L 6 AS 1299/22

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 35 AS 377/21
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 AS 1299/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

 

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 10.08.2022 geändert. Der Überprüfungsbescheid vom 09.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2020 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, den Bescheid vom 30.03.2020 zurückzunehmen.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtzügen.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Aufforderung des Beklagten an die Klägerin, die Inanspruchnahme einer Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit zu beantragen.

 

Die 0000 geborene Klägerin lebte mit ihren in den Jahren 0000 und 0000 geborenen Töchtern in einem Haushalt und stand im laufenden Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) bei dem Beklagten.

 

Mit Schreiben vom 30.03.2020 forderte der Beklagte die Klägerin auf, eine Rente wegen Erwerbsminderung bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zu beantragen und dies bis zum 16.04.2020 nachzuweisen. Wörtlich heißt es dort: „Nach den mir vorliegenden Unterlagen können Sie einen Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit haben. Bitte beantragen Sie daher nach Zugang dieses Schreibens eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bei der Deutschen Rentenversicherung B..“ Unter der Überschrift „Begründung“ führte er aus, dass die Klägerin gemäß § 12a SGB II verpflichtet sei, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich sei. Ferner wies der Beklagte auf die Regelung in § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II hin, wonach eine Verletzung der Mitwirkungspflichten und eine daraufhin erfolgende bestandskräftige Leistungsversagung des vorrangigen Trägers dazu führe, dass auch der Beklagte die Leistungen nach dem SGB II so lange versagen oder entziehen könne, bis die Klägerin ihrer Verpflichtung gegenüber der DRV B. nachgekommen sei. Wörtlich heißt es sodann weiter: „Unter Abwägung aller Gesichtspunkte, bin ich zu der Entscheidung gekommen, Sie zur Beantragung vorrangiger Leistungen aufzufordern. Das Jobcenter ist gehalten, wirtschaftlich und sparsam zu handeln. Sie sind verpflichtet, die Hilfebedürftigkeit zu beseitigen oder zu verringern. Es sind keine maßgeblichen Gründe ersichtlich, welche gegen die Beantragung der genannten vorrangigen Leistungen sprechen. In Abwägung Ihrer Interessen mit dem Interesse an wirtschaftlicher und sparsamer Verwendung von Leistungen nach dem SGB II ist Ihnen die Beantragung der genannten vorrangigen Leistung zumutbar, da Hilfebedürftigkeit in Ihrem Fall beseitigt beziehungsweise verringert wird.

 

Nachdem die DRV dem Beklagten mit Schreiben vom 29.04.2020 mitgeteilt hatte, dass für die Klägerin bisher kein Rentenantrag vorliege, stellte dieser mit Schreiben vom 05.05.2020 den Antrag gemäß § 5 Abs. 3 SGB II selbst. Die DRV leitete daraufhin am 29.05.2020 ein formelles Rentenverfahren ein und bat den Beklagten um Einreichung der vorliegenden medizinischen Unterlagen. Ausweislich einer an den Beklagten adressierten schriftlichen Meldung zum Rentenverfahren vom 29.07.2020 lehnte die DRV den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom gleichen Tage nach § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) ab, da die Mitwirkungspflichten nicht erfüllt seien.

 

Daraufhin versagte der Beklagte mit Bescheid vom 11.09.2020 die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem 01.10.2020, da die Klägerin ihren Mitwirkungspflichten bei der Rentenantragstellung nicht nachgekommen sei. 

 

Die Klägerin erhob am 17.09.2020 Widerspruch und führte zur Begründung u. a. aus, dass sie Mitwirkungspflichten gegenüber der DRV nicht verletzt habe. Es habe keinerlei Aufforderungen der DRV zur Mitwirkung gegeben. Im Übrigen habe sie aufgrund der Aufforderung des Beklagten vom 30.03.2020 beim Rentenversicherungsträger ein Antragsformular angefordert, einen Termin zum Ausfüllen pandemiebedingt aber noch nicht erhalten.

 

Daraufhin teilte der Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 24.09.2020 mit, dass nicht bekannt gewesen sei, dass sie die Schreiben der DRV nicht erhalten habe, und bat um unverzüglichen Nachweis, dass sie sich dort um einen Termin bemüht oder einen formlosen Rentenantrag gestellt habe. Die Klägerin legte eine Bestätigung der DRV vom 24.09.2020 über eine Terminvereinbarung für den 28.09.2020 für eine Telefonberatung vor.

 

Mit zwei Bescheiden vom 28.09.2020 bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum 01.10.2020 bis 30.09.2021 und hob den Bescheid vom 11.09.2020 auf.

 

Bereits am 24.09.2020 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Bescheides vom 30.03.2020 nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X). Die Voraussetzungen einer Aufforderung zur Beantragung einer Erwerbsminderungsrente lägen nicht vor. Der Beklagte habe außerdem ermessensfehlerhaft gehandelt. Den Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 09.10.2020 ab. Die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X lägen nicht vor.

 

Den dagegen am 17.10.2020 erhobenen Widerspruch verwarf der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30.10.2020 als unzulässig. Die Klägerin habe kein Rechtsschutzbedürfnis. Insbesondere seien ihr für die Zeit ab dem 01.10.2020 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bewilligt worden. Durch eine Aufhebung des Bescheides vom 30.03.2020 könne sie nicht mehr erhalten. Nachteile durch die unterlassene Rentenantragstellung habe sie nicht (mehr) zu befürchten. Der Widerspruchsbescheid wurde der Klägerin im Rahmen eines vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf geführten Untätigkeitsklageverfahren (Az. S 35 AS 133/21), welches auf die Erteilung dieses Widerspruchsbescheides gerichtet war, durch das SG erstmalig am 12.02.2021 übermittelt.

