L 9 R 1277/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 17 R 3897/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 1277/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 23. März 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand


Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Die 1966 geborene Klägerin türkischer Staatsangehörigkeit lebt seit 1983 in der Bundesrepublik Deutschland. Sie verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Zuletzt arbeitete sie 17 Jahre bei der Firma F als Produktionshelferin und war seit Mitte 2015 arbeitsunfähig erkrankt. Das Beschäftigungsverhältnis endete gegen eine Abfindung von ca. 17.000 €. Im Versicherungsverlauf sind Beitragszeiten mit Pflichtbeiträgen bis zum 12.07.2015, vom 13.07.2015 bis zum 31.05.2016 Beitragszeiten mit Bezug von Leistungen eines Sozialleistungsträgers (Krankengeldbezug), vom 01.06.2016 bis 20.06.2016 Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug, vom 21.06.2016 bis 20.6.2017 mit Pflichtbeiträgen wegen Bezugs von Leistungen der Bundesagentur für Arbeit sowie vom 01.12.2020 bis zum 31.07.2021 Bezug von Arbeitslosengeld II gespeichert.

Seit August 2018 ist der Klägerin ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 zuerkannt, seit November 2020 ein solcher von 50.

Vom 15.10.2015 bis zum 12.11.2015 befand sich die Klägerin unter der Kostenträgerschaft der Beklagten zur stationären Rehabilitation in der M-Klinik N. Rehabilitationsdiagnose war eine mittelgradige depressive Episode. Die Entlassung erfolgte arbeitsunfähig für weitere sechs bis acht Wochen, im Anschluss wurde die Klägerin wieder für in der Lage gehalten, sowohl ihre bisherige Tätigkeit als Produktionsarbeiterin als auch sonstige Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr auszuüben. Aufgrund der von der Klägerin als unlösbar erlebten Konflikte (erlebte Unterdrückung am Arbeitsplatz, Mobbing) solle jedoch keine Rückkehr auf den letzten Arbeitsplatz erfolgen. Im Rahmen der Einzeltherapie sei es der Klägerin gelungen, ihre zum Teil dysfunktionalen Verhaltensmuster zu erkennen. Alternative Bewältigungsstrategien habe sie jedoch für sich kaum erarbeiten können.

Ein erster Rentenantrag der Klägerin wurde von der Beklagten mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 02.03.2016 abgelehnt. Zwar leide die Klägerin an einer mittelgradigen depressiven Episode im Sinne einer Anpassungsstörung bei Arbeitsplatzkonflikt, einer Hypothyreose und einem Wirbelsäulenleiden (lumbaler Bandscheibenvorfall, Lumboischialgie); sie könne jedoch nach sozialmedizinischer Auswertung unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen noch mindestens sechs Stunden pro Arbeitstag auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Tätigkeiten ausüben.

Am 13.03.2018 beantragte die Klägerin erneut die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Zur Begründung gab sie im Antragsvordruck an, sie halte sich seit dem 01.06.2015 wegen ihrer Bandscheibe und psychischer Störungen für erwerbsgemindert. Die Beklagte zog Berichte des H (26.02.2018), des S (03.06.2018) und G (08.03.2018) bei und ließ diese sozialmedizinisch auswerten (sozialmedizinische Stellungnahme K vom 09.04.2018).

Mit Bescheid vom 22.05.2018 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Die Klägerin könne nach ihrer medizinischen Beurteilung noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein.

Den hiergegen am 12.06.2018 erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass sie unter multiplen Beschwerden, insbesondere Depressionen, die mittelgradig bis schwergradig ausgeprägt seien, und einer somatoformen Schmerzstörung leide. Die von ihren behandelnden Ärzten mitgeteilten Befunde seien nicht ausreichend gewürdigt worden.  Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte bei K ein Gutachten ein. K diagnostizierte in ihrem Gutachten vom 15.08.2018 eine rezidivierende depressive Störung, eine leichtgradige Agoraphobie mit Panikstörung ohne relevantes Vermeidungsverhalten, eine somatoforme Schmerzverarbeitungsstörung bei psychischen und körperlichen Faktoren und abklärungswürdige Synkopen. Sie hielt das Krankheitsbild sowohl im Rahmen der Depression als auch im Rahmen der Agoraphobie für nicht stark ausgeprägt; denkbare Therapieoptionen seien nicht ausgeschöpft. Die Klägerin sei noch in der Lage, leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten überwiegend im Gehen, Stehen oder Sitzen zu ebener Erde, in Tag-, Früh- und Spätschicht sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten. Nicht möglich seien Tätigkeiten mit Zeitdruck, an laufenden Maschinen, mit Absturzgefahr, mit häufigem Überkopfarbeiten, mit Wirbelsäulenzwangshaltungen, Nacht- und Wechselschicht.

Mit Widerspruchsbescheid vom 03.12.2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Unter Berücksichtigung aller Gesundheitsstörungen und der sich daraus ergebenden funktionellen Einschränkungen bei der Ausübung von Erwerbstätigkeiten seien keine Auswirkungen ersichtlich, die das Leistungsvermögen der Klägerin für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zeitlich einschränkten. Der Klägerin seien noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten unter Berücksichtigung der genannten qualitativen Einschränkungen sechs Stunden und mehr täglich zumutbar.

