L 1 KR 366/20

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 44 KR 2747/19
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 366/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Zum Anspruch eines behinderten Kindes auf Zweitversorgung mit einem Therapiestuhl für den Schulbesuch.

      1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 30. Juni 2020 wird zurückgewiesen.
      2. Die Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.
      3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Streitig ist die (Zweit-)Versorgung mit einem Therapiestuhl für den Schulbesuch.

 

Die 2010 geborene und bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Klägerin leidet an einer schweren globalen Entwicklungsstörung bei epileptischer Enzephalopathie mit Tetraplegie/Tremor, Rumpfataxie und mentaler Retardierung. Ihr sind der Pflegegrad 5 und ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 zuerkannt. Die Klägerin ist mit einem Rollstuhl mobilisiert. In der Häuslichkeit ist sie zudem mit einem Therapiestuhl versorgt. Ein zweiter Therapiestuhl wurde ihr von der Beklagten für den Kindergartenbesuch bewilligt. Seit August 2017 besucht die Klägerin eine Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Dort benutzte sie zunächst den für den Kindergartenbesuch angeschafften zweiten Therapiestuhl weiter.

 

Unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung vom 18.07.2019 und eines Kostenvoranschlages vom 08.08.2019 (5.821,09 €) beantragte die Klägerin am 08.08.2019 die Kostenübernahme für einen Therapiestuhl Everyday hi-Low Gr. 3 mit Fußschalen inkl. Fußschalen, Becken- und Seitenpelotten, Armlehnen, Tisch und Kopfstütze, Beckengurt und Schmetterlingsgurt als wachstumsbedingte Folgeversorgung. Diese sei notwendig, um die Bänke und Tische in der Schule anzufahren.

 

Mit Bescheid vom 12.08.2019 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Im Rahmen des Behinderungsausgleiches sei die Klägerin bereits mit einem angepassten Rollstuhl versorgt worden. Damit werde Transfer und körpergerechtes Sitzen ermöglicht.

 

Hiergegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 26.08.2019. Der aus dem Kindergarten überführte Therapiestuhl werde täglich genutzt. Um ihr die Teilhabe am Klassenverband zu ermöglichen, sei sie auf den Therapiestuhl angewiesen. Denn mit diesem könne sie gemeinsam und auf Augenhöhe mit Mitschülern und Lehrern am Unterricht teilnehmen. Mit dem Rollstuhl gelinge dies aufgrund dessen Größe nicht. Nur mit dem Therapiestuhl könnten die Tische unterfahren werden. In einer dem Widerspruchsschreiben beigefügten Stellungnahme des Universitätsklinikums X.... A.... vom 29.08.2019 bestätigte Dr. med. W...., Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums, die Notwendigkeit der wachstumsbedingten Folgeversorgung. Es müsse der Klägerin ermöglicht werden, mit Lehrern und Kindern auf Augenhöhe zu kommunizieren und Förderung zu erhalten. Der vorhandene Rollstuhl weise aufgrund der erforderlichen Funktionen eine größere Standfläche und Sitzhöhe auf und könne in der Schule nur bedingt zum Einsatz kommen. Der Therapiestuhl sichere die Krankenbehandlung durch physiologische, tonusregulierende und korrigierende Positionierung, aber auch die Sicherung der Schulpflicht und die Teilhabe am Unterrichtsgeschehen.

 

Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.12.2019 zurück. Nach Prüfung der Unterlagen könne die Notwendigkeit eines Therapiestuhles für die Schule nicht bestätigt werden, denn mit der vorhandenen Hilfsmittelversorgung sei der Basisausgleich ausreichend gewährleistet.