 

Mit Schreiben vom 30.11.2020 teilte die DRV dem Beklagten mit, dass der Rentenantrag mit Bescheid vom 30.11.2020 wegen fehlender Mitwirkung abgelehnt worden sei, und bat mit Schreiben vom 07.01.2021 und 18.02.2021 erneut um Übersendung der ärztlichen Untersuchungsbefunde. Unter dem 26.02.2021 übersandte der Beklagte der DRV ein ärztliches Gutachten.

 

Am 12.02.2021 hat die Klägerin gegen den Bescheid vom 09.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2020 vor dem SG Düsseldorf Klage erhoben.

 

Sie hat geltend gemacht, durch die Aufforderung des Beklagten vom 30.03.2020 weiterhin beschwert zu sein. Diesem sei es möglich, sie aufgrund dieses Bescheides erneut zu sanktionieren. Noch mit Schreiben vom 24.09.2020 sei sie aufgefordert worden, einen formlosen Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu stellen. Sollte der Bescheid vom 30.03.2020 gegenstandslos geworden sein, hätte der Beklagte dies auf ihren Überprüfungsantrag hin mitteilen können. Da der Bescheid bestandskräftig geworden sei, müsse sie mit einer erneuten Versagung rechnen. Ferner habe der Beklagte ermessensfehlerhaft gehandelt. Es fehle insbesondere an einer Sachverhaltsaufklärung vor der Aufforderung vom 30.03.2020. Die Entscheidung des Beklagten sei damit wegen Ermessensfehlgebrauchs im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes rechtswidrig.

 

Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,

den Beklagten kostenpflichtig zu verpflichten, den Überprüfungsbescheid vom 09.10.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2020 aufzuheben und über den Überprüfungsantrag vom 24.09.2020 unter Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

 

Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

 

Er hat sich im Wesentlichen auf seine Ausführungen in dem Widerspruchsbescheid bezogen und ausgeführt, dass die Klägerin keine erneute Versagung befürchten müsse. Er selbst habe nach § 5 Abs. 3 SGB II den Antrag gestellt. Das entsprechende Verfahren werde von der DRV weitergeführt.

 

Die Klägerin hat zum 01.08.2021 eine Ausbildung bei der W. GmbH in M. aufgenommen, die sie nach ihren Angaben im Termin zur mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren voraussichtlich im Jahr 2024 abschließen wird.

 

Mit Bescheid vom 12.10.2021 hat die DRV auf den Antrag des Beklagten erneut entschieden, dass dem Rentenantrag mangels Mitwirkung der Klägerin nicht entsprochen werden könne und dies dem Beklagten mit Schreiben vom gleichen Tag mitgeteilt.

 

Nach entsprechender Anhörung hat das SG die Klage durch Gerichtsbescheid vom 10.08.2022 abgewiesen. Sie sei im Laufe des Klageverfahrens unzulässig geworden, da das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin entfallen sei. Der zur Überprüfung gestellte Bescheid des Beklagten hätte sich insoweit erledigt, als dieser keine Rechtswirkungen mehr entfalten könne. Denn der Rentenantrag der Klägerin sei mit Bescheid vom 12.10.2021 bestandskräftig abgelehnt worden. Auch ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse bestehe nicht mehr, da die Klägerin mittlerweile eine Ausbildung begonnen habe.

 

Dagegen hat die Klägerin am 17.08.2022 Berufung eingelegt. Sie verfolgt ihr Begehren weiter und erhält ihre Argumentation aufrecht. Die Entscheidung des SG sei verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das SG habe gegen das Gebot auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i. V. m. § 62 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verstoßen. Eine den Anforderungen des § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG genügende Anhörung der Beteiligten sei nicht durchgeführt worden. Die formularmäßige Mitteilung des SG sei ohne konkreten Fallbezug und ohne fallbezogene Hinweise erfolgt.

 

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des SG Düsseldorf vom 10.08.2022 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Überprüfungsbescheides vom 09.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2020 zu verpflichten, den Bescheid vom 30.03.2020 zurückzunehmen.

 

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er trägt vor, dass die Klage von Beginn an unzulässig gewesen sei. Der Bescheid vom 30.03.2020 sei wegen des durch ihn gemäß § 5 Abs. 3 SGB II zwischenzeitlich für die Klägerin bei der DRV gestellten Antrages vom 05.05.2020 bereits vollzogen. Der Überprüfungsantrag vom 24.09.2020 sei daher zutreffend abgelehnt worden. An diesem Ergebnis ändere sich auch nichts dadurch, dass der Bescheid vom 30.03.2020 einen schriftlichen Hinweis auf die Regelung des § 5 Abs. 3 Satz 4 SGB II (gemeint wohl § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II) enthalte. Dieser Hinweis sei nicht Gegenstand des Verfügungssatzes und könne deshalb mangels Regelungsgehalts nicht durch den Überprüfungsantrag angegriffen werden. Die Aufhebung des Bescheides vom 30.03.2020 würde auch nicht zur Nichtigkeit der Antragstellung des Beklagten vom 05.05.2020 führen. Die Klägerin könne daher durch eine Aufhebung des Bescheides vom 30.03.2020 keine geänderte Rechtsposition erreichen. Hilfsweise schließe sich der Beklagte der Auffassung des SG an, dass spätestens nach Erlass des Bescheides der DRV vom 12.10.2020 keine Beschwer der Klägerin mehr erkennbar sei und die Klage dadurch unzulässig geworden sein dürfte. Im Übrigen habe sie ihr Ermessen in dem zur Überprüfung gestellten Bescheid vom 30.03.2020 pflichtgemäß ausgeübt. Unbeschadet dessen müsse im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X stets ein Kausalzusammenhang zwischen einer fehlerhaften Ermessensausübung und der zur Überprüfung gestellten Entscheidung bestehen. Ein solcher Zusammenhang könne nur angenommen werden, wenn eine Ermessensreduzierung auf null vorliege, was hier aber nicht der Fall sei.

