L 15 VG 43/14

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 VG 6/13
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 VG 43/14
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnen auch bei Opfern von Gewalttaten die Leistungen der Beschädigtenversorgung im Grundsatz mit dem Antragsmonat, wenn die sonstigen materiell-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Ausnahmsweise eröffnet § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG eine Rückwirkung, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird.
2. Der Begriff der Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG knüpft unmittelbar an die Formulierung in § 1 BVG an, die auch in § 1 Abs. 1 OEG verwendet wird. Bei Heranziehung der in beiden Vorschriften grundsätzlich identisch geregelten dreigliedrigen Kausalitätskette ist mit dem Begriff Schädigung in § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG der sog. Primärschaden (2. Glied) gemeint, der in der Regel zeitlich eng mit dem Angriff verbunden ist. Der Zeitpunkt des Auftretens späterer Schädigungsfolgen ist für die Frage nach einer Vorverlegung der Beschädigtenversorgung unerheblich.

 

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 09.10.2014 (Az. S 30 VG 6/13) wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte trägt 1/4 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Die Beteiligten streiten nach Abschluss eines Teilvergleichs noch über den Anspruchsbeginn für die der Klägerin zuerkannte Beschädigtenversorgung.

Die 1972 geborene Klägerin beantragte beim Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) am 21.09.2009 die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG). Als gesundheitliche Schädigungen gab sie eine Angst- und Panikstörung sowie eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) an. Als schädigende Ereignisse nannte die Klägerin sexuellen Missbrauch in fortgesetzten Fällen zwischen ihrem dritten und neunten Lebensjahr durch ihren Vater in der elterlichen Wohnung sowie einen angenommenen Missbrauch mit 14 Jahren durch den Liebhaber ihrer Mutter. Auf die Frage, welche Zeugen sie benennen könne, gab die Klägerin an: "meine damalige Mitteilung an meine Mutter."

Das ZBFS gab eine versorgungsmedizinische Begutachtung durch M in Auftrag. Mit Gutachten vom 18.08.2010 führte die Sachverständige aus, die Klägerin habe berichtet, dass ihr Vater von Beruf Metzger gewesen sei. Die Eltern hätten sich scheiden lassen als sie neun Jahre alt gewesen sei. Danach sei sie zu ihrer Mutter gekommen. Beide Eltern hätten viel Alkohol getrunken. Der Vater habe die Mutter des Öfteren geschlagen.

Sie habe im Kindergarten und in der Schule von den schwierigen Verhältnissen und den Gewalttätigkeiten berichtet. Sie habe auch den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater angesprochen. Sie sei aber nicht ernst genommen worden, da der Vater aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als Metzger und Betreiber von Festzelten eine angesehene Person gewesen sei.

Nach Abschluss einer Ausbildung zur Konditoreifachverkäuferin habe sie im Jahr 1991/1992 eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin begonnen. 1995 habe sie die Ausbildung unterbrechen müssen, nachdem sie in Indien einen schweren Verkehrsunfall erlitten habe. Sie sei dabei in einem Bus gesessen, der eine Böschung heruntergestürzt sei. Sie habe sich bei dem Unfall eine Mittelgesichtsfraktur zugezogen, die zunächst nicht erkannt worden sei. Außerdem habe sie unter einer Lähmung der Arme und Beine gelitten. Sie sei im Krankenhaus A behandelt worden. Die dortigen Ärzte hätten sie in die Psychiatrie eingewiesen, weil für die Lähmung keine organische Erklärung habe gefunden werden können. Seit dem Unfall leide sie unter Kopfschmerzen, die vorwiegend rechtsseitig lokalisiert seien. Des Weiteren leide sie seit dem Unfall unter einem Tinnitus rechts. Sie habe später die Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin abgeschlossen und danach in diesem Beruf gearbeitet. Dadurch seien bei ihr jedoch Symptome getriggert worden. Bestimmte Verhaltensweisen der Patienten hätten sie an den sexuellen Missbrauch erinnert. Sie habe auch Auseinandersetzungen mit der Chefin gehabt, bei denen Panikattacken aufgetreten seien. Sie habe sich dann in ambulante Traumatherapie begeben.

Der sexuelle Missbrauch durch ihren Vater habe etwa im dritten Lebensjahr begonnen. Sie wisse noch, wo die Familie damals gewohnt habe. Der Vater habe sich - meist spät nachts - zu ihr ins Bett gelegt. Er habe stark nach Alkohol gerochen. Die Mutter habe davon mitbekommen und gesagt, dass er "das Dirndl" in Ruhe lassen solle. Der Missbrauch habe regelmäßig stattgefunden und erst mit der Trennung ihrer Eltern ein Ende gefunden. Sie habe mit dem Vater auch in der Badewanne baden und ihn an seinen Genitalien berühren müssen. Der Vater habe mit einer Quietscheente an ihren Genitalien herumgespielt und später auch mit dem Finger. Sie habe dabei nichts gespürt, sondern "abgespalten". Wenn sie ihrer Mutter gegenüber Andeutungen von dem sexuellen Missbrauch gemacht habe, habe diese gesagt "du spinnst".

Befragt zur weiteren Missbrauchserlebnissen gab die Klägerin gegenüber der Gutachterin an, jeweils an den Silvesterfesten in der Wohnung einer Tante von verschiedenen Personen sexuell missbraucht worden zu sein. Bei diesen Feiern seien beide Elternteile der Klägerin anwesend gewesen, ferner eine Tante, ein Onkel und Nachbarn des Hauses. Alle seien betrunken gewesen und es sei zu Sexorgien gekommen. Sie könne sich erinnern, dass sie am Boden gelegen sei und man ihr die Augen verbunden habe. Die Erwachsenen hätten sich an den Genitalien mit Sahne eingespritzt, die sie mit dem Mund habe entfernen sollen. Hierbei hätten die Erwachsenen auch an ihren Genitalien "herumgemacht". Die Mutter sei an diesen Sexspielen beteiligt gewesen. Später sei sie bei den Feiern an Silvester sowohl von ihrem Vater als auch von Nachbarn vergewaltigt worden.

Befragt von der Gutachterin zu dem sexuellen Missbrauch durch den späteren Liebhaber der Mutter gab die Klägerin an, selbst in den Liebhaber der Mutter verliebt gewesen zu sein. Sie glaube, dass er sie mit 13 Jahren sexuell missbraucht habe, weil sie eines Morgens nackt neben ihm im Bett aufgewacht sei. Sie könne sich aber nicht an Einzelheiten erinnern.

1994 habe sie in A in einer Videothek gearbeitet. Der Sohn des Inhabers habe sie einmal zu einer "Kurierfahrt" mit nach M genommen. Er sei mit ihr in ein Spielcasino gegangen und im Anschluss mit ihr in ein Hotel gefahren. Er habe sie dort zum Geschlechtsverkehr gezwungen.

