L 7 AS 425/23 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
69
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 35 AS 369/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 425/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 10.03.2022 geändert. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

           

Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

 

Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren gemäß §§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG, 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO ohne Prüfung der Erfolgsaussichten Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt V., A., beigeordnet.

 

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet.

Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antragsgegner verpflichtet, den Antragstellern vorläufig für März und April 2023 monatlich Bedarfe für Unterkunft und Heizung i.H.v. 1249,20 € (681 € Kaltmiete zuzüglich 248,20 € Betriebskostenvorauszahlungen zuzüglich 320 € Heizkostenvorauszahlungen) zu zahlen.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung zu ermitteln (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 20.02.2019 – L 7 AS 1916/18 B ER – und vom 30.08.2018 –L 7 AS 1268/18 B ER –). Können ohne Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 –1 BvR 569/05 –). Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend zu berücksichtigen hat (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 –; ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 30.08.2018 – L 7 AS 1268/18 B ER –, vom 05.09.2017 – L 7 AS 1419/17 B ER – und vom 21.07.2016 – L 7 AS 1045/16 B ER –).

Der auf eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung von Bedarfen für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II gerichtete Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nicht begründet.

Der Senat hat bereits erhebliche Zweifel am Vorliegen eines Anordnungsanspruchs. Nach § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Davon erfasst sind sämtliche Zahlungsverpflichtungen, die sich aus dem Mietvertrag bzw. einer mit dem Vermieter getroffenen Vereinbarung für die Unterkunft ergeben und tatsächlich gezahlt werden. Für die Annahme einer rechtlichen und tatsächlichen Verpflichtung zur Mietzinszahlung ist es ausreichend, dass der erwerbsfähige Hilfebedürftige einer ernsthaften Mietzinsforderung ausgesetzt ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23.05.2013 – B 4 AS 67/12 R –, Rn 17 – juris; Urteil des Senats vom 19.08.2021 – L 7 AS 1756/20).

Zwar besteht zwischen den Antragstellern und der Mutter des Antragstellers zu 2) ein Mietvertrag. Dass eine ernsthafte Mietzinsverpflichtung der Antragsteller gegenüber der Vermieterin besteht, ist jedoch zweifelhaft. Alleine der Umstand, dass Mietschulden in Höhe von bereits jetzt 8.750 € bestehen und die Vermieterin daraus keinerlei ernstzunehmende Konsequenzen – wie z.B. eine Kündigung oder die Beantragung eines Mahnbescheides – gezogen hat, widerspricht dem grundlegenden zivilrechtlich-wirtschaftlichem Charakter eines Mietvertrages. Zwar hat die Vermieterin während des anhängigen Eilverfahrens mit Schreiben vom 12.04.2023 angekündigt, „weitere Schritte wie eine fristlose Kündigung“ einzuleiten, wenn die Rückstände nicht bis zum 30.04.2023 beglichen würden. Bis zum 31.05.2023 haben die Antragsteller jedoch nicht vorgetragen, dass die Vermieterin diese weiteren Schritte tatsächlich ergriffen hat. Dass eine finanzielle Belastung der Antragsteller gewollt war, ist auch deshalb zweifelhaft, weil die Mutter des Antragstellers zu 2) Nebenkostenabrechnungen für die Jahre von 2018 bis 2021 erst erstellt hat, nachdem der Antragsgegner diese mehrfach von den Antragstellern ab Juli 2022 angefordert und deren laufende Leistungen reduziert hatte. Die von der Mutter des Antragstellers zu 2) nunmehr erstellten Nebenkostenabrechnungen vom 11.12.2022 weisen Nachzahlungen aus, wie z.B. für 2021 i.H.v. 1.146,53 €. Dass die Vermieterin für diese doch erheblichen Kosten offensichtlich nicht nur in Vorleistung getreten ist, sondern auch kein Interesse daran hatte, die Kosten nachträglich abzurechnen, ist ein weiterer Anhaltspunkt dafür, dass eine ernsthafte finanzielle Belastung der Antragsteller nicht gewollt war.