 

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Streitakte sowie der beigezogenen elektronischen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

A) Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

 

I. Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist neben dem Gerichtsbescheid des SG vom 10.08.2022 der Bescheid des Beklagten vom 09.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2020, mit dem er den Überprüfungsantrag der Klägerin nach § 44 SGB X betreffend den Bescheid vom 30.03.2020, in dem sie aufgefordert wurde, einen Rentenantrag zu stellen, abgelehnt hat.

 

II. Davon ausgehend ist die Berufung statthaft und auch im Übrigen zulässig. Die Beschränkungen des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG gelten nicht, da Gegenstand des Verfahrens keine Geld-, Dienst- oder Sachleistung und auch kein hierauf gerichteter Verwaltungsakt ist. Die Klägerin war befugt, die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, die in ihrem Verpflichtungsteil zunächst lediglich auf eine Neubescheidung durch den Beklagten gerichtet war, in eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage in Form einer Vornahmeklage im Sinne des § 131 Abs. 2 Satz 1 SGG umzustellen. Diese Umformulierung des Klagebegehrens stellt keine nach § 153 Abs. 1 i. V. m. § 99 SGG unzulässige Klageänderung dar (vgl. zur Parallelvorschrift in § 91 Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO] Riese in Schoch u. a., Verwaltungsrecht, Stand: 44. Ergänzungslieferung März 2023, § 91 Rn. 30 m. w. N.).

 

III. Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen.

 

1. Zunächst genügt – anders als von der Klägerin vertreten – die durch das SG durchgeführte Anhörung zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid den Anforderungen des § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG. Erforderlich ist insoweit, dass das SG den Beteiligten mitteilt, dass es eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung erwägt, und ihnen Gelegenheit gibt, sich dazu zu äußern. Dabei ist das rechtliche Gehör den Beteiligten ausreichend gewährt, wenn ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme in der Sache selbst wie auch zur Äußerung von etwaigen Bedenken eingeräumt wird, die sie gegen die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und durch Gerichtsbescheid haben. Deshalb darf die Anhörung nicht allgemein gehalten sein, sondern hat unmissverständlich, konkret und fallbezogen zu erfolgen (Landessozialgericht [LSG] Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.11.1999, L 4 RJ 158/99; Schmidt in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 13. Auflage 2020, Rn. 10 m. w. N.). Wesentlich ist, dass die Beteiligten erkennen können, dass das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden möchte, damit sie darauf reagieren können. Denn die Anhörungsmitteilung hat vor allem die Warnfunktion, nun alles Notwendige vortragen zu müssen (Burkiczak in jurisPK-SGG, Stand: 10.07.2023, § 105 SGG, Rn. 62). Diese Voraussetzungen erfüllt die vom SG mit Verfügung vom 13.07.2022 durchgeführte Anhörung. Insbesondere hat es ausdrücklich und konkret erklärt, dass es im hiesigen Verfahren eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung beabsichtige, weil der Sachverhalt geklärt sei und der Rechtsstreit keine schwierigen Rechtsfragen aufwerfe. Im Übrigen hat sich die anwaltlich vertretene Klägerin mit Schriftsatz vom 19.07.2022 ausdrücklich mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden erklärt.

 

2. Es bedurfte keiner (echten notwendigen) Beiladung der DRV (§ 75 Abs. 2, 1. Alternative SGG), weil durch die Entscheidung des Rechtsstreits über die Aufforderung der Klägerin durch den Beklagten zur Rentenantragsstellung nicht gleichzeitig unmittelbar und zwangsläufig Rechte der DRV gestaltet, bestätigt oder festgestellt, verändert oder aufgehoben werden. Denn die Entscheidung im Streit um die Aufforderung und der auf ihr beruhenden Verfahrensführungsbefugnis des Beklagten für die Klägerin gegenüber der DRV beantwortet lediglich eine Vorfrage für die von der DRV zu treffende Entscheidung über den Rentenantrag des Beklagten. Deswegen darf ohne ihre Beteiligung über den vorliegenden Rechtsstreit entschieden werden (Bundessozialgericht [BSG], Urteile vom 19.08.2015, B 14 AS 1/15 R, juris Rn. 13 und vom 24.06.2020, B 4 AS 12/20 R, juris Rn. 13).

 

IV. Die Berufung ist auch begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen.

 

1. Die Klage ist zulässig.

 

a) Sie ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG statthaft. Denn die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Klägerin auf Überprüfung des Bescheides vom 30.03.2020 nach § 44 SGB X mit dem Ziel der Rücknahme dieses Bescheides. Die Anfechtungsklage zielt auf die Aufhebung des Überprüfungsbescheides vom 09.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2020, die Verpflichtungsklage auf die Rücknahme der schriftlichen Aufforderung vom 30.03.2020 (vgl. BSG, Urteil vom 23.02.2017, B 4 AS 57/15 R und BSG, Urteil vom 03.05.2018, B 11 AL 3/17 R; Keller in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 13. Auflage 2020, § 54 Rn. 20b m. w. N.).