Zur Begründung der am 21.12.2018 zum Sozialgericht (SG) Mannheim erhobenen Klage hat die Klägerin vorgetragen, dass sie entgegen der Auffassung von K an massiven Gesundheitsstörungen leide. Eine somatoforme Schmerzstörung könne durchaus das quantitative Leistungsvermögen mindern. Auch bestehe eine deutlich stärkere Depression als von K eruiert. Darüber hinaus lägen noch orthopädische Beschwerden bezüglich der Wirbelsäule sowie Synkopen vor. Zumindest eine Zeitrente sei zu gewähren.

Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen vernommen und bei S1 und (auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) H Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eingeholt. S hat mit Auskunft vom 10.09.2019 mitgeteilt, dass die Klägerin seit Juni 2015 in seiner regelmäßigen Behandlung sei. Er habe anfänglich eine Anpassungsstörung mit depressiver Komponente bei Konfliktsituationen am Arbeitsplatz diagnostiziert. Diese Beschwerden mit affektiv chronischer Angst, Besorgtheit, Kraftlosigkeit, Nutzlosigkeit, gedrückter Stimmung und kognitiven Störungen seien auch nach Durchführung einer Rehabilitationsmaßnahme in der M-Klinik N (Oktober 2015) und Auflösung des Arbeitsvertrages erhalten geblieben. Bei erheblich gestörten sozialen Kompetenzen, Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und anhaltend psychophysisch reduzierter Leistungsfähigkeit könne die Klägerin wahrscheinlich in Zukunft nicht mehr einer geregelten Arbeit nachgehen. H hat mit Auskunft vom 12.04.2019 nach seinem Eindruck den Antrag der Klägerin auf Verrentung für gerechtfertigt gehalten. Sie leide unter chronischen Schmerzen mit deutlicher Beeinträchtigung und Leistungsminderung im Alltag, Zeichen aus dem depressiven Formenkreis, der Gedächtnisstörung, der Schlafstörung mit Konzentrationsstörungen tagsüber und Tagesmüdigkeit. Darüber hinaus bestehe ein Reizzustand an der Lendenwirbelsäule (LWS) mit in beide Beine ausstrahlenden Schmerzen, mittelgradig eingeschränktem Bewegungsumfang, Zeichen der lumbalen Minderbelastbarkeit und der Ischiasneuropathie beidseits, ohne dass Lähmungen oder schwergradige Gefühlsstörungen zurzeit bekannt seien. Bei G (vgl. Auskunft vom 25.04.2019) war die Klägerin seit Januar 2006 in hausärztlicher Behandlung, seit April 2015 auch in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie (Gesprächstherapie im Schnitt alle drei bis vier Wochen). G hat die folgenden Diagnosen mitgeteilt: Rezidivierende depressive Störung - schwergradige Episode, generalisierte Angststörung, Panik-attacke, Agoraphobie mit Panikstörung, Grübelzwang, Schlafstörung, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, chronische Lumbalgie, Gedächtnisstörung, lumbale Spinalkanalstenose, Erschöpfungssyndrom. Trotz intensiver Therapiemaßnahmen habe bisher keine Besserung der Beschwerden erreicht werden können. Die geistige Leistungsfähigkeit sei durch die Gedächtnisstörung sowie durch die schwere depressive Symptomatik mit Agoraphobie und Panikstörung deutlich eingeschränkt, die körperliche Leistungsfähigkeit bei den genannten somatischen Erkrankungen auch ziemlich eingeschränkt. Die Klägerin sei nicht mehr in der Lage, irgendeiner auch leichten Tätigkeit unter drei Stunden täglich nachzugehen. M hat mit am 29.04.2019 beim SG eingegangener Auskunft über Vorstellungen der Klägerin einmal im Jahr 2015, zweimal im Jahr 2018 und zuletzt am 01.02.2019 berichtet. Bei zunehmender Claudicatio-spinalis-Symptomatik sollte in den nächsten Jahren eine operative Therapie im Sinne einer Dekompression des Spinalkanals überlegt werden. Da die Klägerin unter chronischen Rückenschmerzen leide, sollten seines Erachtens leichte Tätigkeiten drei bis sechs Stunden pro Tag nicht überschreiten.

S1 hat in seinem neurologisch-psychiatrischem Gutachten vom 21.10.2019 bei der Klägerin eine chronisch-depressive Verstimmung im Sinne einer Dysthymia, akzentuierte Persönlichkeitszüge und Beschwerden des Stütz- und Bewegungsapparates ohne relevante sensomotorische Ausfülle diagnostiziert. Der Ausprägungsgrad der seelischen Symptomatik insgesamt sei als leicht bis maximal mittel einzustufen. Zwar bestünden hierdurch Einschränkungen hinsichtlich der geistigen und psychischen Belastbarkeit. Jedoch liege ein arbeitstägliches Leistungsvermögen ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit von mindestens sechs Stunden für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vor. Unter Berücksichtigung der Aktenlage, der Anamnese und der erhobenen Untersuchungsbefunde ergebe sich kein ausreichender Grund für die Annahme einer Einschränkung des Durchhaltevermögens. Die Klägerin wirke vital. Die kognitiven Funktionen, insbesondere die Denkfunktionen, seien nicht leistungsrelevant eingeschränkt, auch ergäben sich keine Einschränkungen der Psychomotorik, der sozialen Kompetenzen und der Alltagskompetenzen.

