkeiten im Zusammenhang mit dem Internet. Allein der Umstand, dass sich der zeitlich klar umrissene Übertragungsvorgang vergleichsweise zuverlässig nachvollziehen lässt, ändert aber nichts daran, dass der genaue Zeitpunkt der Bekanntgabe im Sinne des Gesetzes oftmals nicht leicht bestimmbar ist. Denn maßgeblich ist, wann bei gewöhnlichem Verlauf und normaler Gestaltung der Verhältnisse mit der Kenntnisnahme durch den Empfänger zu rechnen ist (vgl. Engelmann in: Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 37 Rn. 8 m.w.N.). Dafür reicht bei einem Telefax nach h.M. nicht aus, dass dieses im Speicher des Empfangsgeräts aufgezeichnet worden ist (vgl. Baer, a.a.O., § 41 Rn. 75; Stelkens, a.a.O., § 41 Rn. 84 f.). Insoweit schafft die Drei-Tages-Fiktion auch hier verwaltungspraktische Erleichterung. Soweit in systematischer Hinsicht eingewandt wird, § 36a Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I) passe nicht auf Telefaxe (vgl. Littmann in: Hauck/Noftz, SGB X, § 37 Rn. 35 [Stand: Mai 2017]), übersieht dieser Einwand, dass § 36a SGB I elektronische Dokumente betrifft, während es bei der Anwendung von § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB X auf Telefaxe um die elektronische Übermittlung eines schriftlichen Verwaltungsaktes geht (vgl. Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Beschluss vom 30. März 2006 – 8 B 8/06 – juris Rn. 7 [zu § 55a VwGO]; Bundesfinanzhof [BFH], Urteil vom 28. Januar 2014 – VIII R 28/13 – juris Rn. 23 f. [zu § 87a AO]).

 

(2) Aufgrund der zusätzlichen und unstreitig erfolgreichen Übersendung des Widerspruchsbescheids per Post ergibt sich keine frühere Bekanntgabe. Der tatsächliche Zugangszeitpunkt der Postsendung ist nicht dokumentiert. Selbst wenn man davon ausginge, dass hier die Drei-Tages-Fiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X zur Anwendung kommt (zu den Voraussetzungen siehe BSG, Urteil vom 3. März 2009 – B 4 AS 37/08 R – juris Rn. 17; Engelmann, a.a.O., § 37 Rn. 29), ergäbe sich lediglich eine Bekanntgabe am 25. August 2019, so dass auch danach die Klagefrist gewahrt wäre.

 

cc) Die Klage ist auch im Übrigen zulässig.

 

b) Sie ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Änderung der Bescheide vom 22. Juni 2017. Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen; er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 44 Abs. 2 SGB X). Die Bescheide vom 22. Juni 2017 sind jedoch nicht zum Nachteil der Klägerin rechtswidrig.

 

aa) Der Beklagte hat die Leistungen für die Klägerin zu Recht endgültig festgesetzt. Rechtsgrundlage ist § 328 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III) i.V.m. § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II in der bis zum 31. Juli 2016 geltenden Fassung und § 80 Abs. 2 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2022 geltenden Fassung (vgl. BSG, Urteil vom 12. September 2018 – B 4 AS 39/17 R – juris Rn. 31).

 

Die ursprüngliche Leistungsbewilligung ist vorläufig erfolgt. Die Vorläufigkeit ist in den Bescheiden vom 26. April 2012 und 20. Juni 2012 zweifelsfrei zum Ausdruck gekommen.

 

Die endgültige Festsetzung ist auch der Höhe nach nicht zu Lasten der Klägerin rechtswidrig.