 

b) Die Klage ist fristgerecht im Sinne des § 87 SGG erhoben worden. Nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Klägerin wurde ihr der Widerspruchsbescheid vom 30.10.2020 erst im Rahmen der Untätigkeitsklage vor dem SG (Az. S 35 AS 133/21) am 12.02.2021 bekannt gegeben. Da der Widerspruchsbescheid mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, gilt vorliegend die Monatsfrist des § 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGG, die mit dem Eingang der Klage beim SG am 12.02.2021 eingehalten worden ist.

 

c) Die Auffassung des SG, dass die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses bereits unzulässig sei, weil sich der Bescheid vom 30.03.2020 dadurch erledigt habe (§ 39 Abs. 2 SGB X), dass der Beklagte gemäß § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II den Rentenantrag für die Klägerin gestellt habe, ist unzutreffend. Denn sie lässt die Rechtsprechung des BSG außer Betracht, wonach die Erledigung einer Aufforderung nach § 12a SGB II erst eintritt, wenn die in Rede stehende vorläufige Sozialleistung bestandskräftig abgelehnt worden ist (BSG, Urteile vom 19.08.2015, B 14 AS 1/15 und vom 24.06.2020, B 4 AS 12/20 R). Zur Begründung hat das BSG ausgeführt, dass in Fällen, in denen das auf der Antragstellung des Leistungserbringers beruhende Rentenverfahren noch nicht abgeschlossen ist, der Antrag des Leistungserbringers dessen Verfahrensführungsbefugnis für den Betroffenen im Rentenverfahren begründet und erhält, in dem eine rückwirkende Bewilligung einer Rente weiter in Betracht kommt (BSG, Urteile vom 19.08.2015, B 14 AS 1/15, juris Rn. 13 und vom 24.06.2020, B 4 AS 12/20 R, juris Rn. 12). So liegt der Fall auch hier (vgl. dazu bereits die Entscheidung des erkennenden Senats in dem vorangegangenen Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren – Beschluss vom 11.01.2022, L 6 AS 1134/21 B, juris Rn. 34 m. w. N.). Zwar hat die DRV über den Antrag des Beklagten mit Bescheid vom 12.10.2021 bestandskräftig entschieden, jedoch die Erwerbsminderungsrente nicht bewilligt oder abgelehnt, sondern Rentenleistungen nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I versagt. Damit hat die DRV aber keine Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen und somit keine materiell-rechtliche Prüfung des Rentenanspruchs vorgenommen (vgl. Voelzke in jurisPK-SGB I, Stand: 02.12.2022, § 66 Rn. 58; BSG, Urteil vom 17.02.2004, B 1 KR 4/02 R). Vielmehr bleibt insoweit das Stammrecht der Klägerin auf die Leistung erhalten (Voelzke a. a. O., Bayerisches LSG, Urteil vom 19.07.2018, L 7 AS 452/18). Die fehlende Mitwirkung kann nachgeholt werden und nach § 67 SGB I zur ganzen oder teilweisen nachträglichen Bewilligung der Rentenzahlung durch die DRV führen. Schon aus diesem Grund dürfte die Verfahrensführungsbefugnis des Beklagten fortwirken. Dies gilt umso mehr, als die Aufforderung nach § 12a SGB II dem Grundsicherungsträger die Stellung eines Verfahrens- und Prozessstandschafters einräumt (vgl. Luik in Gagel, SGB II, Stand: 82. Ergänzungslieferung Juni 2021, § 5 Rn. 119), der damit zu Verfahrenshandlungen befugt ist, die den Leistungsberechtigten als Inhaber des Rechts betreffen. Die Aufforderung steht damit etwa auch der Rücknahme des Leistungsantrages durch den Betroffenen entgegen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.01.2022, L 14 R 455/19).

 

Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht zudem aufgrund der aus der Regelung in § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II potentiell erwachsenden negativen Rechtsfolgen für die Klägerin. Nach § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II sind – sofern eine Leistung aufgrund eines Antrages des Grundsicherungsträgers von einem anderen Träger nach § 66 SGB I bestandskräftig entzogen oder versagt wird – die Leistungen nach dem SGB II ganz oder teilweise so lange zu entziehen oder zu versagen, bis die leistungsberechtigte Person ihrer Verpflichtung nach den §§ 60 bis 64 SGB I gegenüber dem anderen Träger nachgekommen ist. Voraussetzung für eine Versagung oder Entziehung aufgrund der Ermächtigung des § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II ist u. a. eine vorherige Antragstellung des Leistungsträgers gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II, der seinerseits die Aufforderung nach § 12a SGB II voraussetzt. Die Aufforderung entfaltet als eine der Tatbestandsvoraussetzungen mithin Wirkung noch nach Antragstellung und während des laufenden Verfahrens. Dies gilt trotz des Umstandes, dass sich der Beklagte bislang nicht erneut auf § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II berufen, sondern der Klägerin sogar weiter Leistungen bewilligt hat (so auch LSG B.-Pfalz, Urteil vom 02.02.2021, L 3 AS 1/20, juris Rn. 27). Der Vortrag des Beklagten, die Klägerin müsse keine erneute Versagung befürchten, steht dem ebenfalls nicht entgegen. Denn diesem lässt sich nicht zweifelsfrei die Erklärung oder gar eine Zusicherung entnehmen, auf den Erlass jedweden Versagungsbescheides im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme vorrangiger Sozialleistungen anderer Träger zu verzichten. Entgegen der Rechtsansicht des Beklagten ist es vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen im Übrigen unerheblich, ob der Hinweis auf § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II im Bescheid vom 30.03.2020 Gegenstand des Verfügungssatzes war oder nicht. Denn die rechtliche Befugnis des Beklagten zur Versagung der Leistungen gegenüber der Klägerin ergibt sich allein und unmittelbar bereits aus der gesetzlichen Regelung in § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II selbst. Die daraus für die Klägerin resultierende Beeinträchtigung ihrer Rechtsposition aber hat ihren Ausgangspunkt in der Aufforderung zur Rentenantragsstellung, weil diese Tatbestandswirkung für die (Ersatz-)Antragstellung durch den Beklagten hat, aus der dessen Verfahrensführungsbefugnis gegenüber der DRV folgt.