An gesundheitlichen Beschwerden gab die Klägerin gegenüber M ein polyzystisches Ovar (PCO) an. Sie leide außerdem an einer PTBS. Sie können kein normales Leben mehr führen. Sie leide seit vielen Jahren unter Ängsten und Panikattacken, Unruhe sowie Essstörungen in Form einer Bulimie.

M kam in ihrem Gutachten zu dem Ergebnis, dass die sexuellen Übergriffe durch den Vater der Klägerin im Kern hinreichend wahrscheinlich seien. Es könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es bei der Klägerin zu einer gewissen Ausgestaltung im Erleben in Bezug auf die geschilderten multiplen sexuellen Übergriffe in ihrer Kindheit gekommen sei. Der angebliche sexuelle Übergriff durch den Liebhaber der Mutter im Jahr 1986 können nicht als Vergewaltigung gewertet werden. Die Klägerin habe insoweit zu wenig Erinnerungen. Die Angaben zu der Vergewaltigung durch den Sohn ihres Chefs im Jahr 1994 dürften im Kern stimmen. Der Busunfall in Indien im Jahr 1995 habe zu einer zusätzlichen Traumatisierung geführt, der einen Nachschaden darstelle. Frau M schlug vor, als Schädigungsfolgen eine PTBS, Ängste und eine Panikstörung im Sinne der Verschlimmerung mit einem Grad der Schädigung (GdS) von 30 anzuerkennen. Als Vorschaden bestehe eine Milieuschädigung. Eine Nachprüfung solle in drei Jahren erfolgen.

Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie K führte mit versorgungsärztlicher Stellungnahme nach Aktenlage vom 15.10.2010 aus, bei einem Beginn der schädigenden Ereignisse im Jahr 1975 könne nicht von einem Vorschaden gesprochen werden. K sprach sich für einen GdS von 40 aus.

Mit Bescheid vom 21.10.2010 erkannte das ZBFS als Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG ab dem 21.09.2009 eine PTBS, Ängste und eine Panikstörung im Sinne der Entstehung an. Der GdS betrage 40. Der Klägerin stehe deshalb ab dem 01.09.2009 eine Versorgungsrente zu. Ab dem 21.09.2009 habe sie für die anerkannten Schädigungsfolgen einen Anspruch auf Heilbehandlung. Die Klägerin habe von 1975 bis 1981 und 1994 jeweils Schädigungen im Sinne des OEG erlitten. Die vorgebrachte Gewalttat aus dem Jahr 1986 können dagegen nicht als Schädigung im Sinne des OEG anerkannt werden.

Mit Schreiben vom 29.12.2010 machte die Klägerin eine Verschlimmerung der anerkannten sowie neue Schädigungsfolgen in Form eines Bruxismus geltend.

M führte im Rahmen eines zweiten psychiatrischen Gutachtens vom 07.09.2011 aus, dass der Klägerin im Rahmen der Traumatherapie ein weiterer Missbrauch durch ihren Stiefcousin mütterlicherseits an Silvester 1985 ins Bewusstsein gekommen sei. Seitdem hätten sich die Symptome der PTBS verstärkt. Die Klägerin habe von starken Panikattacken und Flashbacks mit "Filmsequenzen" an den sexuellen Missbrauch im Dezember 2010 berichtet. M kam zu dem Ergebnis, dass es bei der Klägerin zu einer vorübergehenden psychischen Dekompensation mit Zunahme der Symptome gekommen sei. Insgesamt sei ein GdS von 40 jedoch weiterhin angemessen.

Mit Bescheid vom 14.11.2011 lehnte das ZBFS den Verschlimmerungsantrag der Klägerin vom 11.01.2011 ab. Der GdS betrage wie bisher 40. Ein kausaler Zusammenhang zwischen den Gewalttaten und dem Bruxismus könne nach derzeitigem Kenntnisstand nicht gesehen werden. In der Literatur würden andere Faktoren, nicht jedoch ein sexueller Missbrauch als Auslöser für einen Bruxismus diskutiert.

Die Klägerin legte hiergegen Widerspruch ein.

Mit Schreiben vom 27.09.2011 beantragte die Klägerin eine Kostenübernahme für die Psychotherapie bereits vor Antragstellung ab Beginn der Therapie am 10.02.2009. Mit Schreiben vom 23.11.2011 machte die Klägerin geltend, dass sie nicht schon im Jahr 1995 einen Antrag nach dem OEG habe stellen können. Sie habe die Gewalttaten, die sie erlebt habe, "psychisch eingekesselt". Sie habe jegliche Misshandlung aus der Vergangenheit verdrängt. Dies sei eine Schutzfunktion, um trotz der überwältigenden Verletzungen an diesen traumatischen Ereignissen nicht zugrunde zu gehen. Was dennoch an körperlichen Beschwerden an die Oberfläche gedrungen sei (Migräne, zeitweise Angstphasen) habe sie mit anderen Ursachen zu erklären versucht. Ihre Missbrauchserlebnisse seien ihr aufgrund der Verdrängung nicht bewusst gewesen. Erst nach ihrem psychischen Zusammenbruch mit langer Panikepisode und mit Aufbrechen der "eingekesselten" Erlebnisse seien die Taten nach und nach wieder in ihr Bewusstsein gelangt. Vor der Wiedererinnerung habe sie schon mangels Unkenntnis keine Möglichkeit gehabt, einen Entschädigungsantrag zu stellen.

Mit Schreiben vom 05.01.2012 begründete die Klägerin den Widerspruch gegen den Bescheid vom 14.11.2011 und beantragte zudem die Überprüfung der Bescheide vom 21.10.2010 und vom 14.11.2011. Als weitere Schädigungsfolgen machte die Klägerin Migräne, Tinnitus, ein PCO, ein überhöhtes Kontrollbedürfnis bei Partnerschaft und Sexualität sowie Bruxismus geltend.

Mit Schreiben vom 20.03.2012 beauftragte das ZBFS K1 mit der Beurteilung des Kausalzusammenhangs zwischen der anerkannten Schädigung und den von der Klägerin geltend gemachten Gesundheitsstörungen.

K1 hat die Klägerin am 02.05.2012 untersucht. Mit Gutachten vom 18.06.2012 führte die Sachverständige aus, dass die anerkannten Schädigungsfolgen auf psychischem Fachgebiet weiterhin bestehen würden, teilweise sei eine Besserung eingetreten. Die dissoziative Störung sei als Schädigungsfolge anzuerkennen. In Bezug auf die geltend gemachten Gesundheitsstörungen Bruxismus, Migräne und Tinnitus sei eine psychische Mitbeteiligung bei der Entstehung und Aufrechterhaltung dieser Erkrankungen anzunehmen. Das PCO sei demgegenüber eine somatisch-hormonelle Erkrankung, sodass diesbezüglich keine Anerkennung erfolgen könne. Probleme bei Partnerschaft und Sexualität seien Bestandteile der PTBS und damit bereits anerkannt. Der GdS im allgemeinen Erwerbsleben ab dem 01.09.2009 sei auch weiterhin mit 40 zu bewerten. Eine Veränderung sei nicht eingetreten.