 

Als Bedarfe der nach § 7 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Nr. 2 und 4 SGB II vorliegenden Bedarfsgemeinschaft zu berücksichtigen sind die monatlichen Regelbedarfe i.H.v. 374 € (Klägerin) und 299 € (Sohn der Klägerin). Bei der Ermittlung der KdUH ist von den insgesamt angefallenen Unterkunftskosten i.H.v. 467,37 € auszugehen. Dieser Betrag ist jedoch zu mindern um den Anteil, der auf das Arbeitszimmer der Klägerin entfällt. Denn Kosten für ein Arbeitszimmer, welche der Leistungsberechtigte als Betriebsausgabe in Abzug bringen will, sind nicht als KdUH anzusehen, da § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II nur Leistungen für privaten Wohnraum umfasst (vgl. BSG, Urteil vom 6. April 2011 – B 4 AS 119/10 R – juris Rn. 36). Bei einer Gesamtgröße der Wohnung von 65,11 qm, von denen 9 qm als Arbeitszimmer und demnach 56,11 qm zum Wohnen genutzt werden, verbleiben KdUH i.H.v. 402,77 € (467,37 € : 65,11 qm x 56,11 qm).

 

Als Einkommen i.S.v. § 11 SGB II zu berücksichtigen ist zunächst das Einkommen der Klägerin aus selbständiger Tätigkeit. Legt man die von ihr angegebenen Betriebseinnahmen und ausgaben (einschließlich der Raumkosten) zugrunde (§ 3 Alg II-V in der bis zum 31. Juli 2016 geltenden Fassung) und zieht lediglich den geltend gemachten Verpflegungsmehraufwand i.H.v. insgesamt 370 € ab, weil Verpflegungsmehraufwand erst im Rahmen der Einkommensbereinigung nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB II zu berücksichtigen ist, verbleibt ein Gewinn i.H.v. 2.495,12 € (4.789,58 € - [2.664,46 € - 370 €]). Es ergibt sich ein monatlicher Gewinn i.H.v. 415,85 €, der um den Grundfreibetrag nach § 11b Abs. 2 SGB II (100 €) und den weiteren Erwerbstätigenfreibetrag nach § 11b Abs. 3 SGB II (63,17 €) zu bereinigen ist. Den Grundfreibetrag übersteigende Absetzbeträge liegen nicht vor. Die Kfz- und die Berufshaftpflichtversicherung der Klägerin sind bereits vollständig als Betriebsausgaben berücksichtigt worden. Ein höherer Verpflegungsmehraufwand, als § 6 Abs. 3 Alg II-V pauschal vorsieht, ist nicht zu berücksichtigen. Der Leistungsberechtigte kann zwar nach Rechtsprechung des BSG auch über den vom Verordnungsgeber festgelegten Pauschalsatz hinaus Aufwendungen geltend machen (vgl. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2012 – B 4 AS 27/12 R – juris Rn. 27). Dies ist aber nicht geschehen. Für einen tatsächlichen höheren Aufwand ist nichts ersichtlich. Für die Klägerin ergibt sich daher – wie auch der Beklagte im Widerspruchsbescheid angenommen hat – ein bereinigtes monatliches Einkommen von 252,68 €.

 

Ihr Sohn verfügte über ihm gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II in der bis zum 31. Juli 2016 geltenden Fassung zuzurechnendes Einkommen aus Kindergeld (184 € pro Monat) sowie über ein Einkommen aus seinem FSJ i.H.v. insgesamt 300 € pro Monat, davon 150 € als Taschengeld. Dieses Taschengeld kommt gemäß § 1 Abs. 7 Alg II-V in der bis zum 31. Dezember 2012 geltenden Fassung nicht zur Anrechnung. Nach dieser Vorschrift ist bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die an einem Bundesfreiwilligendienst oder einem Jugendfreiwilligendienst teilnehmen, anstelle der Beträge nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 5 SGB II vom Taschengeld ein Betrag von insgesamt 175 € monatlich abzusetzen. Dabei handelt es sich um einen Höchstabzugsbetrag (vgl. Striebinger in: BeckOGK, § 11b SGB II Rn. 61 [Stand: 1. August 2021]). Da die Versicherungspauschale von 30 € in diesem Betrag bereits enthalten ist („anstelle der Beträge nach § 11b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 bis 5“), ist sie – auch von den anderen Einnahmen – nicht gesondert abzuziehen. Als anrechenbares Einkommen verbleiben 334 € pro Monat.