 

Das Argument des SG, dass der Beklagte aus der Aufforderung vom 30.03.2020 keine Sanktionsfolgen herleiten kann, soweit diese an eine etwaige Nichtbefolgung der Aufforderung vom 30.03.2020 anknüpfen (vgl. dazu ausführlich Kühl in jurisPK-SGB II, Stand: 21.09.2021, § 12a, Rn. 17 m. w. N.; Knickrehm in Eicher/Luik, SGB II, 5. Auflage 2021, § 12a Rn. 12a m. w. N.), ist aus den dargelegten Gründen nicht geeignet, zu einer abweichenden Beurteilung des Falles unter dem Gesichtspunkt des Bestehens eines Rechtsschutzbedürfnisses für die Klage zu führen.

 

2. Die Klage ist auch begründet.

 

Der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 09.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2020 ist rechtswidrig und die Klägerin deshalb beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Sie hat einen Anspruch auf Rücknahme der Aufforderung zur Rentenantragstellung vom 30.03.2020.

 

Die erstrebte Rücknahme richtet sich nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i. V. m. § 44 Abs. 2 SGB X. Der Beklagte hat eine Rücknahme des Bescheides vom 30.03.2020 zu Unrecht abgelehnt, da die Tatbestandsvoraussetzungen des § 44 Abs. 2 SGB X im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung vorlagen.

 

Nach § 44 SGB X ist ein (im Sinne von § 45 Abs. 1 SGB X) nicht begünstigender Verwaltungsakt zurückzunehmen, soweit er rechtswidrig ist. Der Verwaltungsakt ist immer mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (§ 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X), soweit er noch Rechtswirkungen entfaltet, also noch nicht im Sinne von § 39 Abs. 2 SGB X erledigt ist. Die Rücknahme hat (gebundene Entscheidung) für die Vergangenheit zu erfolgen, wenn wegen der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Im Übrigen "kann" (Ermessen) der anfänglich rechtswidrige Verwaltungsakt auch in sonstigen Fällen, also über die Fälle des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X hinaus, für die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X; vgl. BSG, Urteil vom 30.10.2014, B 5 RS 1/13 R). Da der Beklagte durch die Aufforderung vom 30.03.2020 nicht im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X „Sozialleistungen nicht erbracht“ hat, ist für die Rücknahme im vorliegenden Fall § 44 Abs. 2 SGB X einschlägig.

 

Der Bescheid des Beklagten vom 30.03.2020, mit dem er die Klägerin zur Rentenantragstellung aufgefordert hat, ist rechtswidrig (dazu unter a)). Der Beklagte war deswegen verpflichtet, den Bescheid zurückzunehmen. Das ihm gem. § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X eingeräumte Ermessen war insoweit auf null reduziert (dazu unter b)).

 

a) Bei der Aufforderung des Beklagten zur Beantragung einer Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit handelt es sich um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 31 Satz 1 SGB X (BSG, Urteil vom 19.08.2015, B 14 AS 1/15 R; BSG, Beschluss vom 16.12.2011, B 14 AS 138/11; Becker in jurisPK-SGB II, Stand: 19.01.2023, § 5 Rn. 121). Der Regelungscharakter ergibt sich hier daraus, dass die allgemein für Leistungsberechtigte geltende gesetzliche Verpflichtung nach § 12a Satz 1 SGB II, vorrangige Leistungen in Anspruch zu nehmen, in eine konkrete Handlungsobliegenheit für die Klägerin umgesetzt wurde, bis zum 16.04.2020 eine Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit zu beantragen. Dieser Bescheid ist rechtswidrig.

 

aa) Offen bleiben kann dabei die streitige Frage, ob hier allein schon die unterbliebene Anhörung der Klägerin gemäß § 24 SGB X und die daraus resultierende formelle Rechtswidrigkeit des Bescheides dessen Rücknahme nach § 44 Abs. 2 SGB X begründen kann (ablehnend: BSG, Urteile vom 28.5.1997, 14/10 RKg 25/95, vom 19.2.2009, B 10 KG 2/07 R und vom 03.05.2018, B 11 AL 3/17 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.04.2020, L 2 AS 423/20 B; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.12.2013, L 19 AS 1814/13 B; Merten in Hauck/Noftz, SGB X, Stand: 4. Ergänzungslieferung 2023, § 44 Rn. 48; befürwortend: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2016, L 8 AL 4082/15 unter Verweis auf die Geltung und Wertung der Vorschrift des. § 42 Satz 1 SGB X auch im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X; Baumeister in jurisPK-SGB X, Stand: 12.04.2023, § 44 SGB X, Rn. 84). Denn der zur Überprüfung gestellte Bescheid ist jedenfalls (auch) materiell rechtswidrig (dazu nachfolgend unter bb)).

 

bb) Die zur Überprüfung gestellte Aufforderung vom 30.03.2020 zur Beantragung einer Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit stellt sich aufgrund fehlerhaft ausgeübten Ermessens als rechtswidrig dar.

