S 29 KR 1606/22 ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 29 KR 1606/22 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutz anzuwendenden kursorischen Prüfung bestehen erhebliche Zweifel dagegen, dass die konkrete Benennung der zu beschäftigenden Pflegekräfte oder die Vorlage von Arbeitsverträgen sowie von Qualifikationsnachweisen als Voraussetzung für die Bewilligung eines persönlichen Budgets verlangt werden kann.


I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller im Zeitraum vom 01.01.2023 bis zum 30.06.2023 ein persönliches Budget in Höhe von 17.045,86 € monatlich für Behandlungspflege zur Verfügung zu stellen.

II. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller dessen notwendige außergerichtliche Kosten des Verfahrens zu erstatten.


G r ü n d e :
I.

Gegenstand des Antragsverfahrens ist ein Anspruch auf 24-Stunden-Pflege zur Sicherstellung der Beatmung in Form eines persönlichen Budgets.

Der schwerst behinderte Antragsteller (Ast.) ist mit einer absaugpflichtigen Trachealkanüle versorgt, die ein endotracheales Absaugen erfordert. Die Ernährung erfolgt über eine PEG-Sonde. Die Sicherstellung der Beatmung setzt eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung voraus. Von der erforderlichen 24-stündigen Überwachung sollen nach Wunsch des Ast. 13 Stunden über ein persönliches Budget abgedeckt werden.

Mit E-Mail vom 19.04.2022 hat der Ast. über die Firma  A2. bei der Antragsgegnerin (Ag.) ein entsprechendes persönliches Budget erstmals beantragt.

Die Ag. lehnte den Antrag mit Bescheid vom 10.06.2022 mit der Begründung ab, dass nach Prüfung der eingereichten Unterlagen die eigene Versorgungssituation aufgrund nicht vorhandenen Personals nicht sicherzustellen bzw. aus Kostengründen nach § 12 SGB V nicht wirtschaftlich sei.

Dagegen legte der Ast. am 15.06.2022 Widerspruch ein.

Im Verlauf des Widerspruchsverfahrens legte der Ast. eine Kostenkalkulation der Firma  A2. vor, aus der sich der den Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildende Betrag von 17.145,86 € monatlich ergibt. Der Berechnung lag ein durchschnittlicher Arbeitnehmer-Bruttostundenlohn für eine Fachkraft in Höhe von 23,20 € zu Grunde.

Die Ag. hat den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 06.12.2022 als unbegründet zurückgewiesen. In den Gründen hat die Ag. ausgeführt, § 29 Abs. 4 Satz 2 Nrn. 2 und 3 SGB IX sähen vor, dass die als Voraussetzung für die Gewährung des persönlichen Budgets abzuschließende Zielvereinbarung mindestens Regelungen über die Erforderlichkeit eines Nachweises zur Deckung des festgestellten individuellen Bedarfs (Nr. 2) und über die Qualitätssicherung (Nr. 3) enthalten müsse. Deshalb sei der Abschluss einer Zielvereinbarung ausgeschlossen, solange die eingesetzten Pflegekräfte fehlten oder die Vorlage des Nachweises ihres Vorhandenseins bzw. ihrer Qualifikation verweigert werde.

Am 12.12.2022 hat der Ast. beim Sozialgericht München den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.

Der Ast. macht geltend, dass er seit dem 15.10.2022 über keine Pflegekräfte mehr verfüge und die ihn pflegende Ehefrau vor dem körperlichen Zusammenbruch stehe.
Das Ansinnen der Ag., er möge die Arbeitskräfte, die ihn versorgen sollten, und deren Qualifikation nachweisen, sei rechtswidrig. Zunächst hat der Ast. geltend gemacht, er könne mit diesen Arbeitskräften erst dann Verträge abschließen, wenn er eine Zusage über die ihm gewährten Mittel habe. Später hat er auch vorgebracht, dass bereits konkrete Personen zur Verfügung stünden, die jedoch einer Weitergabe ihrer Daten nicht zugestimmt hätten.