Demgegenüber hat H1 in seinem Gutachten vom 19.11.2020 nach § 109 SGG bei der Klägerin unter Berücksichtigung der von ihm gestellten Diagnosen einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und einer anhaltenden depressiven Entwicklung (mittelgradig) die Klägerin aufgrund der „Auswirkung der psychomentalen Belastbarkeit“ nur noch für drei bis unter sechs Stunden je Arbeitstag in der Lage gehalten, leichte körperliche Tätigkeiten auszuüben ohne erhöhte Verantwortung für Personal und Vermögenswerte und ohne erhöhten Anspruch an das Umstellungsvermögen. Tätigkeiten im Akkord oder am Fließband, auf Leitern und Gerüsten oder an gefährlichen Maschinen seien nicht möglich.

Die Beklagte ist der Klage unter Vorlage sozialmedizinischer Stellungnahmen von N1 vom 12.06.2019 und vom 08.12.2019 entgegengetreten. In Auswertung der von den behandelnden Ärzten und von H1 erhobenen psychopathologischen Befunde lasse sich eine mittelgradige depressive Störung nicht nachvollziehen. Das Gutachtensergebnis passe besser zu den diagnostischen Einschätzungen des S1, welcher eine Dysthymia diagnostiziert habe. Insofern könne das abweichende Postulat eines geminderten quantitativen Leistungsvermögens im Gutachten von H1 nicht zweifelsfrei nachvollzogen werden.

Mit Urteil vom 23.03.2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Die - näher dargelegten - Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung lägen nicht vor. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe für das Gericht fest, dass die Klägerin entsprechend der Ausführungen von S1 vom 21.10.2019 unter chronischen depressiven Verstimmungen im Sinne einer Dysthymia und akzentuierten Persönlichkeitszügen leide. Diese führten zu qualitativen Einschränkungen in Bezug auf die geistige und psychische Belastbarkeit. Nicht mehr möglich seien Tätigkeiten mit Zeitdruck, an laufenden Maschinen, Tätigkeiten mit Absturzgefahr, mit häufigen Überkopfarbeiten, mit Wirbelsäulenzwangshaltungen, mit Nachtschicht und mit Wechselschicht. In zeitlicher Hinsicht lägen keine Einschränkungen vor, aufgrund derer die Klägerin unter Berücksichtigung der qualitativen Einschränkungen nicht mindestens sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein könne. Seine Leistungsbeurteilung habe der Sachverständige S1 schlüssig und überzeugend aus den von ihm erhobenen Befunden unter Einbeziehung der aktenkundigen Vorbefunde und aus den mitgeteilten Diagnosen abgeleitet. Sofern der Sachverständige H1 davon ausgehe, dass die Klägerin nur noch in einem zeitlichen Umfang von drei bis unter sechs Stunden leistungsfähig sei, vermöge sich das Gericht dem nicht anzuschließen. Es sei nicht nachvollziehbar, wie H1 auf Grundlage des pauschalen Verweises auf die psychomentale Belastbarkeit zu der getroffenen Leistungsfeststellung gekommen sei. Entsprechendes gelte für die Leistungsbeurteilungen im Rahmen der Auskünfte der behandelnden Ärzte. Diese hätten als Behandler im Rahmen eines vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnisses keine fundierte Konsistenzprüfung durchgeführt, was ihnen auch nicht obliege.

Gegen das ihr am 27.03.2021 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 12.04.2021 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, dass ihrer Auffassung nach die Leistungseinschätzung des Sachverständigen H1 überzeugender sei als die von S1. H1 habe insbesondere auch die Schmerzstörung berücksichtigt. Auch leide die Klägerin an einer depressiven Entwicklung. Es liege nicht lediglich eine Dysthymia vor wie von S1 behauptet. Hiervon gingen auch die behandelnden Ärzte aus.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 23. März 2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Aus der Berufungsbegründung ergäben sich keine neuen Gesichtspunkte, die eine Änderung ihres bisherigen Standpunktes zuließen. Sie verweise zur Vermeidung von Wiederholungen auf ihren Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren sowie auf die Ausführungen im Urteil des SG vom 23.03.2021. Die Beklagte hat ferner unter Vorlage eines aktualisierten Versicherungsverlaufs vom 28.04.2022 darauf hingewiesen, dass bei einem Eintritt der Erwerbsminderung ab dem 01.08.2019 die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt seien.