 

Gegen den Bescheid der Beklagten vom 12.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2019 hat die Klägerin, vertreten durch den gesetzlichen Vertreter, am 16.12.2019 vor dem Sozialgericht (SG) Dresden Klage erhoben. Es müsse ihr ermöglicht werden, auf Augenhöhe mit Mitschülern und Lehrern zu kommunizieren. Mit dem vorhandenen Rollstuhl sei dies wegen der zu großen Standfläche und der abweichenden Sitzhöhe nicht möglich. Die in der Schule vorhandenen Holztische besäßen eine Höhe von 62 cm. Der Rollstuhl überschreite dieses Maß bereits durch die vorhandenen Kniepelotten (63,5 cm). Die Armlehnen wiesen ein Obermaß von 69 cm auf, die Spurbreite betrage 79 cm. Bei dem Rollstuhl werde die Fußfixierung durch den vorhandenen Fußsack verdeckt. An- und Abbau des Fußsackes seien aufwändig. Bei Neigung klappe auch der dazugehörige Tisch mit nach hinten. Der Therapiestuhl sei hingegen höhenverstellbar und zudem mit der notwendigen Fußfixierung ausgestattet. Die Rückenlehne des Therapiestuhles sei zudem individuell einstellbar. Dies erleichtere auch die Nahrungsaufnahme, die mit leicht nach hinten geklappter Rückenlehne erfolge, um ein Herauslaufen der Nahrung aus dem Mund zu verhindern. Dabei übe sie – die Klägerin – gerade die selbständige Nahrungsaufnahme. Im Therapiestuhl sitzend könne der Teller auf dem Schultisch abgestellt werden. Aus diesen Gründen sei sie auch im Rahmen des Kindergartenbesuchs mit einem Therapiestuhl versorgt gewesen. Wachstumsbedingt sei die Folgeverordnung ausgestellt worden. Im vorhandenen Rollstuhl sitze sie abseits und entfernt von Lehrern und Mitschülern.

 

Dem ist die Beklagte entgegengetreten. Auch im Rollstuhl sei ein Positionswechsel möglich. Zudem handele es sich bei der von der Klägerin besuchten Schule um eine heilpädagogische Einrichtung. Möglichkeiten zum Lagerungswechsel stünden zur Verfügung. Ebenso sei davon auszugehen, dass die DIN-Norm 18040-1 für die Einrichtung gelte, um die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten. Es müsse auch Mobiliar bereitgestellt werden, das das Unterfahren mit einem Rollstuhl ermögliche. Mit höhenverstellbaren Tischen sei dies gewährleistet. Die Verantwortung des Schulträgers könne nicht auf die Beklagte übergewälzt werden.

 

Mit Beschluss vom 03.02.2020 hat das SG die Schulträgerin gemäß § 75 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Verfahren beigeladen.

 

Die Beigeladene hat mitgeteilt, dass die Klägerin den Therapiestuhl in der Schule benötige, da sie mehrfach täglich ihre Körperhaltung wechseln müsse, wozu sie im Rollstuhl nicht in der Lage sei. Ohne Therapiestuhl sei die Klägerin zu 70% vom Schulalltag ausgeschlossen. Dies betreffe Morgenkreis, Malen und Schreiben.

 