K sprach sich mit versorgungsärztlicher Stellungnahme von 11.07.2012 für die Anerkennung der dissoziativen Störung gemischt und des Bruxismus als Schädigungsfolgen aus. Tinnitus und Migräne seien demgegenüber keine Schädigungsfolgen. Bei der Bewertung des GdS sei zu berücksichtigen, dass durch die Psychotherapie eine gewisse Stabilisierung eingetreten sei, andererseits aber weitere Schädigungsfolgen anzuerkennen seien. Vor diesem Hintergrund sei an dem bereits anerkannten GdS von 40 festzuhalten.

Mit Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheid vom 27.08.2012 erkannte das ZBFS auf den Widerspruch der Klägerin vom 24.11.2011 und den Antrag vom 05.01.2012 gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) folgende Gesundheitsstörungen als Schädigungen im Sinne des OEG ab dem 21.09.2009 an: PTBS, dissoziative Störungen gemischt, Ängste, Panikstörung, Bruxismus im Sinne der Entstehung. Überkronung der Zähne 17-24 und 26, 37-44 und 48, Verlust der Zähne 25, 45-47, implantatversorgter Zahn 47. Der GdS betrage 40. Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

Mit Schreiben vom 05.09.2012 hat die Klägerin Klage gegen den Bescheid vom 27.08.2012 zum Sozialgericht München (SG) erhoben, die unter dem Aktenzeichen S 30 VG 18/12 registriert worden ist.

Mit Bescheid vom 14.01.2013 lehnte das ZBFS den Antrag vom 23.11.2012 auf Rücknahme des Bescheides vom 21.10.2010 in Bezug auf den Anspruchsbeginn ab. Nach der Rechtsauffassung des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern komme es bei der Frage, ob ein Anspruch auf Vorverlegung des Anspruchsbeginns bestehe, im Rahmen des § 60 Abs. 1 Satz 3 des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) auf das Zutagetreten von möglichen Schädigungsfolgen an. Im Befundbericht des M-Instituts für Psychiatrie vom 20.12.1999 sei dokumentiert, dass bei der Klägerin im November 1998 erstmals eine Panikattacke aufgetreten sei. Demnach sei die Klägerin bis November 1999 unverschuldet an einer Antragstellung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG gehindert gewesen. Die Antragstellung sei aber erst am 21.09.2009 erfolgt. Eine Versorgungsgewährung vor diesem Zeitpunkt scheide somit aus.

Mit Schreiben vom 06.02.2013 legte die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 14.01.2013 ein. Die Panikattacke im November 1998 sei aufgetreten, ohne dass sie ein Bewusstsein bezüglich des Missbrauchs gehabt habe. Anderenfalls hätte sie bereits ab diesem Zeitpunkt mit einer Traumatherapie begonnen. Auch alle sonstigen Arztberichte zwischen 1999 und 2009 würden keine Missbrauchsdiagnosen enthalten. Die erstmalige Missbrauchsdiagnose in Form einer PTBS sei im Klinikum L am 22.04.2009 gestellt worden. Das Bewusstsein hinsichtlich des Missbrauchs sei erst durch eine schwere Lebenskrise, durch die Aufgabe ihrer Nebenjobs, einen geregelten Dienst und das Wohnen in einer eigenen Wohnung entstanden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 21.02.2013 wies das ZBFS den Widerspruch gegen den Bescheid vom 14.01.2013 als unbegründet zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 07.03.2013 Klage zum SG erhoben, die unter dem Aktenzeichen S 30 VG 6/13 registriert worden ist.

Im Rahmen des Klageverfahrens zum Aktenzeichen S 30 VG 18/12 hat die Klägerin ein Attest der Psychotherapeuten W vom 27.02.2013 vorgelegt. Hierin wird ausgeführt, dass bei der Klägerin während der Therapie neue Symptome aufgetreten seien in Form von Schluckbeschwerden, Atemnot, plötzlich auftretenden Rückenschmerzen und Lähmungserscheinungen an Armen und Beinen. Die therapeutische Arbeit habe zudem neue Erinnerungen hervorgebracht. Im Alter von 4 bis 6 Jahren sei die Klägerin von ihrem Vater öfter zu Hausschlachtungen auf Bauernhöfen mitgenommen worden. Dabei sei es zu sexuellen Handlungen gekommen, die von mehreren Personen und vom Vater an der Klägerin verübt worden seien. Die Klägerin habe angegeben, bei diesen Gelegenheiten auch gewürgt worden zu sein. Hieraus erklärten sich die neu aufgetretenen Symptome.

Mit Urteil vom 09.10.2014 hat das SG die Klage zum Aktenzeichen S 30 VG 18/12 abgewiesen. Die Klägerin habe weder Anspruch auf die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen noch auf die Gewährung einer Beschädigtenrente nach einem GdS von mehr als 40.

Mit Urteil ebenfalls vom 09.10.2014 hat das SG auch die Klage zum Aktenzeichen S 30 VG 6/13 abgewiesen. Fehlendes Verschulden im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG können nur angenommen werden, wenn die Verhinderung einer rechtzeitigen Antragstellung auf einem objektiven, außerhalb der eigenen Entschlusskraft liegenden Umstand beruhe. Hinsichtlich der Vermutung einer vollständigen Abspaltung und Verdrängung dramatischer Geschehnisse bis hin zu einer vollständigen Amnesie seien Psychiatrie und Aussagepsychologie heute sehr viel skeptischer als noch vor etwa zwei Jahrzehnten. Jedenfalls für Traumatisierungen nach dem Ende der Kleinkindphase werde die komplette Nichterinnerung bei traumatisierten Menschen heute kaum mehr vertreten. Eine wichtige Zäsur sei mit der Vergewaltigung 1994 gesetzt worden. Die Tat sei der Klägerin mit 22 Jahren, mithin in einem Reife- und Bewusstseinsgrad widerfahren, in dem ein lebensgeschichtliches Ereignis nicht mehr in Richtung völliger Verdrängung "abgespalten" werden könne. Ab 1994 wäre der Klägerin eine Antragstellung nach dem OEG somit möglich gewesen.

Gegen die Urteile vom 09.10.2014 hat die Klägerin am 30.12.2014 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (BayLSG) eingelegt, die unter den Aktenzeichen L 15 VG 43/14 und L 15 VG 45/14 registriert worden sind.