Der Senat hat ein weiteres Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eingeholt. In seinem Gutachten vom 10.01.2022 hat B nach Untersuchung der Klägerin sowie unter Auswertung der bisherigen aktenkundigen medizinischen Unterlagen sowie weiterer von der Klägerin vorgelegter Berichte der behandelnden Ärzte M, S, G und H bei der Klägerin eine Dysthymia sowie eine anklingende Angststörung diagnostiziert. Anhaltspunkte für eine organ-neurologische Störung oder eine hirnorganisch begründete Psychopathologie habe er nicht finden können. Es bestünden auf der Grundlage der durchgeführten Beschwerdevalidierungstests und der Diskrepanz zwischen reklamierten Beschwerden und nicht korrespondierendem Bemühen, diese genauer zu klären, sehr deutliche Hinweise für nicht authentische Beschwerdeanteile bzw. simulative Tendenzen. Aus nervenärztlicher Sicht seien seit Beginn des Rentenverfahrens leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten möglich. Auszuschließen seien Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten, an unmittelbar gefährdenden Maschinen, unter Zeitdruck, in regelmäßiger nervöser Anspannung, ebenso Tätigkeiten mit Anforderungen an die Konfliktfähigkeit, mit überdurchschnittlich fordernden sozialen Interaktionen, in direktem Publikumsverkehr sowie mit Stressfaktoren wie Nacht- oder Wechselschicht. Wie H1 in seinem Gutachten nach § 109 SGG eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren habe herleiten und sozialmedizinisch beurteilen können, ohne dass überhaupt eine klinische Untersuchung stattgefunden habe, sei schwer nachvollziehbar. Auch sei im psychopathologischen Befund an keiner Stelle eine erkennbare Schmerzbeeinträchtigung angemerkt. Es sei auch ansonsten keine Pathologie beschrieben, die eine quantitative Leistungsminderung auf ein drei- bis unter sechsstündiges Leistungsvermögen nachvollziehen lasse.

Die Klägerin hat sich mit dem Ergebnis der Begutachtung durch B nicht einverstanden erklärt, auf das Gutachten des R (gemeint: H1) in der ersten Instanz verwiesen und weitere (teilweise bereits aktenkundige) Arztberichte von H vom 05.04.2022, 08.02.2022, und 05.08.2021, von G vom 14.04.2022, von S vom 19.04.2022 und von M vom 22.04.2022 vorgelegt, auf die inhaltlich Bezug genommen wird.

Die Berichterstatterin des Senats hat mit den Beteiligten am 27.04.2022 einen Erörterungstermin durchgeführt, in dem die Klägerin Gelegenheit hatte, weiter hinsichtlich der bei ihr bestehenden Gesundheitsbeeinträchtigungen vorzutragen. Eine von der Berichterstatterin angeregte und von der Beklagten in diesem Termin angebotene Leistung zur stationären Rehabilitation auf schmerzmedizinisch-psychosomatischem Fachgebiet hat die Klägerin als aus ihrer Sicht nicht erfolgversprechend abgelehnt. Sie hat auf Nachfrage der Berichterstatterin mitgeteilt, Arbeitslosengeld II bezogen zu haben, solange ihr Mann arbeitslos gewesen sei. Seit er wieder arbeite, beziehe sie keine Leistungen vom Jobcenter mehr. Sie sei auch nicht mehr arbeitsuchend gemeldet. Im Erörterungstermin haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zu Protokoll erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 und 2 SGG form- und fristgemäß eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das angefochtene Urteil des SG vom 23.03.2021 ist nicht zu beanstanden; der Bescheid vom 22.05.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.12.2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.

Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).
 
Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben Versicherte gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI.

Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens drei bis unter sechs Stunden erwerbstätig sein kann, der Teilzeitarbeitsmarkt aber verschlossen ist (Gürtner in KassKomm, Stand 114. EL Mai 2021, SGB VI, § 43 Rn. 58 und 30 ff.).

Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist generell nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zutreffend ausgeführt, dass die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nicht erfüllt sind. Der Senat schließt sich dem nach eigener Überprüfung und unter Berücksichtigung des gesamten Vorbringens der Beteiligten an und weist die Berufung der Klägerin zunächst aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung gemäß § 153 Abs. 2 SGG zurück.

Eine Erwerbsminderung der Klägerin, das heißt ein Absinken ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit auf ein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von weniger als sechs Stunden täglich, lässt sich zur Überzeugung des Senats auch unter Berücksichtigung ihres Berufungsvorbringens zu keinem Zeitpunkt belegen, insbesondere - nachdem zwischenzeitlich die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind - nicht vor dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt 01.08.2019. Vielmehr ist die Klägerin unter Berücksichtigung aller vorliegenden medizinischen Unterlagen und Gutachten in der Lage, zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts bei Beachtung qualitativer Einschränkung mehr als sechs Stunden arbeitstäglich zu verrichten. Dies folgt für den Senat ebenso wie für das SG insbesondere aus dem im Klageverfahren vom SG eingeholten Gutachten des S1, darüber hinaus auch aus dem vom Senat eingeholten Gutachten des B. Hingegen vermag sich der Senat nicht der Einschätzung der H1 in dem vom SG nach § 109 SGG eingeholten Gutachten anzuschließen.