Mit Urteil vom 30.06.2020 hat das SG der Klage stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2019 verurteilt, die Klägerin mit einem Therapiestuhl entsprechend der ärztlichen Verordnung vom 18.07.2019, entsprechend dem Kostenvoranschlag des Sanitätshauses vom 08.08.2019 und angepasst an die aktuelle Größe der Klägerin zu versorgen. Der Therapiestuhl inklusive des verordneten Zubehörs seien als Basisausgleich zur Befriedigung des Grundbedürfnisses Schulbildung zu gewähren. Der tägliche Transport des in der Häuslichkeit vorhandenen Therapiestuhles sei nicht zumutbar. Auch der kantelbare Rollstuhl sei nicht geeignet, dieses Grundbedürfnis zu befriedigen. Eine Pflicht des Schulträgers zur entsprechenden Versorgung bestehe nicht. Durch den Therapiestuhl in der Schule könne eine deutliche Verbesserung im Schulalltag erreicht werden, die wesentliche Inhalte des Schulalltags betreffe und eine Kommunikation mit Lehrern und Mitschülern auf Augenhöhe und eine Entlastung beim Sitzen durch Positionswechsel ermögliche, wobei Anstecktisch und Armlehnen in gerader Position verblieben. Aufgrund der Verstellbarkeit der Rückenlehne des Therapiestuhles in unterschiedliche Neigungswinkel sei ein Positionswechsel zudem schnell und unkompliziert möglich. Dies ermögliche der Klägerin ein optimales Hantieren mit den vorhandenen Unterrichtsmaterialien. Durch die Fußfixierung gelinge der Klägerin ein konzentriertes Arbeiten im Unterricht. Beim Rollstuhl hingegen seien lediglich zwei Sitzpositionen einstellbar, wobei bei der Neigung auch Tisch und Armlehne folgten, sodass Unterrichtsmaterialien rutschten. Durch die Abmessungen des Rollstuhles stehe die Klägerin abseits, da die im Klassenzimmer vorhandenen Tische mit dem Rollstuhl nicht unterfahrbar seien. Der Verweis der Beklagten auf die Pflicht der Schule zur Bereitstellung höhenverstellbarer Tische überzeuge nicht. Eine Teilhabe am Unterrichtsgeschehen durch alle Schüler könne nur dann erreicht werden, wenn diese mit individuell angepassten Hilfsmitteln versorgt seien. Zudem sei der Schulträger nur für Sachmittel zuständig, die allgemein von Schülern genutzt würden. Dies betreffe nicht individuell angepasste Hilfsmittel. Der Therapiestuhl sei Teil des Basisausgleichs, da die Beigeladene mitgeteilt habe, dass die Klägerin ohne diesen zu 50-70% von der aktiven Teilnahme am Unterrichtsgeschehen ausgeschlossen sei.

 

Gegen das ihr am 09.07.2020 zugstellte Urteil richtet sich die am 21.07.2020 bei dem Sächsischen Landessozialgericht (LSG) eingelegte Berufung der Beklagten. Es sei nicht ersichtlich, worin bei dem Therapiestuhl die bessere Sitzposition gegenüber dem Rollstuhl bestehen solle. Die Notwendigkeit des Arbeitens auf einer Höhe mit anderen Kindern möge sinnvoll sein. Eine zwingende Voraussetzung für die Teilnahme am Unterricht sei dies nicht. Die Sitzkantelung sei nicht notwendig. Eine Druckentlastung könne auch durch Positionswechsel im Rollstuhl erreicht werden. Es könne zudem nicht zu Lasten der Beklagten gehen, wenn die erforderliche Ausstattung für die Unterrichtssituationen nicht vom Schulträger angeschafft werde. Bei dem begehrten Therapiestuhl handele es sich nicht um ein individuell angepasstes Hilfsmittel. Einzuräumen sei allerdings, dass bei Neigung des Rollstuhls der dazugehörige Tisch – anders als bei dem Therapiestuhl – nicht abweichend einstellbar sei. Dennoch halte sie an der Entscheidung fest. Denn ein Nutzen des Tisches bei geneigter Sitzposition sei nicht erkennbar.

 

Die Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 30. Juni 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie verweist auf die Ausführungen im Urteil des SG, aufgrund dessen sie mit Blick auf § 199 SGG von der Beklagten vorläufig mit einem zweiten Therapiestuhl versorgt worden ist.

 

Die Beigeladene stellt keinen Antrag. Sie hat mitgeteilt, dass aufgrund der Rumpfinstabilität immer wieder verschiedene Sitzpositionen notwendig seien. Ohne ein Mindestmaß an Rumpfstabilität erreiche die Klägerin nicht das Maß an Aufmerksamkeit, das für den Unterricht erforderlich sei. Insbesondere der Therapiestuhl ermögliche es ihr, mit der notwendigen Aufmerksamkeit am Unterricht teilzunehmen, da die Klägerin die geeignete Sitzposition einnehmen könne. Die während einer Unterrichtsstunde mehrfach notwendigen Positionswechsel seien mit dem Rollstuhl nicht möglich. Ohne den Therapiestuhl sei die Klägerin vom Unterricht mehr oder weniger ausgeschlossen.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte beider Instanzen und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand des Verfahrens gewesen sind.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. Sie ist unbegründet.

Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das SG der Klage stattgegeben. Der Bescheid der Beklagten vom 12.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin kann von der Beklagten die Versorgung mit einem weiteren Therapiestuhl zur Nutzung in der Schule als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verlangen.

Die Beklagte war für die Zweitversorgung der Versicherten mit dem weiteren Therapiestuhl leistungspflichtig, weil das Hilfsmittel unter den gegebenen Umständen dieses Falles erforderlich (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V) und wirtschaftlich war (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V). Die Ausstattung der Versicherten mit dem ersten Therapiestuhl war zum Behinderungsausgleich nicht ausreichend, weil die Versicherte in der von ihr besuchten Schule mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung einen solchen zweiten Therapiestuhl benötigte, der vorhandene (Erst-)Therapiestuhl zum täglichen Transport nicht geeignet und der (Zweit-)Therapiestuhl dem Erwerb einer elementaren Schulausbildung und somit der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens diente.

Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Die begehrte Zweitversorgung mit dem weiteren Therapiestuhl diente hier ersichtlich nicht der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung (1. Variante) und auch nicht der Vorbeugung einer drohenden Behinderung (2. Variante), sondern allein dem Ausgleich der Folgen der seit Geburt bestehenden Behinderung der Klägerin (3. Variante).

Der Therapiestuhl ist als speziell für gehunfähige und der Haltungsstabilisierung bedürftige Menschen entwickeltes und hergestelltes Hilfsmittel kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens und auch nicht durch die Rechtsverordnung nach § 34 Abs. 4 SGB V von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 03.11.2011 – B 3 KR 8/11 R – juris Rn. 13).

Leistungen zum Zweck des Behinderungsausgleichs sind zwar nicht unbegrenzt von der GKV zu erbringen. Die GKV hat nicht jegliche Folgen von Behinderung in allen Lebensbereichen durch Hilfsmittel auszugleichen. Im Bereich des von ihr zu erfüllenden Behinderungsausgleichs bemisst sich die originäre Leistungszuständigkeit der GKV nach dem Zweck des Hilfsmittels, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mindert und damit der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens und einem möglichst selbstbestimmten und selbstständigen Leben dient. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens zählen das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (BSG, Urteil vom 10.09.2020 – B 3 KR 15/19 – juris Rn. 17; Urteil vom 08.08.2019 – B 3 KR 21/18 R – juris Rn. 26; Urteil vom 30.11.2017 – B 3 KR 3/16 R – juris Rn. 17). Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums gehört auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens bzw. eines Schulwissens (BSG, Urteil vom 06.08.1998 – B 3 KR 3/97 R – juris Rn.17; Urteil vom 24.05.2006 – B 3 KR 12/05 R – juris Rn. 18). Daneben hat die höchstrichterliche Rechtsprechung als Grundbedürfnis auch die Herstellung und die Sicherung der Schulfähigkeit eines Schülers bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung anerkannt (BSG, Urteil vom 03.11.2011 – B 3 KR 8/11 R – juris Rn. 15).

Für den Versorgungsumfang, insbesondere Qualität, Quantität und Diversität, kommt es entscheidend auf den Umfang der mit dem begehrten Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile im Hinblick auf das zu befriedigende Grundbedürfnis an. Es besteht Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch auf eine Optimalversorgung. Entscheidend sind daher die Gebrauchsvorteile, ohne dass hierfür maßgeblich die Unterscheidung zwischen unmittelbarem und mittelbarem Behinderungsausgleich heranzuziehen wäre (BSG, Urteil vom 07.05.2020 – B 3 KR 7/19 R – juris Rn. 27; Urteil vom 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R – juris Rn. 42). Zu berücksichtigen ist hierbei der Paradigmenwechsel, den das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz mit sich gebracht hat, und wodurch Menschen mit Behinderungen ermöglicht werden soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen (siehe hierzu BSG, Urteil vom 10.09.2020 – B 3 KR 15/19 R – juris Rn. 26 ff.; Urteil vom 07.05.2020 – B 3 KR 7/19 R – juris Rn. 31). Der Anspruch auf ein Hilfsmittel der GKV zum Behinderungsausgleich ist danach nicht von vornherein auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung beschränkt. Entscheidend ist vielmehr, dass das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beträgt – oder zumindest maßgebliche Erleichterung verschafft –, behinderten Menschen ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen (BSG, Urteil vom 10.09.2020 – B 3 KR 15/19 R – juris Rn. 27).