Der Senat hat aktuellen Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte und Therapeuten beigezogen und Beweis erhoben, indem mit Beweisanordnung vom 17.04.2019 die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie R mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt worden ist. Die Gutachterin hat die Klägerin am 11.09.2019 untersucht. Ausweislich des Gutachtens vom 25.09.2019 hat die Klägerin von Flashbacks bezüglich des sexuellen Missbrauchs berichtet, die erstmals an Silvester 2008 aufgetreten seien. Es seien Erinnerungen daran aufgekommen, wie sie als junges Mädchen auf dem Boden gelegen habe und viele Menschen um sie herumgestanden seien, die sie bespuckt und auf sie uriniert hätten. Bei den Panikattacken, die vor dem Jahreswechsel 2008/2009 aufgetreten seien, habe sie noch keine Erinnerungen an den Missbrauch gehabt. Sie habe bei dem Anfall an Silvester 2008 plötzlich geschrien: "Papa, tu mir nicht weh". Damit hätten die Erinnerungen an den Missbrauch begonnen.

Befragt von der Sachverständigen zur biografischen Anamnese hat die Klägerin erklärt, dass die Erinnerungen an den Missbrauch weit zurück reichten. Sie könne sich noch gut an ihr Kinderzimmer erinnern. Sie wisse, wie ihr Vater reingekommen sei und die Mutter gerufen habe, er solle das "Dirndl" in Ruhe lasse. Sie wisse auch, dass sie von ihrem Bett aus auf eine Aschetonne haben sehen können. Wenn ihr Vater an ihr "herumgemacht" habe, habe sie dorthin geblickt und gemeint, auf der Aschetonne sei ein Engel. Von damals kenne sie auch das Gefühl, dass ihre Arme dick würden. Sie wisse noch, wie sich ihr Vater häufig mit ihr in alkoholisiertem Zustand in seinem Zimmer eingeschlossen habe. Sie erinnere sich auch noch, wie er mit ihr in die Badewanne gestiegen sei und er an ihr mit der Quietscheente herumgespielt habe. Sie habe das Ganze einmal im Kindergarten einem Mädchen erzählt und auch einer Erzieherin. Später habe sie dann noch einmal Kontakt zu der Erzieherin gehabt, die sich an ihre Stiefmutter habe wenden wollen. Das habe sie jedoch verhindert, denn ihr Vater hätte ihrer Stiefmutter sonst sicher etwas angetan.

Zu den bei der Klägerin noch bestehenden Gesundheitsstörungen hat die Sachverständige ausgeführt, dass eine dissoziative Störung bereits 1999 im M-Institut für Psychiatrie vermutet worden sei. 1998 sei erstmals eine Panikattacke aufgetreten. Die PTBS liege derzeit nur noch in Teilsymptomen vor. R sprach sich im Ergebnis für einen Ursachenzusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und den Teilsymptomen der PTBS sowie der dissoziativen Störung im Sinne der Entstehung aus. Für die Angst- und Panikstörungen sowie für den Bruxismus stelle das schädigende Ereignis eine Mitursache dar, da hier schädigungsunabhängige Entwicklungen im weiteren Verlauf die Symptomatik aufrechterhalten hätten. Ein Vorschaden könne nicht eindeutig abgegrenzt werden. Nachschäden seien körperliche und psychische Verletzungsfolgen nach einem schweren Busunglück sowie psychoreaktive Störungsbilder infolge körperlicher Einschränkungen (PCO, Tinnitus) und mehrere schädigungsunabhängige psychosoziale Belastungsfaktoren (Trennung, Arbeitsplatz- und Wortortwechsel, anhaltender Partnerschaftskonflikt), die zu depressiven Symptomen, Verstärkung der Angst- und dissoziativen Symptomatik und vermehrtem Alkoholkonsum geführt hätten. Der GdS sei aktuell mit 20 zu bewerten.

Zu der Beweisfrage, ob der Klägerin das Trauma bereits vor 2009 bewusst gewesen sei, wies die Sachverständige darauf hin, dass die Klägerin bei der aktuellen Exploration berichtet habe, dass sie als Kind einem anderen Mädchen sowie einer Erzieherin von den Missbrauchserlebnissen erzählt habe. Als diese Personen später hätten eingreifen wollen, habe die Klägerin versucht, dies zu verhindern. In der gutachterlichen Anhörung durch Frau M vom 10.08.2010 habe die Klägerin angegeben, dass sie von niemandem ernst genommen worden sei, wenn sie jemandem von den schwierigen Verhältnissen, den Gewalttätigkeiten und dem sexuellen Missbrauch durch ihren Vater berichtet habe. Es sei somit davon auszugehen, dass der Klägerin schon als Kind und Jugendliche die Taten bewusst gewesen seien und sie durchgehend bewusste Erinnerungen an den Missbrauch gehabt habe. Es gebe keinen Grund zur Annahme, dass die Klägerin sich erst im Jahr 2009 an den Missbrauch habe erinnern können, zumal ein konkreter, retraumatisierender Auslöser 2009 nicht zu identifizieren sei.

Das ZBFS hat mit Schriftsatz vom 20.11.2019 erklärt, dass beabsichtigt sei, die der Klägerin bisher gezahlte Grundrente nach einem GdS von 40 mit Wirkung zum 31.01.2020 einzustellen. Es wurde eine Anhörungsfrist bis zum 10.12.2019 gesetzt.

Mit Bescheid vom 11.12.2019 änderte das ZBFS den Bescheid vom 14.11.2011 in der Gestalt des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheides vom 27.08.2012 mit Wirkung für die Zukunft mit Ablauf des Monats Januar 2020 ab und erkannte als Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG ab 01.02.2020 an: "Teilsymptome einer PTBS, dissoziative Störung, Bruxismus" im Sinne der Entstehung. Überkronung der Zähne 17-14 und 26, 37-44 und 48, Verlust der Zähne 25, 45-47, implantatversorgter Zahn 47, Angst- und Panikstörung im Sinne der Verschlimmerung. Der GdS betrage ab 01.02.2020 20. Damit bestehe kein rentenberechtigender GdS mehr. Ab dem 01.02.2020 habe die Klägerin für die anerkannten Schädigungsfolgen Anspruch auf Heilbehandlung. Der Bescheid werde gemäß § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Gegenstand des laufenden Berufungsverfahrens.

Mit Schreiben vom 30.12.2019 hat die Klägerin in beiden Verfahren (L 15 VG 43/14 und L 15 VG 45/14) die Sachverständigen R als befangen abgelehnt und beantragt, ein Gutachten nach § 109 SGG einzuholen. Mit Beschluss vom 23.03.2020 hat der Senat die Befangenheitsanträge verbunden und abgelehnt.

