L 8 R 2651/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 22 R 1690/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 R 2651/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 29.08.2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.

Die 1964 geborene Klägerin ist gelernte Friseurin und war zuletzt bis November 2018 als Montagearbeiterin versicherungspflichtig beschäftigt. Seitdem ist sie arbeitslos bzw. arbeitsunfähig krank. Bei ihr ist ein GdB von 30 seit 28.01.2015 festgestellt.

Im September 2017 absolvierte die Klägerin eine stationäre orthopädische Rehabilitation in K1, bei der im Entlassbericht ein vollschichtiges Leistungsvermögen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mit diversen qualitativen Einschränkungen bescheinigt wurde. Die Entlassung erfolgte arbeitsunfähig aufgrund der im Vordergrund stehenden psychischen Beschwerden.

Vom 28.05.2020 bis 09.07.2020 absolvierte die Klägerin eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der Klinik H1 mit den Diagnosen rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome; Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst), Probleme beim Einkaufen und Verlassen des Hauses; vorwiegend Zwangshandlungen (Zwangsrituale), übertriebene Ordnung zum Abwenden von einer fantasierten Gefahr; chronische Schmerzstörung mit somatischen psychischen Faktoren und rezidivierenden Schmerzen im Rücken; Gonarthrose rechts>links, rechts Dauerschmerzen, TEP geplant; Obstruktives Schlaf-Apnoe-Syndrom (cPAP nicht toleriert), Diabetes Mellitus Typ Ilb, Bluthochdruck, allergisches Asthma bronchiale, anamnestisch Bandscheibenschaden der HWS und LWS L5/S1, Hypakusis bds. Im Entlassbericht vom 17.07.2020 wurde bei erfolgreicher Psychotherapie und orthopädischer Behandlung sowie Gewichtsreduktion und regelmäßiger psychiatrischer Behandlung innerhalb von 6 Monaten ein vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts mit diversen qualitativen Einschränkungen bescheinigt, wobei die Entlassung arbeitsunfähig erfolgte.

Am 31.07.2020 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Zur Begründung gab sie an, ihr falle alles schwer, sie könne sich zu nichts mehr aufraffen, nicht mehr alleine einkaufen gehen oder Auto fahren. Sie habe ständig Ängste, Panik, Schmerzen im Körper, Suizidgedanken, müsse ständig weinen, leide an Gonarthrose, wobei an beiden Knien eine Operation geplant sei, Belastungsinkontinenz und Schwindel.

Mit Bescheid vom 05.08.2020 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab. Die Klägerin könne mit den im Entlassbericht der Klink H1 genannten Diagnosen noch mindestens 6 Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein.

Im darauffolgenden Widerspruchsverfahren ließ die Beklagte die Klägerin von B1, am 03.11.2020 begutachten. In ihrem Gutachten vom 03.11.2020 diagnostizierte B1 rezidivierende depressive Episoden, gegenwärtig anhaltende mittelgradig bis schwere depressive Episode; chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie Schlaf-Apnoe-Syndrom. Aus nervenärztlicher Sicht seien der Klägerin leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ohne Nachtschichten, ohne häufig wechselnde Arbeitsschichten, in wechselnder Körperhaltung, ohne Tätigkeiten auf Leitern oder Gerüsten, ohne Tätigkeiten, die mit einer das normale Maß übersteigenden geistigen Beanspruchung oder Verantwortung einhergehen, 6 Stunden und mehr arbeitstäglich zuzumuten. Dringend anzuraten sei eine Optimierung der Therapie durch eine teilstationäre oder sogar stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung mit Optimierung der psychopharmakologischen Behandlungsstrategie. Es sei davon auszugehen, dass unter einer leitliniengerechten Behandlung mit einer Besserung im Verlauf der nächsten 6 Monate gerechnet werden könne.

Mit Bescheid vom 16.11.2020 bewilligte die Beklagte eine stationäre Anschlussrehabilitation in der B2-Klinik Ü1, die die Klägerin ohne Angabe von Gründen nicht antrat, woraufhin die Kostenzusage mit Bescheid vom 18.02.2021 aufgehoben wurde. In einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 22.02.2021 schloss sich L1 der Einschätzung von B1 bezüglich des Leistungsvermögens der Klägerin an.