 

Ausgehend von den zutreffend ermittelten Bedarfen und dem ebenso zutreffend ermittelten Einkommen hat der Beklagte die Leistungsansprüche der Klägerin unter Anwendung der Verteilungsregel des § 9 Abs. 2 SGB II im Widerspruchsbescheid korrekt ermittelt. Insoweit kann auf den Widerspruchsbescheid verwiesen werden.

 

bb) Die Erstattungsforderung gegen die Klägerin beruht auf § 328 Abs. 3 SGB III i.V.m. § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II a.F., § 80 Abs. 2 SGB II a.F. Der Bescheid ist individualisiert und hinreichend bestimmt. Die Erstattungsforderung ist ausgehend von der erfolgten endgültigen Festsetzung zutreffend ermittelt worden.

 

cc) Weder der endgültigen Festsetzung noch der Erstattungsforderung steht entgegen, dass die Bescheide erst im Juni 2017 ergangen sind.

 

Die Jahresfrist des § 41a Abs. 5 SGB II lief hier gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II a.F. erst ab dem 1. August 2016, war also bei Zustellung der Bescheide an die Klägerin am 27. Juni 2017 noch nicht abgelaufen. Eine rückwirkende Anwendung der Vorschrift ab einem früheren Zeitpunkt scheidet schon aufgrund der eindeutigen Übergangsregelung in § 80 Abs. 2 SGB II a.F. aus (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 4. August 2021 – L 6 AS 268/19 – juris Rn. 57).

 

§ 328 SGB III sieht für die Behörde keine besondere Handlungsfrist vor (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 4. April 2017 – L 2 AS 1921/16 – juris Rn. 50). Auch findet die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X keine Anwendung auf die endgültige Festsetzung nach § 328 Abs. 2 SGB III (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 31. Juli 2018 – L 13 AS 1951/16 – juris Rn. 27; Hessisches LSG, a.a.O.; LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.; Sächsisches LSG, Urteil vom 15. Dezember 2022 – L 7 AS 694/19 – juris Rn. 34; Thüringer LSG, Urteil vom 22. März 2018 – L 9 AS 323/16 – juris Rn. 40; a.A.: SG N., Urteil vom 12. November 2015 – S 14 AS 969/15 – juris Rn. 37). Die Vorschrift dient dem Schutz des Vertrauens in einen endgültigen Bescheid. Ein solcher liegt bei einer vorläufigen Bewilligung aber gerade nicht vor, sodass eine entsprechende Anwendung nicht in Betracht kommt, zumal § 328 SGB III eine abschließende Regelung für endgültige Festsetzungen enthält

 

Die Erstattungsforderung ist auch nicht verjährt. Der Erstattungsanspruch nach § 328 Abs. 3 SGB III verjährt in entsprechender Anwendung von § 50 Abs. 4 SGB X in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der endgültige Bescheid unanfechtbar geworden ist; wenn ein Erstattungsbescheid ergangen und unanfechtbar geworden ist, gilt die 30jährige Verjährungsfrist aus § 52 Abs. 2 SGB X (vgl. Düe in: Brand, SGB III, 9. Auflage 2021, § 328 Rn. 27 m.w.N.).

 

Der endgültigen Festsetzung und der Erstattungsforderung steht auch nicht der Einwand der Verwirkung entgegen. Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden „besonderen Umstände“ liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand), und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2016 – B 1 KR 40/15 R – juris Rn. 20 m.w.N.).

 

Vorliegend fehlt es jedenfalls an einem solchen Umstandsmoment, nämlich einem Verwirkungsverhalten des Beklagten. Dieser hat keinerlei Verhalten an den Tag gelegt, das den Eindruck erwecken konnte, es würde nicht mehr zu einer endgültigen Festsetzung und einer darauf beruhenden Erstattungsforderung kommen. Vielmehr gab es 2013, 2014 und zuletzt im November 2015 Kontakt zwischen dem Beklagten und der Klägerin wegen der noch ausstehenden endgültigen Festsetzung und der daraus resultierenden Erstattungsforderung. Dazu sind 2014 und 2015 ausdrückliche Anhörungen erfolgt.

 

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

7. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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