Auf neurologischem Fachgebiet haben sich die von der Klägerin angegebenen Ohnmachten nicht objektivieren lassen. Gegenüber der Gutachterin im Verwaltungsverfahren hat die Klägerin angegeben, sie sei vor Terminen sehr aufgeregt, dann bekomme sie Herzrasen, Luftnot und werde manchmal sogar ohnmächtig. Dies sei aber vor dem heutigen Begutachtungstermin nicht der Fall gewesen. Von dem behandelnden S sind in der Auskunft vom 10.04.2019 zwar Beschwerden der Klägerin in Form von Ängsten und depressiver Stimmungslage mitgeteilt, Ohnmachten jedoch nicht genannt worden. In Anbetracht der Tatsache, dass S die Klägerin seit 2015 regelmäßig behandelt, erscheint das durchaus auffällig. Die von S1 durchgeführten neurophysiologischen Untersuchungen waren durchweg unauffällig. Frühere Versuche neurologischer Abklärung sind nach den Angaben der Klägerin gegenüber B und der Berichterstatterin im Erörterungstermin ergebnislos geblieben. Auch im Rahmen seiner eigenen Untersuchungen vermochte B eine organ-neurologische Störung nicht festzumachen. Er hat vielmehr, soweit die Klägerin nicht bei insistierendem Nachfragen hinsichtlich konkreter Situationen schließlich doch angegeben hat, nicht „richtig“ ohnmächtig gewesen zu sein, psychogene Mechanismen als ursächlich angenommen. Dies steht in Korrelation zu den Ausführungen von K: Auch dort hat die Klägerin zunächst allgemein Ohnmachten bei Angst vor Terminen angegeben, diese bei konkreten Nachfragen dann doch verneint (vor dem heutigen Termin nicht). Nachdem auch bei den detaillierten Nachfragen durch B zu konkreten Situationen sowohl am Arbeitsplatz als auch zu Hause wirkliche Ohnmachtsereignisse von der Klägerin nicht bestätigt wurden und sich die Klägerin hierdurch jedenfalls in der Vergangenheit auch nicht gehindert gesehen hat, Auto zu fahren, vermag auch der Senat hierin eine sozialmedizinische Relevanz nicht zu erkennen. Dies gilt umso mehr, als die Klägerin gegenüber B angegeben hat, sie kenne die Anzeichen für eine kommende „Ohnmacht“ und sei in der Lage, entsprechend darauf zu reagieren (etwa sich hinzusetzen oder hinzulegen).

Auf psychiatrischem Fachgebiet leidet die Klägerin an chronischen depressiven Verstimmungen im Sinne einer Dysthymia bei vorbestehenden akzentuierten Persönlichkeitszügen. Das folgt zur Überzeugung des Senats insbesondere aus dem Gutachten der K vom 15.08.2018, das der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet, des S1 vom 21.10.2019 und des B vom 10.01.2022. Bei der Untersuchung durch K erschien die Klägerin kooperativ, offen, auskunftsbereit, teilweise aber auch etwas theatralisch, klagsam.  Sie war in allen Qualitäten voll orientiert, affektiv leicht- bis mittelgradig herabgestimmt, die affektive Schwingungsfähigkeit war nicht eingeschränkt, die Klägerin zeigte spontan positive Emotionen (z.B. in der Beschreibung des Spielens mit ihren Enkelkindern), aber auch Weinen bei belastenden Themen. Der Antrieb war regelrecht, die Psychomotorik ruhig, das formale Denken war geordnet, Konzentration, Auffassungsvermögen und Mnestik waren ungestört. S1 hat im psychischen Befund eine niedergeschlagene, subdepressive bzw. dysthyme Stimmung beschrieben. Themenbezogen bestand eine Weinerlichkeit, die affektive Resonanzfähigkeit zum positiven Pol war aber nicht aufgehoben, einige Male hat die Klägerin auch spontan und authentisch gelächelt. Für eine signifikante Antriebsminderung, psychomotorische Hemmung, Störungen des Bewusstseins, der Orientierung, der Auffassung, der Konzentration und des Gedächtnisses ergaben sich keine Anhaltspunkte. In ihrer Grundpersönlichkeit wirkte die Klägerin ängstlich bzw. selbstunsicher veranlagt mit histrionischen Persönlichkeitsanteilen. B schließlich hat die Klägerin als bewusstseinsklar, sicher in allen Qualitäten orientiert, im Denken formal geordnet beschrieben. Auffassung, Konzentration, Merkfähigkeit, Gedächtnis und Aufmerksamkeit waren im mehrstündigen Untersuchungsgang (9.50 Uhr bis 14.35 Uhr ohne Pause) ungestört; es gab keine Hinweise für kognitive Störungen, intellektuelle Defizite oder Wahrnehmungsstörungen. Die Antriebslage war bis zuletzt lebendig, die Stimmung im Grundtenor zwar missmutig und klagsam, jedoch zeitweise auch munterer und lachend. Unter Zugrundelegung dieser Befunde sowie unter Berücksichtigung der von der Klägerin gegenüber den Sachverständigen gemachten Angaben zu Aktivitäten und Tagesablauf (regelmäßige Besuche von Kindern und Enkeln, Spielen mit den Enkeln, Telefongespräche mit der Tochter, Tätigkeiten im Haushalt, Wahrnehmung von Arztterminen, regelmäßige Flugreisen in die Türkei, etwa Besuch der Hochzeit des Sohnes oder der Mutter in der Türkei und deren Betreuung dort) erscheint dem Senat die gestellte Diagnose „nur“ einer Dysthymie bzw. depressiver Verstimmungen nachvollziehbar. Zu Recht haben sowohl B in seinem Gutachten als auch N1 für die Beklagte mit sozialmedizinischer Stellungnahme vom 08.12.2019 darauf hingewiesen, dass die von H1 gestellte Diagnose einer mittelgradigen anhaltenden depressiven Entwicklung aus dem von dem Sachverständigen erhobenen Befund kaum ableitbar erscheint. H1 hat zwar eine gedrückte Stimmung und reduzierte affektive Schwingungsfähigkeit beschrieben. Andererseits war die Klägerin sicher orientiert, der formale Gedankengang war geordnet, es gab keine Hinweise auf mnestische Funktionsstörungen, eine inhaltliche Denkstörung, Sinnestäuschung oder Ich-Störung. Selbst wenn man davon ausginge, dass diese Befunde nicht nur die Diagnose einer Dysthymia, sondern am Untersuchungstag die einer mittelgradigen Depression rechtfertigen würden, vermag der Senat hierin gerade mit Blick auf die erhobenen Befunde der drei weiteren Sachverständigen keine „anhaltende depressive Entwicklung“ zu erkennen.