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.04.2021 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Klägerin seien eine körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeit ohne Nachtschichten, ohne häufig wechselnde Arbeitsschichten, ohne Zeitdruck und ohne Akkord, ohne erhöhte Anforderungen an die grobe Kraft der Arme, ohne Überkopfarbeiten, ohne Heben und ohne Tragen sowie ohne Bewegen schwerer Lasten, ohne Oberkörpervorneige, ohne Rotationsbelastung der Wirbelsäule, ohne häufiges Treppensteigen, ohne Tätigkeiten auf Leitern oder Gerüsten, ohne Arbeiten in der Hocke oder im Knien, ohne Umgang mit reizenden Gasen und Dämpfen oder Stäuben, ohne außergewöhnlich hohe Anforderungen an das Gehör, ohne Tätigkeiten die mit einer das normale Maß übersteigenden geistigen Beanspruchung oder Verantwortung einhergingen 6 Stunden und mehr täglich zumutbar.

Am 27.04.2021 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben und ausgeführt, die sozialmedizinische Beurteilung sei angesichts des Schweregrades ihrer psychischen Erkrankung nicht nachvollziehbar. Eine Besserung sei seit der stationären Rehabilitationsmaßnahme in H1 trotz durchgeführter Behandlung nicht eingetreten.

Das SG hat zunächst Auskünfte der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen eingeholt.

Der B3 hat am 15.09.2021 angegeben, dass die Klägerin wegen Schwindel, Tinnitus und Schlafapnoesyndrom in Behandlung sei. Leichte Tätigkeiten könne sie ohne Einschränkungen verrichten.

Die H2 hat zunächst Angst und Depressive Störung gemischt sowie Dysthymie diagnostiziert. Sie gab in ihrer Auskunft vom 16.09.2021 an, der Klägerin sei es nach dem Suizid ihres Mannes im November 2020 (23.11.2020) zunehmend schlechter gegangen, so dass am 19.04.2021 die Diagnose schwere Depression dazu gekommen sei. Die Leistungsfähigkeit habe zuletzt unter 3 Stunden gelegen. Die Einschränkung bestünde jedoch nur vorübergehend, es sei davon auszugehen, dass in ein bis zwei Jahren wieder eine Besserung eintreten werde.

Der G1 hat am 27.09.2021 mitgeteilt, dass der Klägerin mit diversen qualitativen Einschränkungen leichte körperliche Tätigkeiten 6 Stunden täglich möglich seien.

G2 hat am 10.10.2021 angegeben, die Klägerin seit 23.10.2019 in 3 bis 4-wöchentlichen Abständen zu behandeln. Die chronifizierte psychische Problematik habe sich seit dem Tod ihres Mannes im Herbst 2020 deutlich verschlimmert. Zahlreiche Maßnahmen hätten keine Besserung erbracht, weshalb die Prognose eher ungünstig sei. Die Klägerin scheine nach psychotherapeutischer Einschätzung nicht in der Lage, wieder dauerhaft eine berufliche Tätigkeit aufzunehmen.

Das SG hat sodann ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von O1 mit Untersuchung der Klägerin am 21.02.2022 eingeholt. Diese hatte die Klägerin bereits am 27.01.2021 im Rahmen eines Schwerbehindertenverfahrens begutachtet. In ihrem am 28.06.2022 erstatteten Gutachten hat die Sachverständige O1 eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren diagnostiziert. Zuletzt habe eine Anpassungsreaktion auf den Tod des Ehemannes bestanden im Sinne einer Double Depression. Trotz geklagter Verschlechterung sei keine Intensivierung der Behandlungsmaßnahmen eingeleitet worden bezüglich der antidepressiven Medikation. Die Klägerin werde nach Stufe 2 des WHO-Stufenschemas mit den Schmerzmitteln Ibuprofen, Tilidin und Duloxetin behandelt. Ein multimodales Schmerztherapieprogramm werde nicht durchgeführt ebenso wie eine ambulante Schmerztherapie, weshalb es Behandlungsreserven gäbe. Es bestünden Diskrepanzen zwischen Beschwerdeschilderung tatsächlicher körperlicher und psychischer Beeinträchtigung und der Untersuchungssituation. Es gebe auch Diskrepanzen zwischen geschilderten Funktionsbeeinträchtigungen und zu eruierenden Aktivitäten des alltäglichen Lebens. Die Klägerin könne ihren Tagesablauf strukturieren und verfüge über soziale und Alltagskompetenzen. Die emotionale Belastbarkeit sei eingeschränkt. Die Gutachterin hat die Klägerin in der Lage gesehen, leichte körperliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes 6 Stunden und länger mit diversen qualitativen Einschränkungen auszuführen. Es sei durch den Suizid des Ehemannes im November 2020 zu einer Verschlechterung der Befundlage gekommen, die sich mittlerweile gebessert habe. Das von H2 angegebene schwer depressive Bild nach Trauerreaktion zeige sich bei der jetzigen Begutachtung nicht mehr.