 

(1) Rechtsgrundlage für die Aufforderung ist § 12a i. V. m. § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II. Nach § 12a Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Stellen Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag nicht, können dies nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II die SGB II-Leistungsträger tun. Die Aufforderung, entsprechend der Verpflichtung aus § 12a SGB II einen Antrag zu stellen, ist somit tatbestandliche Voraussetzung für die Handlungsoption nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II (Sächsisches LSG, Urteil vom 11.09.2014, L 3 AS 959/11).

 

(2) Die in § 12a Satz 1 SGB II geforderten Voraussetzungen für die Pflichtenstellung der Klägerin sind gegeben. Zahlungen aus einer Erwerbsminderungsrente gemäß §§ 43 ff. Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) sind Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II und damit gemäß § 9 Abs. 3 Satz 2 SGB II bedarfsmindernd anzurechnen (BSG, Urteil vom 21.12.2009, B 14 AS 42/08 R; Luthe in Hauck/Noftz SGB II, 10. Ergänzungslieferung 2023, § 5 Rn. 102). Sie gehören deswegen zu den in Anspruch zu nehmenden vorrangigen Leistungen anderer Träger (Hengelhaupt in Hauck/Noftz SGB II, 10. Ergänzungslieferung 2023, § 12a, Rn. 41).

 

Sonderregelungen, die eine Ausnahme von der Pflicht, einen Antrag auf Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente zu stellen, oder eine Modifikation dieser Pflicht vorsehen, existieren nicht. Die Ausnahmeregelungen in § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II und in der aufgrund der Ermächtigungsgrundlage in § 13 Abs. 2 SGB II erlassenen Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung – UnbilligkeitsV) vom 14.04.2008 (BGBl. I S. 734) betreffen nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II und des § 13 Abs. 2 SGB II nur die "Rente wegen Alters" und nicht sämtliche Rentenarten (vgl. Kühl in jurisPK-SGB II, Stand: 10.02.2023, § 12a Rn. 23). Eine analoge Anwendung der Vorschriften der UnbilligkeitsV kommt wegen deren Ausnahmecharakters nicht in Betracht (zum Ausnahmecharakter der UnbilligkeitsV vgl. BSG, Urteile vom 19.08.2015, B 14 AS 1/15 R und vom 24.06.2020, B 4 AS 12/20 R). Die weitere Ausnahmeregelung in § 12a Satz 2 Nr. 2 SGB II ist ebenfalls nicht einschlägig. Sie hat lediglich die Pflicht, Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz oder Kinderzuschlag nach dem Bundeskindergeldgesetz in Anspruch zu nehmen, zum Gegenstand.

 

Die Regelung in § 12a Satz 1 SGB II über die allgemeine Pflicht, nach näherer Maßgabe Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art 20 Abs. 1 GG) steht der Sicherung des Nachrangs existenzsichernder Leistungen durch die Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorrangiger Sozialleistungen und Aufforderung zu ihrer Beantragung nicht entgegen. Denn das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und damit der Mittel, die für die physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind, steht nur denjenigen zu, die mangels der hierfür notwendigen materiellen Mittel hilfebedürftig sind (Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 09.02.2010, 1 BvL 1, 3, 4/09). Wer jedoch Anspruch auf vorrangige Sozialleistungen hat, ist im Umfang ihrer Inanspruchnahme nicht im Sinne des Existenzsicherungsrechts hilfebedürftig. Das Grundrecht schützt zwar vor der Berücksichtigung nur fiktiven Einkommens. Dessen Berücksichtigung sieht das Gesetz hingegen auch nicht vor. Vielmehr regelt es eben deshalb die Ermächtigung des Leistungsträgers, anstelle des Leistungsberechtigten einen erforderlichen Antrag auf vorrangige Leistungen zu stellen, damit die Realisierung eigener bereiter Mittel zur Existenzsicherung und damit eine Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit bewirkt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 19.08.2015, B 14 AS 1/15 R).

 

Die sich aus dem gesamten Regelungszusammenhang der genannten Vorschriften ergebenden Voraussetzungen (BSG, Urteil vom 19.08.2015, B 14 AS 1/15 R und Urteil vom 09.03.2016, B 14 AS 3/15 R) erfüllt die Klägerin. Denn sie ist hilfebedürftig i. S d. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 9 Abs. 1 SGB II. Hilfebedürftig ist danach derjenige, der seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus zu berücksichtigendem Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Hieran knüpft die Vorschrift des § 12a SGB II über vorrangige Leistungen an (vgl. BSG, Urteil vom 19.08.2015, B 14 AS 1/15 R).

 

(3) Rechtmäßigkeitsvoraussetzung einer Aufforderung ist aber (auf Rechtsfolgenseite) auch die fehlerfreie Ermessensentscheidung des Leistungsträgers nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II, den Leistungsberechtigten zur Antragstellung aufzufordern (vgl. BSG a. a. O.).

 

Zur Überzeugung des Senats ist die Ermessensausübung des Beklagten im vorliegenden Fall im Sinne eines Ermessensfehlgebrauchs rechtswidrig.