Mit Wirkung zum 01.07.2020 ist der Beklagte in das Verfahren eingetreten.

Mit Schreiben vom 08.05.2021 hat die Klägerin ein Transskript der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs vom 17.06.2020 über eine Anhörung der Klägerin vorgelegt. Hierin hat die Klägerin von sexuellem Missbrauch durch Mitglieder einer Sekte berichtet, der auch ihre Eltern angehören würden. Täter seien ihre Eltern sowie eine Tante und ein Onkel. Es sei ritualisierte und rituelle Gewalt ihr gegenüber verübt worden. Sie sei dazu gezwungen worden, an der Opferung eines Embryos oder eines Tieres teilzunehmen.

Das Gericht hat weiter Beweis erhoben, in dem H mit Beweisanordnung vom 24.06.2021 mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens nach § 109 SGG beauftragt worden ist. H hat die Klägerin am 02.03.2022, 29.03.2022, 26.04.2022 und am 06.07.2022 untersucht und sein Gutachten unter dem 22.08.2022 erstellt. Gegenüber dem Sachverständigen H hat die Klägerin erklärt, sich schemenhaft daran erinnern zu können, dass sie als kleines Kind während der Silvesterfeiern einen Säugling oder Fötus töten, Menschenfleisch essen und Blut trinken musste. Es sei auf sie onaniert und sie sei mit Kot und Urin bespritzt worden. Auch habe der Vater sie zu Schlachtungen mit auf Bauernhöfe genommen. Dort sei sie von Männern mit Kapuzen nackt auf einer Bahre an Armen und Beinen festgebunden worden.

Weiter hat die Klägerin gegenüber dem Sachverständigen H erklärt, dass ihre Stiefmutter ihr ca. 2009 berichtet habe, dass sie (die Klägerin) mit 14/15 Jahren ihr von den Missbräuchen erzählt habe. Daran habe sie sich lange nicht mehr erinnern können.

H ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die traumatisierenden Erfahrungen bei der Klägerin zunächst zu einer starken Verdrängung im Sinne einer dissoziativen Abspaltung bzw. Amnesie geführt hätten. Die frühe Extremtraumatisierung der Klägerin habe die Voraussetzungen für eine PTBS geschaffen und sich bereits als Brückensymptomatik in Form von Traumafolgenstörungen nach dem Busunglück in Indien gezeigt. Die damals aufgetretene Tetraparese sei wahrscheinlich Folge der durch den Unfall wiedererlebten Ohnmachts- und Hilflosigkeitserfahrungen. Bei der Klägerin liege vor dem Hintergrund der frühen und wiederholten extremen Traumatisierungen eine komplexe PTBS (KPTBS) vor, die neben den Merkmalen einer PTBS noch zusätzlich klinisch relevante Symptome in den Störungsbereichen Affektregulation, negatives Selbstkonzept und Probleme in der Beziehungsgestaltung zeige.

H sprach sich für einen Ursachenzusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und der KPTBS, der dissoziativen Störung, der Angst- und Panikstörung, dem schädlichen Gebrauch von Alkohol, der depressiven Störung und des Bruxismus aus. Der GdS sei für die Schädigungsfolgen zunächst mit 60 zu bewerten. Ab dem Untersuchungstag zum Gutachten von R sei der GdS mit 50 einzuschätzen. Die schädigenden Ereignisse seien der Klägerin nicht bereits als Kind bewusst gewesen. Erst sehr allmählich habe sich eine Ahnung Ende 2008/2009 ergeben, die zur Aufnahme einer Traumatherapie geführt habe, die ohne Suggestion und allein aufgrund der Erfahrung von Sicherheit der Klägerin erlaubt habe, über ihre bis dahin dissoziativ abgespaltenen Erinnerungen zu sprechen und sich mehr und mehr ihrer traumatischen Erfahrungen bewusst zu werden.

Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 19.09.2022 eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie B vom 13.09.2022 vorgelegt.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat mit Schriftsatz vom 20.02.2023 umfangreich Stellung genommen und unter anderem ausgeführt, dass H überzeugend ausgeführt habe, dass die Klägerin aufgrund der Amnesie einen Antrag nach dem OEG nicht habe früher stellen könne. Dementsprechend habe die Klägerin Anspruch auf Vorverlegung des Versorgungsbeginns.

Mit Beschluss vom 11.11.2022 hat der Senat die Verfahren zu den Aktenzeichen L 15 VG 43/14 und L 15 VG 45/14 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Die Verfahren sind unter dem Aktenzeichen L 15 VG 43/14 fortgeführt worden.

Mit Beschluss vom 22.11.2022 ist die Krankenkasse der Klägerin notwendig zum Verfahren beigeladen worden.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 07.03.2023 haben die Beteiligten den folgenden Teilvergleich geschlossen:

I. Der Beklagte erklärt sich bereit, den Bescheid vom 11.12.2019 aufzuheben.

II. Der Klägerbevollmächtigte der Klägerin nimmt mit Einverständnis der Klägerin dieses Angebot an und nimmt die Berufung im Übrigen insoweit (bezüglich des Streitgegenstands des Verfahrens L 15 VG 43/14 vor Verbindung mit dem Verfahren L 15 VG 45/14) zurück.

III. Die Klägerin behält sich vor, beim Beklagten die Anerkennung der erstmals mit Attest vom 27.02.2013 und mit dem Transkript der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs vom 17.06.2020 geltend gemachten Taten zu beantragen.

IV. Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass die Kosten einheitlich bei Abschluss des noch offenen Verfahrensteils (ursprüngliches Verfahren L 15 VG 45/14) geregelt werden.

V. Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass mit diesem Teilvergleich der Streitgegenstand des Verfahrens L 15 VG 43/14 vor der Verbindung mit dem Verfahren L 15 VG 45/14 erledigt ist.

Nach Abschluss des Teilvergleichs hat die Klägerin noch beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 09.10.2014 zum Aktenzeichen S 30 VG 6/13 aufzuheben, den Bescheid vom 14.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2013 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin für den Zeitraum vor Antragstellung rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Schädigung im Jahr 1975 Opferentschädigung für die Schäden zu gewähren, welche ihr entstanden sind (PCO, Bruxismus, Migräne, Tinnitus, Höhenangst, Angst vor geschlossenen Räumen, Beziehungsängste, Bulimie, soziale Ängste, selbstverletzendes Verhalten).