Nach Anhörung der Beteiligten zur beabsichtigten Verfahrensweise hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 29.08.2022 abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Leistungseinschätzung der Sachverständigen O1 sei nachvollziehbar. Die Klägerin habe sich bei der Begutachtung wach und orientiert mit ungestörter Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit und ungestörter Auffassungsgabe gezeigt. Die Mnestik sei regelrecht gewesen, formalen oder inhaltlichen Denkstörungen hätten sich nicht gezeigt. In Antrieb und Motorik habe sich ein etwas gebundenes Bild dargestellt. Das Sprechen sei ungestört gewesen. Affektiv habe eine unterschwellig gereizte Klägerin mit einer Neigung zum Lamentieren imponiert. Es hätten sich dysthymneurasthene Züge gezeigt. Die Klägerin sei etwas „verhangen“ gewesen. Zu konstatieren sei eine eher reduzierte Krankheitseinsicht und Therapiemotivation. Es habe sich ein ambivalentes Verdeutlichungsverhalten und ein Versorgungswunsch gefunden. Die Untersuchung habe keine hirnorganischen Einschränkungen oder krankheitswertige kognitive Defizite gezeigt. Die orientierende neurologische Untersuchung habe einen Normalbefund ergeben. Es hätten sich Diskrepanzen zwischen Beschwerdeschilderung und tatsächlicher körperlicher und psychischer Beeinträchtigung in der Untersuchungssituation sowie zwischen den feststellbaren Funktionsbeeinträchtigungen zu geschilderten Aktivitäten des alltäglichen Lebens gezeigt. Es bestehe die Möglichkeit, Therapiemaßnahmen und Eigenaktivitäten zur Beschwerdelinderung zu erweitern. Auf orthopädischem Fachgebiet ergäben sich aus den vorliegenden Angaben und Befunden nur qualitative Einschränkungen. Ebenso ergäben sich aus den zuletzt vorgelegten internistischen und orthopädischen ärztlichen Unterlagen keine quantitativen Leistungseinschränkungen.

Die Klägerin hat gegen den ihrem Bevollmächtigten am 29.08.2022 zugestellten Gerichtsbescheid am 08.09.2022 Berufung beim Landessozialgericht Stuttgart (LSG) eingelegt. Zur Begründung hat sie geltend gemacht, dass bei ihr eine Polyneuropathie vorläge. Die dadurch bedingte Einschränkung der Leistungsfähigkeit sei nicht hinreichend abgeklärt, weshalb eine neurologische Begutachtung erforderlich sei. Zudem sei bei der Klägerin ein klarzelliges Nierenzellkarzinom rechts diagnostiziert und am 04.08.2022 operativ behandelt worden. Darüber hinaus leide sie an Diabetes mellitus Typ II, der bereits zu einer diabetischen Nephropathie, einer Steatosis hepatis Grad III und einer Polyneuropathie geführt habe. Dazu legte die Klägerin einen Entlassbrief der urologischen Klinik des Klinikums S1 vom 22.09.2022 über einen stationären Aufenthalt vom 03.08. bis 12.08.2022 vor.


Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgericht Stuttgart vom 29.08.2022 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 05.08.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.04.2021 zu verurteilen, an die Klägerin eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu bezahlen.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend und hat auf eine sozialmedizinische Stellungnahme von N1 vom 16.10.2022 verwiesen. Zudem hat die Beklagte eine Rentenauskunft vom 16.02.2023 vorgelegt, aus der sich ergibt, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen letztmalig bei einem Leistungsfall am 31.08.2022 erfüllt sind.

Das Verfahren ist mit den Beteiligten am 15.02.2023 nichtöffentlich erörtert worden.