Vorliegend dient die Versorgung der Klägerin mit einem für ihre Bedürfnisse angepassten Therapiestuhl dem sicheren Sitzen und betrifft schon damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens. Die Klägerin, die an einer schweren globalen Retardierung einhergehend mit Rumpfataxie und Tremor leidet und deshalb im häuslichen Bereich mit einem Therapiestuhl versorgt ist, benötigt den weiteren Therapiestuhl für den Schulbesuch, sodass der Erwerb einer elementaren Schulausbildung angesprochen ist, der ebenfalls ein Grundbedürfnis ist.

Die Beklagte hat ihre Leistungspflicht nach § 33 Abs. 1 SGB V nicht bereits mit der Bereitstellung des ersten Therapiestuhls erfüllt, weil die Klägerin für den Schulbesuch einen zweiten Therapiestuhl benötigt.

Nach der Rechtsprechung des BSG kommt eine Zweitversorgung auf Kosten der GKV bei vorhandener Erstversorgung dann in Betracht, wenn das zur Verfügung gestellte Hilfsmittel aufgrund seiner fehlenden oder nur unter unzumutbaren Bedingungen herzustellenden Transportfähigkeit nur im häuslichen Bereich und nicht auch – nach täglich erfolgtem Transport – anderswo verwendet werden kann, wobei die Eignung eines kompletten Therapiestuhls zum regelmäßigen Transport insbesondere von seiner Größe und seinem Gewicht, der einfach zu handhabenden Montage und Demontage sowie von den Sicherungsmöglichkeiten während des Transports abhängt (BSG, Urteil vom 03.11.2011 – B 3 KR 8/11 R – juris Rn. 23).

Ein täglicher Transport des in der Häuslichkeit vorhandenen Therapiestuhles kommt im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Der Senat geht nicht zuletzt im Hinblick auf die Bewilligung einer Zweitversorgung für den Kindergarten davon aus, dass sich der im häuslichen Bereich vorhandene Therapiestuhl aufgrund seiner Schwere und Sperrigkeit nicht für den täglichen Transport zur Schule eignete. Dass sich die Verhältnisse seitdem diesbezüglich geändert hätten, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Soweit die Beklagte auf die Nutzung des vorhandenen Rollstuhls verweist, vermag dies den Senat – wie auch das SG – nicht zu überzeugen, denn mit diesem kann die Klägerin am Unterricht nur eingeschränkt teilnehmen. Mit dem sperrigen Rollstuhl kann die Klägerin die Tische in der von ihr besuchten Schule nicht unterfahren. Bereits die angegebene Größe des Rollstuhles steht dem entgegen. Dadurch kann sie nicht wie die anderen Schüler am Tisch sitzen, wodurch sie abseits steht. Zudem ist nach der medizinischen Einschätzung von Dr. med. W...., Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums am Universitätsklinikum A...., vom 29.08.2019 die im Hinblick auf den hypotonen Grundtonus und die Rumpfataxie erforderliche physiologische, tonusregulierende und korrigierende Positionierung durch den Therapiestuhl gewährleistet, während der vorhandene Rollstuhl lediglich um 90 Grad gekippt werden kann. Der mit dem Rollstuhl nur mögliche Positionswechsel in Form einer um 90 Grad gekippten Position ist wiederum nicht oder nur eingeschränkt mit den Erfordernissen schulischer Aktivitäten vereinbar, die eine sitzende Körperhaltung voraussetzen. Dass sich dies letztlich auch erheblich auf die Aufmerksamkeit der Klägerin im Unterricht auswirkt – so überzeugend die Beigeladene –, ist für den Senat schlüssig und nachvollziehbar. Der Therapiestuhl mit der individuell verstellbaren Rückenlehne ermöglicht hingegen eine den individuellen Erfordernissen entsprechende Einstellung der Rücklehne im Rahmen einer sitzenden Position. Durch einen solchen Positionswechsel im Sitzen bleiben Schreiben und Malen und andere schultypische Tätigkeiten am Tisch möglich. Ein "Mitkippen" des am Therapiestuhl vorhandenen Tisches kann durch entsprechende Einstellungen vermieden werden. Ein Unterfahren der Schultische ist möglich. Nicht nur schulische Aktivitäten – wie Malen und Schreiben – sind hierdurch besser möglich, sondern auch die Nahrungsaufnahme während der Schulzeit, die aufgrund der bei der Klägerin vorliegenden Dysphagie erschwert ist. Damit ist zur Überzeugung des Senats nur unter Nutzung des Therapiestuhls gewährleistet, dass die Klägerin am Unterrichtsgeschehen ausreichend teilnehmen kann. Die Versorgung mit dem Therapiestuhl für die Schule ist daher erforderlich und zweckmäßig.