Die Ag. beruft sich darauf, dass der Ast. weder Arbeitsverträge noch die dazu entstehenden Lohnkosten nachgewiesen habe. Deshalb könne nach § 29 Abs. 4 Satz 2 Nrn. 2 und 3 SGB IX keine Zielvereinbarung abgeschlossen werden. Es sei nicht nachvollziehbar, dass Qualifikationsnachweise nicht vorgelegt würden, obwohl diese den Angaben des Ast. zufolge bereits vorlägen. In ähnlichen Fällen seien die notwendigen Unterlagen zumindest in teils geschwärzter Form bei der Ag. eingereicht worden. Es handle sich hierbei um eine übliche Verfahrensweise.

Außerdem bestreitet die Ag. die Eilbedürftigkeit, da sie den Ast. bzw. dessen Betreuerin mehrmals über zur Verfügung stehende Intensivpflegedienst informiert habe, von September bis Dezember 2022 über insgesamt sieben Intensivpflegedienste. Außerdem könnte der Ast. auch sofort in eine Wohngemeinschaft für außerklinische Intensivpflege (als Zwischenlösung) ziehen. Die Ag. wäre auch bereit, weitere Intensivpflegedienste bzw. Wohngemeinschaften zu benennen.

Der Ast. erwidert, sämtliche Intensivpflegedienste, die ihm von der Ag. benannt worden seien, hätten abgesagt oder seien gar nicht erreichbar gewesen. Die Unterbringung in einer Wohngemeinschaft für außerklinische Intensivpflege sei nicht zumutbar, weil der Ast. nur kroatisch spreche und sich nur über seine Ehefrau verständlich machen könne.

Der Ast. beantragt,
die Ag. im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Ast. Behandlungssicherungspflege gemäß § 37 Abs. 2 SGB V über 13 Stunden täglich in Form häuslicher Intensivpflege als persönliches Budget in Höhe von 17.045,86 € zu gewähren.

Die Ag. beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Behördenakte Bezug genommen.


II.

Das Sozialgericht München war zur Entscheidung in dem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes als das Gericht der Hauptsache sachlich und örtlich zuständig (§ 86b Sozialgerichtsgesetz - SGG - in Verbindung mit §§ 8 und 57 SGG).

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung war zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ist eine Regelungsanordnung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn dem Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1988 BVerfGE 79, 69/74; vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166/179 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236).

Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der Antragsteller sein Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Sätze 2 und 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer/ Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 86b Rdnr. 41). Glaubhaftmachung bedeutet überwiegende Wahrscheinlichkeit, d. h. dass mehr dafür als dagegen spricht (Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer/ Schmidt, a. a. O., Rdnr. 16b).

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers zu entscheiden (BVerfG vom 12.05.2005, a.a.O., und vom 22.11.2002, a.a.O.).

Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V in Verbindung mit § 19 SGB IX. Diese erscheint mit überwiegender Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V erhalten Versicherte in ihrem Haushalt bzw. ihrer Familie Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Dies ist bei den vom beantragten persönlichen Budget betroffenen Leistungen der ständigen Krankenbeobachtung zum Zwecke des sofortigen Eingreifens bei Problemen mit der Beatmung bzw. zum endotrachealen Absaugen der Fall. Gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 SGB IX werden auf Antrag der Leistungsberechtigten Leistungen zur Teilhabe durch die Leistungsform eines persönlichen Budgets ausgeführt. Dies erfolgt gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in der Regel als Geldleistung, bei laufenden Leistungen monatlich.