Der Bevollmächtigte der Klägerin hat das Gutachten der Sachverständigen O1 vom 22.04.2021 mit Untersuchung am 27.01.2021 vorgelegt, welches vom Sozialgericht Stuttgart im Rahmen des Verfahrens S 7 SB 6425/18 über die Höhe des GdB der Klägerin eingeholt worden war. Darin hat die Gutachterin Zeichen einer peripheren Polyneuropathie und Wurzelreizzeichen beim L5 beschrieben, die bisher nicht zu einer Beeinträchtigung des Gangbildes geführt hätten. Dadurch sei die Balancierfähigkeit beeinträchtigt und Zwangshaltungen auszunehmen. Im psychischen Befund habe sich eine ungestörte Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit ohne formale oder inhaltliche Denkstörungen gezeigt. Die Klägerin habe sich freundlich und zugewandt mit erhaltener Schwingungsfähigkeit gezeigt. Die Gutachterin hat ein Verdeutlichungsverhalten sowie Versorgungswunsch festgestellt. Auf psychischem Fachgebiet hat die Gutachterin eine Double Depression, aktuell überlagert von einer Anpassungsreaktion diagnostiziert.

Der Bevollmächtigte hat ferner einen Bericht über eine Untersuchung im Schlaflabor vom 19.03.2023 bis 21.03.2023 vorgelegt.

Mit Schriftsatz vom 18.04.2023 bzw. 20.04.2023 haben die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat gemäß § 124 Abs. 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, aber unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 05.08.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung. Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG ist nicht zu beanstanden.

Gemäß § 43 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zur Vollendung der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind (Satz 1 Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Satz 1 Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Satz 1 Nr. 3). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (Satz 2). Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben - bei im Übrigen identischen Tatbestandsvoraussetzungen - Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich – bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche - ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Nach diesen Maßstäben hat die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung. Der Senat ist davon überzeugt, dass die Klägerin trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen in der Lage ist, körperlich leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter den in den Sachverständigengutachten genannten qualitativen Einschränkungen mindestens 6 Stunden täglich zu verrichten.

Die Klägerin leidet hauptsächlich an Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Gebiet. Dies entnimmt der Senat den Angaben der behandelnden Ärzte, dem Bericht über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 28.05.2020 bis 09.07.2020 in der Klinik H1, dem Verwaltungsgutachten von B1 vom 03.11.2020 und dem Gutachten der Sachverständigen O1 vom 22.04.2021 im Schwerbehindertenverfahren, welche der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet, sowie dem Gerichtsgutachten der Sachverständigen O1 vom 28.06.2022. In sämtlichen Berichten und Gutachten sind übereinstimmend die psychiatrischen Erkrankungen der Klägerin als führend angesehen worden. Danach liegen bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung sowie eine somatoforme Schmerzstörung vor.

Der Senat geht in Übereinstimmung mit der Einschätzung von B1 und der Sachverständigen O1 aufgrund dieser Gesundheitsstörungen von einem Leistungsvermögen der Klägerin für körperlich leichte Tätigkeiten von wenigstens 6 Stunden täglich aus. Bei den Begutachtungen haben sich keine kognitiven Defizite der Klägerin gezeigt. Das Denken ist jeweils geordnet, die Konzentrationsfähigkeit ungestört gewesen. Bei der Begutachtung durch B1 am 03.11.2020 war eine deutliche depressive Affektivität mit mäßiger Beeinträchtigung der Vitalgefühle sowie eine leichtere bis mäßige Einengung der emotionalen Schwingungsfähigkeit vorhanden. Bei der ersten Begutachtung durch die Sachverständige O1 im Januar 2021 haben ebenfalls keine Denkstörungen oder Störung der Konzentration bestanden. In Antrieb und Motorik hat sich ein etwas gebundenes Bild gezeigt mit erhaltener Schwingungsfähigkeit. Akut ist die Klägerin bei dieser Untersuchung belastet gewesen durch den kurz vorher erfolgten Suizid ihres Mannes. Bei der zweiten Begutachtung durch die Sachverständige O1 haben sich bei etwas gebundenem Antrieb und Motorik bei sonst ungestörtem Denken und ungestörter Konzentrationsfähigkeit dysthym-neurastische Züge gezeigt mit reduzierter Krankheitseinsicht und ambivalenter Therapiemotivation bei bestehendem Versorgungswunsch. Die Klägerin ist in der Lage, ihren Tagesablauf zu strukturieren und hat noch soziale und Alltagskompetenzen. Soweit die behandelnde  H2 in ihrer Auskunft von einer Leistungsfähigkeit von unter 3 Stunden ausgegangen ist, hat sie dies mit einer nach dem Suizid des Ehemannes vorliegenden schweren Depression begründet. Sie ist jedoch davon ausgegangen, dass diese Einschränkung nur vorübergehend sei. Damit übereinstimmend hat die Sachverständige O1 bei ihrer Begutachtung am 21.02.2022 eine Besserung der Befunde festgestellt. Für den Senat steht damit fest, dass die Klägerin durch den Tod ihres Mannes nur eine vorübergehende Verschlechterung ihrer Depression erlitten hat, die keine länger andauernde Einschränkung der Erwerbsfähigkeit begründet.