Der Beklagte hat beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Die Verwaltungsakte des ZBFS und die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung geworden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf sie ergänzend Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Streitgegenstand der Berufung ist nach Abschluss des Teilvergleichs nur noch der Bescheid vom 14.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2013, mit dem das ZBFS die Vorverlegung des Anspruchsbeginns abgelehnt hat. Hierüber hat das SG mit Urteil vom 09.10.2014 unter dem Aktenzeichen S 30 VG 6/13 entschieden (Streitgegenstand des Berufungsverfahrens L 15 VG 45/14 vor der Verbindung mit L 15 VG 43/14). Der Streitgegenstand, den das Verfahren L 15 VG 43/14 vor der Verbindung mit dem Verfahren L 15 VG 45/14 hatte, ist durch den Teilvergleich vollständig erledigt worden.

Während des Berufungsverfahrens ist ein Beklagtenwechsel kraft Gesetzes eingetreten. Nach § 4 Abs. 2 OEG in der Fassung vom 15.04.2020 ist für die Entscheidung über einen bis einschließlich 19.12.2019 gestellten und nicht bestandskräftig beschiedenen Antrag auf Leistungen nach § 1 OEG bis zum 30.06.2020 dasjenige Land zuständig und zur Gewährung der Versorgung verpflichtet, in dem die Schädigung eingetreten ist. Ab dem 01.07.2020 ist für die Entscheidung dasjenige Land zuständig und zur Gewährung der Versorgung verpflichtet, in dem die berechtigte Person ihren Wohnsitz, bei Fehlen eines Wohnsitzes ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Da die angegriffenen Bescheide des ZBFS aufgrund des noch laufenden Berufungsverfahrens noch nicht bestandskräftig geworden sind und die Klägerin ihren Wohnsitz nach Hessen verlegt hat, ist mit Wirkung ab 01.07.2020 der Beklagte passivlegitimiert. Er muss die vom ZBFS erlassenen Bescheide gegen sich wirken lassen.

Die Berufung ist bereits unzulässig. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist ein allgemein auf "Opferentschädigung" gerichteter Antrag nicht zulässig. Zwar kann im sozialgerichtlichen Verfahren die Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG auf jede nach dem materiellen Recht vorgesehene Leistung gerichtet werden. Die beanspruchte Leistung muss jedoch genau bezeichnet werden (BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R - juris Rn. 24 m.w.N.) Der Begriff "Opferentschädigung" betrifft jedoch keine bestimmte Leistung, sondern umfasst alle nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG zur Verfügung stehenden Leistungen (vgl. § 1 Abs. 1 OEG in Verbindung mit § 9 BVG). Selbst wenn nach den Umständen des Falles als "Opferentschädigung" nur Geldleistungen in Betracht kämen, kann nach der Rechtsprechung des BSG ein dann immer noch zu unbestimmter Ausspruch nicht Gegenstand eines Grundurteils nach § 130 SGG sein (BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R - juris Rn. 24 m.w.N). Aus Sicht des Senats lässt sich vorliegend auch nicht im Rahmen des § 123 SGG durch Auslegung eindeutig bestimmen, worauf der Antrag gerichtet ist. Mit Schreiben vom 27.09.2011 hatte die Klägerin beim ZBFS zunächst nur beantragt, dass die Kosten für die Psychotherapie bereits ab Beginn der Therapie am 10.02.2009 übernommen werden. Dies deutet darauf hin, dass es der Kläger nur um Vorverlegung des Anspruchsbeginns bezüglich der Heilbehandlung geht. Mit Schreiben vom 23.11.2011 hat die Klägerin beim ZBFS sodann allgemein eine Amnesie bezüglich der Missbrauchsereignisse geltend gemacht. Sie habe nicht schon im Jahr 1995 einen Antrag nach dem OEG stellen können, weil sie die Gewalttaten, die sie erlebt habe, "psychisch eingekesselt" habe. Das ZBFS hat dieses Schreiben als Antrag auf Vorverlegung des Beginns für die Versorgungsrente auf November 1998 ausgelegt, ohne dass dies ausdrücklich von der Klägerin beantragt worden ist. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin sodann generell "Opferentschädigung rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Schädigung im Jahr 1975" beantragt. Vor dem Hintergrund der im Laufe des Verfahrens gemachten unklaren Angaben sowohl in Bezug auf den Inhalt der begehrten Ansprüche als auch in Bezug auf den geltend gemachten Anspruchsbeginn ist unklar, ob es der Klägerin um die Kostenübernahme für die Heilbehandlung, eine Versorgungsrente oder sonstige Ansprüche nach dem BVG geht. Auch ist unklar, ab wann die jeweiligen Ansprüche geltend gemacht werden. Eine sachdienliche Auslegung des Antrages scheidet vor diesem Hintergrund aus. Der Antrag der Klägerin ist zu unbestimmt, was zur Unzulässigkeit der Berufung führt.

Darüber hinaus wäre die Berufung jedoch auch unbegründet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Vorverlegung des Anspruchsbeginns. Der Bescheid vom 14.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2013, mit dem der von der Klägerin gestellte Überprüfungsantrag in Bezug auf den Beginn der Versorgung abgelehnt worden ist, ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Als Anspruchsgrundlage für die von der Klägerin begehrten Leistungen für die Zeit vor dem 01.09.2009 kommt § 1 Abs. 1 OEG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 BVG in Betracht.

§ 1 Abs. 1 Satz 1 OEG bestimmt: "Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes". Im Rahmen des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist eine dreigliedrige Kausalitätskette zu prüfen. Die Gewalttat (1. Glied) muss zu einer primären Schädigung (Primärschaden, 2. Glied) geführt haben, die wiederum die Schädigungsfolgen (3. Glied) bedingt, für die eine Entschädigung geltend gemacht wird. Alle drei Glieder der Kausalitätskette müssen nach der Rechtsprechung des BSG im sogenannten Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein. Für den Kausalzusammenhang zwischen den drei Gliedern genügt demgegenüber der Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 3/13 R - juris Rn. 14 ff.; BSG, Urteil vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - juris Rn. 16; BSG, Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R - juris Rn. 14 ff.).
Das ZBFS hat mit Bescheid vom 21.10.2010 anerkannt, dass die Klägerin Opfer von Gewalttaten geworden ist. Mit Bescheid vom 21.10.2010 und mit Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheid vom 27.08.2012 sind folgende Gesundheitsstörungen der Klägerin als Schädigungsfolgen anerkannt worden: PTBS, dissoziative Störungen gemischt, Ängste, Panikstörung, Bruxismus im Sinne der Entstehung. Überkronung der Zähne 17-24 und 26, 37-44 und 48, Verlust der Zähne 25, 45-47, implantatversorgter Zahn 47. Im Übrigen wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen.