Die Ag. hat gegen die Bewilligung des persönlichen Budgets letztlich lediglich einwenden können, dass die Ast. die zu beschäftigenden Pflegekräfte nicht konkret benannt und Arbeitsverträge sowie Qualifikationsnachweise vorgelegt hat. Das Gericht hat nach kursorischer Prüfung und unter Berücksichtigung der ihm in der Kürze der Zeit zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten jedenfalls starke Zweifel, dass die Vorgehensweise der Ag. insoweit korrekt war, ohne die Frage abschließend klären zu können. Einleuchtend erscheint dem Gericht die Argumentation des Ast. jedenfalls insoweit, als von ihm nicht verlangt werden kann, für das Pflegepersonal Arbeitsverträge vorzulegen. Es erscheint schwer verständlich, wie vom Ast. der Abschluss von Arbeitsverträgen verlangt werden kann, bevor ihm überhaupt Mittel bezüglich des persönlichen Budgets bewilligt worden sind. Aus demselben Grund stellt sich auch das weitere Ansinnen, das Personal, dessen Anstellung beabsichtigt ist, und dessen Qualifikation nachzuweisen, als zumindest fragwürdig dar. In vielen Fällen wird sich die Anstellungsbereitschaft des Personals erst dann klären, wenn Rechtssicherheit über das zur Verfügung stehende persönliche Budget besteht. Auch aus der Vorschrift des § 29 Abs. 4 Satz 2 Nrn. 2 und 3 SGB IX, wonach die Zielvereinbarung mindestens Regelungen über die Erforderlichkeit eines Nachweises zur Deckung des festgestellten individuellen Bedarfs und die Qualitätssicherung zu enthalten hat, kann das Gericht eine Rechtfertigung für eine solche Vorgehensweise nicht zwingend entnehmen, da diese Vorschriften insoweit zu unbestimmt sind.
Auch ist es ja nicht so, dass die bei Bewilligung des persönlichen Budgets eingestellten Arbeitskräfte zwangsläufig vom Leistungsberechtigten für immer zu behalten wären, sondern eine Fluktuation wird hier häufig sein und nicht zur Änderung des persönlichen Budgets führen. Vielmehr ist es ja so, dass der Grundgedanke des persönlichen Budgets verlangt, den Versorgungsbedarf abstrakt festzustellen. Der Leistungsberechtigte ist dann frei, wie er das abstrakt festgestellte Budget konkret verwendet. Gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 SGB IX soll das persönliche Budget es dem Leistungsberechtigten ermöglichen, in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Wie das BSG entschieden hat, entspricht dieser "Entkoppelung" die Zuweisung eines pauschalen monatlichen Betrags, der keinen Bezug zu konkreten einzelnen Leistungen aufweist und der fehlenden Bindung an das System vereinbarungsgebundener Leistungsanbieter Rechnung trägt (BSG, Urteil vom 28.01.2021 Az. B 8 SO 9/19 R Rdnr. 30). Das BSG betont (a.a.O.), von der Kostenerstattung unterscheide sich das persönliche Budget dadurch, dass keine konkret beschafften Leistungen nachgewiesen werden müssten, sondern es im Zeitpunkt vor der Beschaffung zu berechnen und zu bewilligen sei. Mit diesen Ausführungen des BSG ist es schwer zu vereinbaren, vom Ast. vor Bewilligung der Leistungen zu verlangen, die konkret zu beschäftigenden Personen und deren Qualifizierungen nachzuweisen.

Was die Höhe der zu bewilligenden Leistung betrifft, so ergibt sich diese aus der im Widerspruchsverfahren von der Firma  A2. vorgelegten Berechnung, gegen welche die Ag. keine Einwände formuliert hat. Auch seitens des Gerichts sind bei kursorischer Betrachtung keine Einwände erkennbar, abgesehen von der Frage einer Aufrechenbarkeit der Budgetassistenz, die im Rahmen der Gesamtkosten jedoch von untergeordneter Bedeutung ist. Insbesondere erscheint die Anzahl der Assistenzstunden pro Woche mit 91 korrekt angesetzt, bei 13 Stunden täglich. Die Höhe des angesetzten Arbeitnehmer-Bruttostundenlohns für eine Pflegefachkraft in Höhe von 23,20 € erscheint nicht übertrieben.

Bezüglich der Leistungsdauer hat das Gericht in Anwendung des ihm gemäß § 938 Abs. 1 ZPO zukommenden freien Ermessens eine Beschränkung auf sechs Monate für angemessen erachtet.


III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
 

 

Rechtskraft
Aus
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