Auch die Antragsteller sind offensichtlich nie davon ausgegangen, einer ernsthaften Mietzinsverpflichtung ausgesetzt zu sein. So hatten diese ausweislich der von ihnen übersandten Kontoauszüge ursprünglich einen Dauerauftrag für die Überweisung von 1.250 € an die Mutter des Antragstellers zu 2) eingerichtet. Nachdem die Antragsteller entsprechende Zahlungen im Januar und Februar 2022 vorgenommen haben, haben sie den Dauerauftrag nach Aktenlage im März 2022 storniert. Zwischen April und Oktober 2022 haben die Antragsteller keine Unterkunftskosten an die Mutter des Antragstellers zu 2) überwiesen, obwohl ihnen dies finanziell ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Bis Juni 2022 hat der Antragsgegner die vollen Unterkunftskosten nämlich bei seiner Leistungsbewilligung berücksichtigt. Der Kontostand der Antragsteller belief sich noch im Oktober 2022 auf 3.511,57 €. Auch ohne die fortlaufende Zahlung der Unterkunftskosten seitens des Antragsgegners wären die Antragsteller mithin finanziell in der Lage gewesen, ihrer Mietzinsverpflichtung nachzukommen. Zwar haben die Antragsteller die Zahlung der laufenden Unterkunftskosten ab November 2022 wieder aufgenommen. Ihr Kontostand am 30.03.2023 belief sich dennoch weiterhin auf 3.244,03 €, ohne dass die Antragsteller diesen finanziellen Überschuss genutzt hätten, um die bestehenden Mietschulden auch nur teilweise zu tilgen. Bei Leistungsberechtigten, die einer ernsthaften Mietzinsforderung mit der Gefahr des Verlustes der Wohnung tatsächlich ausgesetzt sind, wäre aber zu erwarten, dass sie Geldmittel vorrangig für den Erhalt der Wohnung einsetzen. Dies gilt umso mehr, als die Antragsteller vortragen, dass zwischen ihnen und der Vermieterin Streit bestehe, der sich unter anderem an den fehlenden Mietzahlungen entzündet habe und sie befürchten müssten, dass die Mutter des Antragstellers zu 2) ihnen alsbald kündige.

Jedenfalls haben die Antragsteller keinen Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) glaubhaft gemacht.

Zwar ist nach ständiger und in Übereinstimmung mit dem BVerfG stehender Rechtsprechung des Senats die Erhebung einer Räumungsklage durch den Vermieter keine Voraussetzung für die Annahme eines Anordnungsgrundes (vgl. hierzu Beschlüsse des Senats vom 18.06.2018 – L 7 AS 563/18 B ER – und vom 06.12.2017 – L 7 AS 2132/17 B ER –). Eilbedürftigkeit liegt indes nicht vor, wenn zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keine Anhaltspunkte für einen Verlust der Wohnung vorliegen. Dies ist insbesondere – aber nicht abschließend – dann der Fall, wenn nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen Prüfungsdichte belastbare Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die vertraglichen Pflichten des Antragstellers jedenfalls während der Nichtzahlung von Leistungen zur Deckung des Unterkunftsbedarfs gestundet sind, etwa weil es sich um ein Mietverhältnis unter Verwandten handelt oder eine sonstige Nähebeziehung zwischen dem Vermieter und dem Anspruchsteller besteht (vgl. hierzu und zu weiteren eine Eilbedürftigkeit ausschließenden Fallkonstellationen Beschlüsse des Senats vom 12.07.2022 – L 7 AS 351/22 B ER –, vom 19.07.2021 – L 7 AS 950/21 B ER – und vom 06.12.2017 – L 7 AS 2132/17 B ER –).

Nach diesen Maßgaben ist im vorliegenden Fall eine Eilbedürftigkeit zu verneinen. Das ergibt sich unabhängig von dem Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Antragstellern und der Vermieterin daraus, dass die Nichtzahlung der Miete nicht zu negativen Konsequenzen für die Antragsteller geführt hat. Außer der Androhung einer Kündigung, die gegebenenfalls auch nur unter dem Eindruck des Aussetzungsbeschluss des Senats vom 06.04.2023 erfolgte, hat die Vermieterin nach Aktenlage bis zum Tag der Beschlussfassung keine weiteren Schritte eingeleitet, obwohl erhebliche Mietschulden bestehen. Bisher fehlen weiterhin jegliche objektivierbaren Anhaltspunkte für die von den Antragstellern geäußerte Befürchtung, die Vermieterin werde den Mietvertrag für das Haus tatsächlich fristlos oder ordentlich kündigen. Eine den Anforderungen von § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m.§ 920 Abs. 2 ZPO genügende, den Antragsgegnern obliegende Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes ist damit nicht erfolgt.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von§ 193 Abs. 1 SGG.

Den Antragstellern war wegen der Beschwerde des Antragsgegners ohne eine Überprüfung der Erfolgsaussichten gemäß § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 ZPO liegen im Übrigen vor.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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