Zudem hat Klägerin ihr Klagebegehren im Berufungsverfahren nicht mehr auf ihre psychiatrischen Erkrankungen, sondern auf die beginnende Polyneuropathie, das Nierenzellkarzinom und den Diabetes mellitus Typ II mit Folgeerkrankungen gestützt, weshalb der Senat davon ausgeht, dass auch für die Klägerin die psychischen Beeinträchtigungen bezüglich einer Verminderung des Leistungsvermögens nicht mehr im Vordergrund stehen.

Das bei der Klägerin im August 2022 operierte Nierenzellkarzinom führt ebenfalls nicht zu einer Einschränkung des quantitativen Leistungsvermögens. Ausweislich des Entlassberichts des Klinikums S1 vom 22.09.2022 handelt es sich um einen lokal begrenzten Tumor ohne Befall der Lymphknoten und ohne Metastasen, der erfolgreich im Gesunden entfernt worden ist, wobei eine körperliche Schonung der Klägerin für 4 bis 6 Wochen empfohlen wurde. Eine länger als 6 Monate dauernde Einschränkung der Leistungsfähigkeit ergibt sich daraus nicht, sondern nur eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit.

Aus der geltend gemachten Polyneuropathie ergibt sich ebenfalls keine relevante Einschränkung. Bei der Untersuchung 27.01.2021 hat die Sachverständige O1 zwar Zeichen einer peripheren Polyneuropathie gesehen, die jedoch nicht zu einer Beeinträchtigung des Gangbildes führten. Bei der Untersuchung am 29.04.2022 durch Dres. B4, S2, R1 in B5 wurden im Rahmen der dort durchgeführten elektrophysiologischen Untersuchung normale Werte festgestellt (Bl. 160 SG-Akte). Die Sachverständige O1 hatte zuvor bei ihrer Untersuchung am 21.02.2022 ebenfalls einen unauffälligen neurologischen Befund erhoben. Soweit die Klägerin im Berufungsverfahren weitere Befundberichte vorgelegt hat ergibt sich daraus keine andere Einschätzung. Sämtliche Befundberichte beziehen sich auf Untersuchungen und Feststellungen ab Ende 2022. Zu diesem Zeitpunkt sind jedoch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die ausweislich der von der Beklagten vorgelegten Rentenauskunft letztmalig bei einem Leistungsfall am 31.08.2022 vorliegen, nicht mehr erfüllt, so dass eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes nach diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr spielt.

Der Senat ist davon überzeugt, dass die bei der Klägerin vorliegenden Beeinträchtigungen nicht zu einer Absenkung des Leistungsvermögens selbst für leichte körperliche Tätigkeiten im maßgeblichen Zeitraum bis 31.08.2022 auf unter 6 Stunden täglich führen. Die Einschränkungen bedingen für leichte körperliche Tätigkeiten lediglich die von der Sachverständigen O1 benannten qualitativen Einschränkungen, namentlich Tätigkeiten ohne langes Stehen, ständig gebeugter Haltung, langes Laufen und Tragen von schweren Lasten von mehr al 5 kg, ohne langes Sitzen und Zwangshaltungen in Wechselhaltung ohne Akkord- und Fließbandarbeiten, ohne Arbeiten an gefährdenden Maschinen und ohne Nachtschichttätigkeit.

Bei den beschriebenen Leistungseinschränkungen handelt es sich auch weder um eine Summierung mehrerer ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen, noch liegt eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor, welche ausnahmsweise – trotz vollschichtigen Leistungsvermögens – die Pflicht zur Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit und – falls dies nicht möglich ist – einen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung nach sich ziehen kann (vgl. BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R -, juris m.w.Nw.). Nach Überzeugung des Senats sind die bei der Klägerin vorliegenden Leistungseinschränkungen weder als ungewöhnlich noch als schwer zu bezeichnen.

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen und insbesondere die Gutachten von B1 und der Sachverständigen O1 haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO).

Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit steht der 1964 geborenen Klägerin bereits aufgrund ihres Alters nicht zu (§ 240 Abs. 1 SGB VI).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.    


 

Rechtskraft
Aus
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