Sofern die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erstmals eine Vorverlegung des Anspruchsbeginns auch für die Gesundheitsstörungen PCO, Migräne, Tinnitus, Höhenangst, Angst vor geschlossenen Räumen, Beziehungsängsten, Bulimie, soziale Ängste und selbstverletzendes Verhalten beantragt hat, kann die Berufung schon deshalb keinen Erfolg haben, weil der Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheid vom 27.08.2012 mit Abschluss des Teilvergleichs bestandskräftig geworden ist. Mit diesem Bescheid ist die Anerkennung von weiteren Schädigungsfolgen über die anerkannten Gesundheitsschäden hinaus abgelehnt worden. Dementsprechend kann sich der Anspruch auf Vorverlegung des Anspruchsbeginns auch nur auf die bereits anerkannten Schädigungsfolgen beziehen. Hierzu gehören die Gesundheitsstörungen PCO, Migräne, Tinnitus, Höhenangst, Angst vor geschlossenen Räumen, Beziehungsängsten, Bulimie, soziale Ängste und selbstverletzendes Verhalten jedoch gerade nicht. Hinsichtlich der Gesundheitsstörungen Bulimie, soziale Ängste und selbstverletzendes Verhalten hat die Klägerin zudem zu keinem Zeitpunkt eine Anerkennung beim ZBFS bzw. dem Beklagten beantragt, so dass es insofern auch an einem zugrundeliegenden Verwaltungsverfahren fehlt. Gleiches gilt in Bezug auf die von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung erstmals geltend gemachten Höhenangst und die Angst vor geschlossenen Räumen - soweit diese nicht Bestandteil der anerkannten Angst- und Panikstörung sind.

Darüber hinaus scheitert der Anspruch auch daran, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 BVG nicht vorliegen.

§ 60 Abs. 1 BVG bestimmt: "Die Beschädigtenversorgung beginnt mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Die Versorgung ist auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. War der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, so verlängert sich diese Frist um den Zeitraum der Verhinderung".

Der Begriff der "Schädigung" im Sinne des § 60 Abs. 1 BVG knüpft unmittelbar an die Formulierung in § 1 BVG an, die auch in § 1 Abs. 1 OEG verwendet wird. Bei Heranziehung der in beiden Vorschriften grundsätzlich identisch geregelten dreigliedrigen Kausalitätskette ist mit dem Begriff "Schädigung" in § 60 Abs. 1 BVG der sog. Primärschaden (2. Glied) gemeint, der in der Regel zeitlich eng mit dem Angriff verbunden ist (Rademacker in: Knickrehm, Gesamtes soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, OEG § 1 Rn. 90). Im Fall der Klägerin bezieht sich der Begriff "Schädigung" im Sinne des § 60 Abs. 1 BVG somit auf die durch den sexuellen Missbrauch zeitlich unmittelbar eingetretenen körperlichen und psychischen Verletzungen, die die Klägerin bereits in den Jahren 1975 bis 1981 und 1994 erlitten hat und die Grundlage für die späteren Schädigungsfolgen (PTBS, dissoziative Störungen gemischt, Ängste, Panikstörung und Bruxismus) sind, die sich erst auf dem Boden der Primärschädigung entwickelt haben.

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnen auch bei Opfern von Gewalttaten die Leistungen der Beschädigtenversorgung im Grundsatz mit dem Antragsmonat, wenn die sonstigen materiell-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Ausnahmsweise eröffnet § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG eine Rückwirkung, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. Diese Jahresfrist wird nach § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG wiederum um den Zeitraum verlängert, in dem eine unverschuldete Verhinderung der Antragstellung vorlag. Ihrer Wirkung nach ermöglicht die (verlängerte) Jahresfrist eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand bei Eintritt der Schädigung (BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a VG 1/07 R - juris Rn. 19). In der Gesetzesbegründung zu § 60 Abs. 1 BVG wird ausgeführt, dass durch die Vorschrift Beschädigten allgemein ein Jahr Zeit gegeben werden soll, um den Anspruch auf soziale Entschädigung nach Eintritt der Schädigung ohne Nachteile hinsichtlich des Leistungsbeginns erstmals geltend zu machen. Dies trage insbesondere den Belangen von Impfgeschädigten und Opfern von Gewalttaten Rechnung. Die Überlegungsfrist verlängere sich um Zeiten, in denen der Beschädigte ohne Verschulden an der Geltendmachung des Versorgungsanspruchs gehindert gewesen sei (BT-Drucksache 8/1735 S. 19 zu Nr. 37).

Die Vorverlegung des Anspruchsbeginns scheitert vorliegend daran, dass die Klägerin nur bis zum 01.09.1987 unverschuldet im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG an einer Antragstellung gehindert war. Die Jahresfrist des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG, die nach der Konzeption des § 60 Abs. 1 BVG im Anschluss an den Zeitraum der unverschuldeten Verhinderung zu laufen beginnt, hat somit am 02.09.1987 begonnen und am 01.09.1988 geendet, vgl. § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in Verbindung mit § 188 Abs. 2 BGB. Die Klägerin hat einen Antrag auf Opferentschädigung jedoch erst am 21.09.2009 und damit mehr als 30 Jahre nach Ablauf der Frist gestellt. Eine Vorverlegung des Anspruchsbeginns kommt damit nicht in Betracht.

Vor dem 02.09.1987 hatte die Klägerin das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet und war somit noch nicht sozialrechtlich handlungsfähig im Sinne des § 36 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I). Sie selbst konnte vor dem 02.09.1087 keine rechtswirksamen Willenserklärungen abgeben und folglich auch keinen Antrag nach dem OEG stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a VG 1/07 R - juris Rn. 27).

Die Klägerin muss sich bis zum 01.09.1987 auch kein Verschulden ihrer gesetzlichen Vertreter zurechnen lassen. Zwar muss sich ein sozialrechtlich nicht handlungsfähiger Kläger nach der Rechtsprechung des BSG in entsprechender Anwendung der in § 27 Abs. 1 Satz 2 SGB X getroffenen Regelung und der von der Rechtsprechung zu § 67 Abs. 1 SGG entwickelten Grundsätzen ein Verschulden seiner gesetzlichen Vertreter grundsätzlich zurechnen lassen (vgl. BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a VG 1/07 R - juris Rn. 21 ff.; BSG, Urteil vom 16.03.2016 - B 9 V 6/15 R - juris Rn. 19). Allerdings hat das BSG auch entschieden, dass eine Zurechnung von Verschulden u.a. in Fälle ausscheidet, in denen der gesetzliche Vertreter entweder zugleich der - bisher unentdeckte - Täter war oder er im Falle des Offenbarwerdens mit einem empfindlichen Ansehensverlust und einer Kriminalstrafe eines Angehörigen zu rechnen hat (BSG, Urteil vom 16.03.2016 - B 9 V 6/15 R - juris Rn. 23).