 

Über den Wortlaut des § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II hinausgehend steht bereits die Aufforderung an Leistungsberechtigte zur Beantragung einer vorrangigen Leistung im Ermessen der Leistungsträger (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.2022, B 4 AS 60/21 R m. w. N.). Dies folgt aus der Vorschrift des § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II, wonach die Leistungsträger selbst den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen können. Mit diesem "können" ist das „Ob“ der Antragstellung anstelle der Leistungsberechtigten in das Ermessen der Leistungsträger gestellt. Dieses ermöglicht eine abschließende Abwägung im Einzelfall, ob der Nachrang der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II auf diesem Weg durchgesetzt werden soll oder ob dies wegen eines besonderen Härtefalles unzumutbar ist. Noch vor der Ermessensentscheidung der Leistungsträger über ihre Antragstellung ist indes bereits über die Aufforderung der Leistungsberechtigten zur Antragstellung durch die Leistungsträger eine Ermessensentscheidung zu treffen. (BSG, Urteil vom 22.09.2022, B 4 AS 60/21 R; BSG, Urteil vom 24.06.2020, B 4 AS 12/20 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.02.2010, L 19 AS 371/09 AS ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.05.2013, L 7 AS 525/13 B ER; Sächsisches LSG, Beschluss vom 28.08.2014, L 7 AS 836/14 B ER; Kühl in jurisPK-SGB II, Stand: 10.02.2023, § 12a, Rn. 15). Denn ohne eine vorgezogene Ermessensprüfung des Leistungsträgers und deren Erkennbarkeit im Aufforderungsbescheid wäre der Leistungsberechtigte benachteiligt, der der Aufforderung nachkommt, obwohl der Leistungsträger dieser bei Nichtbefolgung aus Ermessensgründen keine eigene Antragstellung hätte folgen lassen. Der Leistungsberechtigte soll prüfen können, ob er der Aufforderung folgt, die der Leistungsträger durch eigene Antragstellung auch durchzusetzen beabsichtigt, oder ob er im Streit um die Aufforderung Gründe vorbringt, die gegen ihre spätere Durchsetzung und damit auch gegen die Aufforderung sprechen können (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.02.2010, L 19 AS 371/09 AS ER).

 

Im hier zu entscheidenden Fall hat der Beklagte zur Überzeugung des Senats sein Ermessen nicht gemäß den Vorgaben des § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I ausgeübt. Die Ermessensausübung ist gerichtlich nur eingeschränkt darauf zu überprüfen (§ 39 Abs. 1 SGB I, § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG), ob Ermessen überhaupt ausgeübt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (BSG, Urteil vom 23.6.2016, B 14 AS 46/15 R).

 

Vorliegend ist aus der insoweit nach § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X obligatorischen Begründung der Aufforderung vom 30.03.2020 nicht ersichtlich, dass und insbesondere welche nach dem Zweck des § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II i. V. m. § 12a Satz 1 SGB II relevanten Gesichtspunkte in tatsächlicher Hinsicht durch den Beklagten ermittelt und berücksichtigt worden sind. Da aber das Entschließungsermessen im Rahmen des § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II tatbestandlich gerade voraussetzt, dass die Beantragung von für die Hilfebedürftigkeit relevanten vorrangigen Leistungen erforderlich ist, sind die Ermessensgesichtspunkte, die den Leistungsträger trotz einer Verpflichtung des Leistungsberechtigten zur Inanspruchnahme einer vorrangigen Leistung und trotz nichtbefolgter Aufforderung zur Antragstellung von einer eigenen künftigen Antragstellung absehen lassen könnten, bereits bei der Aufforderung des Leistungsberechtigten zur Antragstellung zu erwägen. Sie müssen deswegen gemäß § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X im Aufforderungsbescheid erkennbar sein (vgl. BSG, Urteil vom 24.06.2020, B 4 AS 12/20 R; Thüringisches LSG, Beschluss vom 17.03.2021, L 9 AS 852/20 B ER; in diesem Sinne auch Groth in jurisPK-SGB I, Stand: 15.03.2021, § 39 Rn. 42).

 

Dies ist bei dem hier zur Überprüfung stehenden Bescheid gerade nicht der Fall. Zwar geht daraus hervor, dass der Beklagte erkannt hat, dass ihm grundsätzlich ein Ermessenspielraum zusteht, er enthält hierzu aber nur unzureichende Erwägungen. So ist lediglich formelhaft ausgeführt, dass der Beklagte in Abwägung der Interessen der Klägerin mit dem Interesse an wirtschaftlicher und sparsamer Verwendung von Leistungen nach dem SGB II der Klägerin die Beantragung von vorrangigen Leistungen zumutbar sei. Im Übrigen lässt sich dem Bescheid nicht entnehmen, dass sämtliche nach dem Zweck des § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II i. V. m. § 12a Satz 1 SGB II relevante Gesichtspunkte in tatsächlicher Hinsicht ermittelt und berücksichtigt worden sind. Insbesondere enthält der Bescheid keine konkret auf die Klägerin und deren Situation bezogene Gesichtspunkte, die der Beklagte bei Ausübung des ihm eingeräumten Ermessens in seiner Entscheidung abgewogen hat. Vielmehr führt er pauschal aus, dass er „unter Abwägung aller Gesichtspunkte“, zu der Entscheidung gekommen sei, die Klägerin zur Beantragung vorrangiger Leistungen aufzufordern. Nicht erklärt wird, welche Gesichtspunkte dies waren und welche Ermittlungen angestellt worden sind. Gleiches gilt für die weiteren Ausführungen, wonach keine „maßgeblichen Gründe“ ersichtlich seien, welche gegen die Beantragung der vorrangigen Leistungen sprechen und wonach der Klägerin die Antragstellung zumutbar sei. Darüber hinaus wird zur weiteren Begründung der Aufforderung lediglich ausgeführt, dass die Klägerin nach den „vorliegenden Unterlagen“ einen Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit haben könnte. Weitere Ausführungen dazu, um welche Unterlagen es sich handelt, fehlen und es bleibt auch nach Durchsicht der Verwaltungsakte unklar, um welche Unterlagen es sich wohl gehandelt haben könnte. Wohl hat der Beklagte der DRV mit Schreiben vom 26.02.2021 ein ärztliches Gutachten übersandt. Ob dies Grundlage für die hier in Rede stehende Aufforderung war, geht aus ihr nicht hervor.