Soweit die Beklagte einwendet, dass der Schulträger für eine ordnungsgemäße Ausstattung der Schule sorgen müsse, vermag dies keine abweichende Beurteilung zu begründen. Denn bei dem hier streitigen Hilfsmittel handelt es sich um eine individuelle Versorgung der Klägerin. Eine Vorhaltepflicht des Schulträgers für Therapiestühle kann allenfalls für genormte, für eine unbestimmte Mehrzahl von behinderten Kindern verwendbare Exemplare bestehen, nicht aber für individuell angepasste Therapiestühle, wie es hier der Fall ist (BSG, Urteil vom 03.11.2011 – B 3 KR 7/11 R – juris Rn. 25). Soweit die Beklagte meint, bei dem der Klägerin verordneten Therapiestuhl handele es sich nicht um ein angepasstes Hilfsmittel, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Der Kostenvoranschlag vom 08.08.2019 und die Rechnung vom 01.10.2021 weisen individuell auf die Klägerin zugeschnittene Positionen aus, so beispielsweise "Beckenpelotten", "Fußschalen inkl. Fußfixierung", "4-Punktgurt nach Maß", "Fixationsweste nach Maß", "Anfertigung der Fixationen nach Maß". Es handelt sich daher nicht um einen genormten Therapiestuhl, der beliebig einsetzbar wäre.

Auch ein höhenverstellbarer Tisch ist allein nicht geeignet, Abhilfe schaffen. Denn dieser vermag den individuellen Erfordernissen der Klägerin und dem notwendigen Positionswechsel nicht Rechnung zu tragen, so dass sich weitere Ausführungen zur von der Beklagten zitierten DIN 18040-1 erübrigen.

Soweit eine Mehrfachausstattung mit Hilfsmitteln nach § 6 Abs. 8 der Hilfsmittelrichtlinie (in der Fassung vom 21.12.2011/15.03.2012) nur dann verordnet werden kann, wenn dies aus medizinischen, hygienischen oder sicherheitstechnischen Gründen notwendig oder aufgrund der besonderen Beanspruchung durch die oder den Versicherten zweckmäßig und wirtschaftlich ist, liegen hier – wie ausgeführt – medizinische Gründe bei fehlender Eignung des in der Häuslichkeit vorhandenen Therapiestuhles zum täglichen Transport vor (vgl. BSG, Urteil vom 03.11.2011 – B 3 KR 8/11 R – juris Rn. 27).

Soweit die Klägerin aus dem erstinstanzlichem Urteil vollstreckt hat und die in diesem Rahmen aufgeführten Kosten für den Therapiestuhl von denjenigen im Kostenvoranschlag abweichen, ist dies im Hinblick darauf, dass nach wie vor über einen Sachleistungsanspruch zu entscheiden war, unschädlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 und 4 SGG. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, weil sie keine Anträge gestellt hat.

Gründe für die Zulassung der Berufung liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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