Darüber hinaus bestehen bei der Klägerin Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Angststörung (von S1 bezeichnet als „anklingende“ Angststörung, auch mit Panikattacken seit der Kindheit, bei K bezeichnet als leichtgradige Agoraphobie, bei den behandelnden Ärzten S und G: chronische Angst und Besorgtheit bzw. Angststörung, Panikattacke). Allerdings werden diese Ängste wenig konkretisiert: Bei S hat die Klägerin speziell im Zusammenhang mit der (zwischenzeitlich aufgegebenen) Arbeitsstelle über Ängste vor der Arbeit, bei G allgemein über Zukunftsängste geklagt. Bei K hat die Klägerin mitgeteilt, nur mit ihrer Familie zusammen sein zu wollen, sie könne nicht unter Menschen gehen. Auch vor Terminen sei sie sehr aufgeregt, sie bekomme dann Herzrasen, Luftnot und werde manchmal sogar ohnmächtig. Bei B hat die Klägerin dann Angst davor angegeben, dass ihrer Mutter in der Türkei oder ihren Kindern und Enkelkindern etwas zustoße oder dass sie in Ohnmacht falle. Allerdings vermochten weder B noch S1 ein aufgrund der beschriebenen Ängste relevantes Vermeidungsverhalten zu eruieren. Insbesondere bestehen tatsächlich keine Hindernisse, das Haus zu verlassen (die Klägerin besucht z.B. mit ihren Enkeln den Spielplatz, sucht Ärzte auf und hat auch zuletzt noch eine Flugreise in die Türkei zum Besuch ihrer erkrankten Mutter unternommen). Ebenso haben die nach den Angaben der Klägerin seit der Kindheit bestehenden Ängste sie nicht daran gehindert, bis 2015 einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Hinsichtlich der von H1 darüber hinaus diagnostizierten chronischen Schmerzstörung ist darauf hinzuweisen, dass sowohl N1 mit sozialmedizinischer Stellungnahme für die Beklagte als auch B zutreffend bemängelt haben, dass H1 eine körperlich-klinische Untersuchung selbst nicht durchgeführt hat. Auch im psychopathologischen Befund hat H1 keine erkennbare Schmerzbeeinträchtigung beschrieben. Ebenso wenig vermochten S1 und B während der ausführlichen Anamnesegespräche - obwohl die Klägerin im Rahmen der Anamneseerhebung Schmerzen in Schultern und Kreuz der Stärke 7 angegeben hat - und im Zusammenhang mit den durchgeführten körperlichen Untersuchungen eine Schmerzgeplagtheit oder schmerzbedingte Funktionsstörungen zu erkennen. S1 hat, was angesichts der bestehenden Spinalkanalstenose nachvollziehbar erscheint, Beschwerden des Stütz- und Bewegungsapparates ohne relevante sensomotorische Ausfälle diagnostiziert. Dies steht im Einklang mit den Angaben des behandelnden M, bei dem sich die Klägerin wegen Rückenschmerzen vorgestellt hat und der nach einer MRT-Untersuchung am 07.03.2018 eine deutlich zunehmende Spinalkanalstenose bei LWK 4/5 und LWK 3/4, weniger bei LWK 2/3 diagnostiziert, bei zunehmender Claudicatio-spinalis-Symptomatik eine operative Therapie angeregt und zur Schmerztherapie Krankengymnastik/Massage, medikamentöse Therapie oder Facetten-Infiltration empfohlen hat. Insoweit haben von der Klägerin angegebenen Beschwerden durchaus ein organisches Korrelat. Auch vor diesem Hintergrund vermag der Senat die Herleitung von H1, der die Entstehung der von ihm diagnostizierten anhaltenden depressiven Entwicklung nahezu ausschließlich vor dem Hintergrund der von ihm angenommenen somatoformen Schmerzstörung sieht, nicht nachzuvollziehen.