 

Da sich der Bescheid deswegen bereits aufgrund mangelnder Ermessenserwägungen im Sinne des § 39 Abs. 1 SGB I i. V. m. § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X als rechtswidrig erweist, kommt es auf die weitere Frage, ob der Entscheidung (darüber hinaus) ein atypischer Fall zugrunde lag, der den Beklagten hätte veranlassen müssen, von einer Aufforderung der Klägerin zur Antragstellung abzusehen, nicht an.

 

Die von dem Beklagten angeregte Vernehmung des dort zuständigen Sachbearbeiters zu den getroffenen Ermessenserwägungen als Zeugen kam nicht in Betracht. Ein Nachschieben von Ermessenserwägungen wäre lediglich bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens möglich gewesen. Während des sozialgerichtlichen Verfahrens ist dies nicht mehr der Fall. Denn der Gesetzgeber hat hier eine dem § 114 Satz 2 VwGO (Nachträgliche Prüfung bei Ermessensspielraum) entsprechende Regelung nicht getroffen (Keller in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 13. Auflage 2020, § 54, Rn. 36 m. w. N.). Aus diesem Grund war (unbeschadet des hierfür fehlenden Antrages) auch das Berufungsverfahren nicht nach § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG auszusetzen, um dem Beklagten ein Nachschieben von Ermessenserwägungen zu ermöglichen (Thüringisches LSG, Urteil vom 03.11.2005, L 3 AL 108/04, Köhler in WzS 2022, S. 35 [39]).

 

cc) Soweit der Beklagte vorträgt, dass im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X für eine Aufhebung der Entscheidung stets ein Kausalzusammenhang zwischen einer fehlerhaften Ermessensausübung und der Entscheidung des Beklagten Voraussetzung sei, trifft dies zur Überzeugung des Senats nicht zu. Soweit der Beklagte diesbezüglich auf die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11.08.2020, 12 E 446/18 verweist, ist diese nicht einschlägig. Denn Rechtsgrundlage der dortigen Entscheidung war eine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, der neben einer unrichtigen Rechtsanwendung nach seinem Wortlaut ("… und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht…") eine Kausalität voraussetzt. Wie bereits ausgeführt, handelt es sich vorliegend aber um eine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X, die einen solchen Kausalzusammenhang gerade nicht voraussetzt. Dieser Einwand gilt ebenso im Hinblick auf die weiteren von dem Beklagten zitierten Entscheidungen des BSG und des LSG Baden-Württemberg (BSG, Urteil vom 03.05.2018, B 11 AL 3/17 R; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12.10.202, L 11 KR 3394/19).

 

Die vom Beklagten zitierte Entscheidung des BSG stützt auch deswegen nicht dessen Rechtsauffassung, weil das BSG dort ausdrücklich ausgeführt hat, dass nur eine materielle und nicht die lediglich formelle Rechtswidrigkeit der zu Grunde liegenden Verwaltungsentscheidung dazu führen könne, dass vorenthaltene Sozialleistungen nachträglich noch zu erbringen seien. Die Ermessensausübung nach § 39 SGB I i. V. m. § 35 SGB X ist aber gerade materieller Inhalt der Entscheidung und nicht Bestandteil der formellen Rechtmäßigkeit eines Bescheides. Dies ergibt sich auch daraus, dass – anders als bei einer fehlenden Begründung (§ 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X) – im Falle eines hier vorliegenden (materiellen) Ermessensfehlers der Mangel in der Ermessensbetätigung nach § 39 Abs. 1 SGB I im Klageverfahren nicht nachgeholt werden kann (BSG, Urteil vom 01.03.2011, B 7 AL 2/10 R; Groth in jurisPK-SGB I, Stand: 15.03.2021, § 39 Rn. 54; Schütze in ders., SGB X, 9. Auflage 2020, § 41 Rn. 11 m. w. N.).

 

b) Der Bescheid vom 30.03.2020 ist mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Grundsätzlich hatte der Beklagte gem. § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X über die beantragte Rücknahme des Bescheides nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Auch in den Fällen des § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X kann aber der Ermessensspielraum der Behörde auf null reduziert sein (Baumeister in jurisPK-SGB X, Stand: 12.04.2023, § 44 Rn. 124; Merten in Hauck/Noftz SGB X, 4. Ergänzungslieferung 2023, § 44 Rn. 87). Eine solche Fallkonstellation liegt hier vor. Denn eine rechtmäßige Aufforderung zur Rentenantragstellung kann als gesetzliche Voraussetzung für die Rechtsfolge der Versagung von Leistungen nach § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II nach der Gesetzessystematik nicht mit Wirkung für die Vergangenheit nachgeholt werden (vgl. LSG Berlin, Urteil vom 13.07.2001, L 10 AL 211/99 unter Verweis auf BSG, Urteil vom 27.07.2000, B 7 AL 42/99 R). Die Heilung einer fehlerhaften Aufforderung zur Beantragung einer Rente ist durch erneute Aufforderung nicht möglich. Eine erneute Aufforderung kann vielmehr nur Rechtsgrundlage für eine künftige Versagung von Leistungen nach § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II sein (so auch BSG a. a. O. zu einer rechtswidrigen Aufforderung zur Rentenantragstellung nach § 134 Abs. 3c Arbeitsförderungsgesetz – (AFG)).

 

B) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

C) Zulassungsgründe im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
Saved