Unabhängig hiervon kommt es bei der Feststellung einer zur Rentengewährung führenden Erwerbsminderung auch nicht nur auf eine Diagnosestellung oder Bezeichnung von Befunden an (hier: chronische Schmerzstörung oder Schmerzen infolge des Wirbelsäulenleidens). Vielmehr ist die Beeinflussung des Leistungsvermögens durch dauerhafte Gesundheitsstörungen zu prüfen (Bundessozialgericht <BSG>, Beschluss vom 09.09.2019 - B 5 R 21/19 B -, juris, m. w. N.). Damit sind maßgeblich nicht die Diagnosen an sich, sondern Art und Ausmaß der mit den vorliegenden Erkrankungen verbundenen funktionellen Einschränkungen und Beeinträchtigungen in Bezug auf das berufliche Leistungsvermögen. Die Einschränkungen in qualitativer Hinsicht, die bei der Klägerin bestehen, haben die Sachverständigen S1, H1 und B weitgehend übereinstimmend und überzeugend hergeleitet: Die vorliegende Dysthymia bedingt Einschränkungen hinsichtlich der geistigen und psychischen Belastbarkeit der Klägerin. Die psychische Symptomatik ist jedoch nicht derart ausgeprägt, als dass sie ein unüberwindbares Hemmnis für die Aufnahme und Ausführung einer Tätigkeit darstellen würde. Dies hindernde Störungen der sozialen Kompetenzen und der Alltagskompetenzen hat keiner der befassten Sachverständigen beschrieben. Die Klägerin verfügt auch über die erforderliche Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit, um sich innerhalb von drei Monaten in eine neue Berufstätigkeit einarbeiten zu können. Sie kann daher zur Überzeugung des Senats leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufnehmen und ausüben. Schwere Tätigkeiten sind aufgrund des Rückenleidens nicht mehr möglich. Auszuschließen sind daneben aufgrund der eingeschränkten psychischen Belastbarkeit der Klägerin lediglich Tätigkeiten unter Zeitdruck, in regelmäßiger nervöser Anspannung, mit Anforderungen an die Konfliktfähigkeit, mit überdurchschnittlich fordernden sozialen Interaktionen, in direktem Publikumsverkehr sowie mit Stressfaktoren wie Nacht- oder Wechselschicht, Tätigkeiten an unmittelbar gefährdenden Maschinen sowie auf Leitern und Gerüsten.

Wenn diesen Einschränkungen jedoch Rechnung getragen wird, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen, wieso diese zumutbaren Arbeiten nur noch drei bis sechs Stunden (H1, M) oder sogar unter drei Stunden (G, S, H) je Arbeitstag durchgeführt werden könnten.

Der Sachverständige H1 hat diese Annahme mit den Auswirkungen der Erkrankung der Klägerin auf die psychomentale Belastbarkeit begründet. Dies überzeugt den Senat jedoch ebenso wenig wie das SG. Dass eine entsprechende Ermüdbarkeit und Beeinträchtigung sozialkommunikativer Fähigkeiten die Klägerin auch an einer leidensgerechten, die qualitativen Einschränkungen berücksichtigenden Tätigkeit hindern würde, ist für den Senat nicht überzeugend dargetan. Im Rahmen der Untersuchung selbst hat H1 keine konkreten (etwa erschöpfungsbedingten) Veränderungen im Verhalten der Klägerin beschrieben. S1 hat unter Berücksichtigung von Aktenlage, Anamnese und der von ihm erhobenen Untersuchungsbefunde keinen ausreichenden Grund für die Annahme einer Einschränkung des Durchhaltevermögens gesehen. Eine auffallende Erschöpftheit vermochte er in der Gutachtensituation nicht zu erkennen. Auch eine etwa organisch bedingte vermehrte Erschöpfbarkeit bestand nach S1 nicht. B hat mehrfach auf die bis zuletzt lebendige Antriebslage der Klägerin im mehrstündigen Untersuchungsgang hingewiesen. Die von der Klägerin angegebenen Konzentrationsstörungen oder Vergesslichkeit sind im Rahmen der Untersuchung nicht aufgetreten. Auch Auffassung, Konzentration, Merkfähigkeit und Aufmerksamkeit blieben bei der von 10.50 bis 13.40 Uhr dauernden reinen Anamneseerhebung, aber auch bei den darüber hinaus durchgeführten psychologischen Testungen und körperlichen Untersuchungen ungestört. Insoweit hält der Senat die Ausführungen von B für überzeugend, wonach (auch bei den früheren Untersuchungen durch die Vorgutachter) im mehrstündigen gutachterlichen Querschnitt eine zeitliche Leistungsminderung auf unter sechs bzw. sogar unter drei Stunden nicht nachvollziehbar ist.

Soweit die behandelnden Ärzte S und G in ihren Angaben gegenüber dem SG die Klägerin für dauerhaft erwerbsunfähig, also unter drei Stunden leistungsfähig ansehen, ist dies schon aus deren Auskünften nebst weiterer vorgelegter Befundberichte nicht ableitbar und jedenfalls nach den Begutachtungen durch S1 und B widerlegt. Bereits N1 hat mit sozialmedizinischen Stellungnahme vom 12.06.2019 und vom 08.12.2020 darauf hingewiesen, dass die von S und G mitgeteilten Befunde weder die von diesen Ärzten vorgenommene diagnostische Einschätzung noch die angenommenen funktionalen Auswirkungen im Sinne einer vollen Erwerbsminderung rechtfertigen. Entsprechendes gilt für die Angaben des H, der zwar Beschwerdeangaben der Klägerin, nicht jedoch die gestellten Diagnosen stützende Befunde mitgeteilt hat. S1 hat in seinem Gutachten nachvollziehbar ausgeführt, dass er aus gutachterlicher Sicht die von G, H und S getroffenen Leistungsbeurteilungen nicht teilt. Auch B hat darauf hingewiesen, dass von den behandelnden Ärzten, insbesondere bei H ungeachtet der Diagnosefülle ein diese Diagnosen rechtfertigender klinischer Befund nicht beschrieben ist.

Damit kann der Senat sich ebenso wenig wie das SG davon überzeugen, dass die Erkrankungen der Klägerin für sich genommen sowie auch insgesamt betrachtet zu einer mindestens sechs Monate andauernden auch zeitlichen Leistungseinschränkung geführt haben. Die vorliegenden Gesundheitsstörungen mit den beschriebenen Einschränkungen können zwar das Spektrum der für die Klägerin in Betracht kommenden Tätigkeiten einschränken, sie begründen aber keinen Zweifel an ihrer weitgehend normalen betrieblichen Einsatzfähigkeit für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes.

Ein Rentenanspruch kann auch nicht auf die Grundsätze einer schweren spezifischen Leistungsbeeinträchtigung oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen gestützt werden. Nach der Rechtsprechung des BSG liegt eine volle Erwerbsminderung ausnahmsweise selbst bei einer mindestens sechsstündigen Erwerbsfähigkeit vor, wenn der Arbeitsmarkt wegen besonderer spezifischer Leistungseinschränkungen als verschlossen anzusehen ist. Dem liegt zugrunde, dass eine Verweisung auf die verbliebene Erwerbsfähigkeit nur dann möglich ist, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten (vgl. BSG, Urteil vom 30.11.1983 - 5a RKn 28/82 - und zuletzt BSG, Urteil vom 11.12.2019 - B 13 R 7/18 R -, Juris). Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist bei Versicherten mit zumindest sechsstündigem Leistungsvermögen für leichte Arbeiten erforderlich, wenn die Erwerbsfähigkeit durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert ist. Eine Verweisungstätigkeit braucht erst dann benannt zu werden, wenn die gesundheitliche Fähigkeit zur Verrichtung selbst leichter Tätigkeiten in vielfältiger, außergewöhnlicher Weise eingeschränkt ist. Ausgehend hiervon liegt bei der Klägerin unter Berücksichtigung der von ihr zu beachtenden qualitativen Einschränkungen weder eine besondere spezifische Leistungsbeeinträchtigung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Nach dem Ergebnis der Begutachtungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet hat der Senat keine Zweifel, dass die Klägerin typische Verrichtungen, die nur mit körperlich und geistig leichten Belastungen einhergehen (z. B. Sortier- und Montiertätigkeiten, Boten- und Bürodienste), ausführen kann.

Auch ist die Klägerin in der Lage, einen Arbeitsplatz aufzusuchen. Sie kann viermal täglich eine Strecke von 500 m in einem Zeitaufwand von unter 20 min zurücklegen und öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Eine sich relevant auf die Gehfähigkeit auswirkende Störung lässt sich weder den eingeholten Auskünften der behandelnden Ärzte noch den Gutachten entnehmen. Es bestehen keine objektiven Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und übliche Wegstrecken zu Fuß zurücklegen könnte. Darüber hinaus ist sie – jedenfalls über den Zeitraum hinaus, in dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch erfüllt waren – auch noch selbst PKW gefahren, so zu den Untersuchungen bei S1 in M1 am 17.10.2019 und bei H1 in H2 am 16.09.2020.
 
Dass bei der Klägerin ein GdB von 50 anerkannt ist, führt im vorliegenden Verfahren auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung zu keinem anderen Ergebnis. Denn die Beurteilung nach dem Schwerbehindertenrecht hat für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit im Rahmen eines Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsminderung keine anspruchsbegründende Bedeutung (BSG, Beschluss vom 09.12.1987 - 5b BJ 156/87 -, Juris) und die Voraussetzungen für die Beurteilung des GdB unterscheiden sich maßgeblich von jenen für die Beurteilung einer Erwerbsminderung (vgl. BSG, Beschluss vom 10.07.2018 - B 13 R 64/18 B -, Juris).

Der Klägerin ist somit keine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI. Nach § 240 Abs. 1 SGB VI haben Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze auch Versicherte, die vor dem 02.01.1961 geboren und berufsunfähig sind. Nachdem die Klägerin am 15.07.1966 und damit nach dem genannten Stichtag geboren ist, scheidet ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit bereits aus diesem Grund aus. Darüber hinaus ist die Klägerin, die keine Ausbildung absolviert hat, auf ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar, die sie wie dargelegt unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen auch noch mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann.

Damit ist die Berufung insgesamt zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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