Die erste der beiden genannten Fallgruppen trifft unproblematisch auf den Vater der Klägerin als Täter des sexuellen Missbrauchs zu. Da die Klägerin erklärt hat, dass ihre Mutter - jedenfalls an den Silvesterfeiern - selbst an dem Missbrauch beteiligt war, scheidet aus Sicht des Senats im gesamten Zeitraum bis zum 01.09.1987 jedoch auch eine Zurechnung des Verschuldens ihrer Mutter aus nach Maßgabe der ersten Fallgruppe aus. Es kann daher dahinstehen, ob in Bezug auf die Mutter ein Wegfall der Zurechnung von Verschulden nach Maßgabe der zweiten genannten Fallgruppe (Nachteile für einen Angehörigen) ebenfalls durchgehend oder nur bis zu dem Zeitpunkt bestand, zu dem sich die Mutter von Vater der Kläger getrennt hat, d.h. bis zum dem Jahr 1981.

Ab dem 02.09.1987, d.h. mit Eintritt ihrer sozialrechtlichen Handlungsfähigkeit war die Klägerin zur Überzeugung des Senats nicht mehr unverschuldet an einer Antragstellung gehindert.

Nach der Rechtsprechung des BSG liegt ein Verschulden nur dann nicht vor, wenn der sozialrechtliche Handlungsfähige die nach den Umständen des Falles zu erwartende Sorgfalt beachtet hat. Grundsätzlich gilt insoweit ein subjektiver Maßstab. Es sind insbesondere der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäftsgewandtheit zu berücksichtigen. Allein eine Rechtsunkenntnis schließt ein Verschulden jedoch nicht aus (vgl. BSG Urteil vom 30.09.2009 - B 9 VG 3/08 R - juris Rn. 30)

Die Klägerin kann somit nicht geltend machen, dass sie als 15-Jährige noch keine Kenntnis davon hatte, dass sie einen Antrag nach dem OEG stellen kann.

Auch kann sich die Klägerin nicht darauf berufen, dass sie sich aufgrund einer dissoziativen Amnesie erst im Jahr 2009 wieder an den sexuellen Missbrauch in den Jahren 1975 bis 1981 habe erinnern können. Der Senat konnte sich nicht davon überzeugend, dass bei der Klägerin die geltend gemachte Amnesie tatsächlich vorgelegen hat. Der Senat stützt sich insoweit auf das in sich schlüssige Gutachten der Sachverständigen R. Die Sachverständige kam hier überzeugend zu dem Schluss, dass der Klägerin - auf Basis ihrer eigenen Angaben - der sexuelle Missbrauch durchgehend seit dem Kindesalter an bewusst gewesen ist.

Als Beleg hierfür führt R die von der Klägerin gegenüber der Sachverständigen gemachten Angaben an, nach denen die Klägerin bereits als junges Mädchen einem anderen Kind und einer Erzieherin von den Missbräuchen erzählt, sie später jedoch interveniert habe, als die Erzieherin habe einschreiten wollen. Auch gegenüber der Gutachterin M hat die Klägerin ausweislich des Gutachtens vom 18.08.2010 erklärt, sie habe sowohl im Kindergarten als auch in der Schule von den schwierigen Verhältnissen und den Gewalttätigkeiten berichtet. Sie habe auch den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater angesprochen, sei aber nicht ernst genommen worden, da der Vater aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit eine angesehene Person gewesen sei. Diese Angaben decken sich weitgehend mit den Angaben, die die Klägerin gegenüber R gemacht hat, und sind für den Senat ein eindeutiger Beleg, dass der Klägerin als Kind sowohl der Missbrauch als auch die in zeitlichem Zusammenhang hiermit bewirkte Primärschädigung bewusst gewesen sind. Anderenfalls hätte sie dritten Personen hiervon nicht berichten können.

Dafür, dass die Klägerin als Kind bewusste Kenntnis von der Schädigung hatte, spricht für den Senat weiter, dass die Klägerin ausweislich des Gutachtens von M vom 18.08.2010 erklärt hat, dass sie ihrer Mutter gegenüber den Missbrauch seinerzeit angedeutet habe. Diese habe sie jedoch mit den Worten "du spinnst" abgetan. Andeutungen gegenüber der Mutter setzen ebenfalls ein Bewusstsein der Schädigung bei der Klägerin voraus. Hierfür spricht auch, dass die Klägerin in ihrem Antrag vom 21.09.2009 - und damit bevor der Anspruchsbeginn mit Bescheid vom 21.10.2010 auf den Antragsmonat festgelegt worden ist - als Beweismittel ausdrücklich "meine damalige Mitteilung an meine Mutter" genannt hat. Auch gegenüber dem ZBFS hat die Klägerin somit zunächst behauptet, den Missbrauch ihrer Mutter gegenüber bereits als Kind erwähnt zu haben. Eine dissoziative Amnesie hat die Klägerin erstmals mit Schreiben vom 23.11.2011 geltend gemacht, d.h. zu einem Zeitpunkt, zu dem Leistungen für die Vergangenheit mit Bescheid von 21.10.2010 nicht bewilligt worden sind.

Vor dem Hintergrund der ähnlichen Angaben gegenüber R, M und dem ZBFS hat der Senat keinen Zweifel daran, dass die Klägerin im Zeitraum der Schädigung in den Jahren 1975 bis 1981 bewusste Kenntnis hiervon hatte.

Für den Senat überzeugend hat die Sachverständige R hieraus den Schluss gezogen, dass es ausgehend von der Annahme einer bewussten Kenntnis der Schädigung im Kindesalter keinen vernünftigen Grund für die Annahme gebe, die Klägerin habe die Erinnerungen an die Schädigung später im Sinne einer dissoziativen Amnesie verdrängt und sich erst 2009 wieder daran erinnert.

Gegen die Behauptung einer späteren Verdrängung spricht für den Senat, dass nach dem Ende des Missbrauchs 1981 bis zum Eintritt der sozialrechtlichen Handlungsfähigkeit der Klägerin am 02.09.1987 keine relevante Retraumatisierung mehr stattgefunden hat. Es ist auch nicht ersichtlich, dass es 2009 einen retraumatisierenden Auslöser gab, der eine bestehende Amnesie aufgelöst haben könnte. Die Behauptung einer bestehenden dissoziativen Amnesie wird durch den eigenen Vortrag der Klägerin widerlegt. Mit der Sachverständigen R geht der Senat daher davon aus, dass der Klägerin die Schädigung durchgehend bewusst gewesen ist.

Die entgegenstehenden Ausführungen des Gutachters H überzeugen den Senat nicht. H hat in seinem Gutachten behauptet, dass der Klägerin die schädigenden Ereignisse nicht bereits als Kind bewusst gewesen seien. Erst sehr allmählich habe sich eine Ahnung Ende 2008/2009 ergeben, die zur Aufnahme einer Traumatherapie geführt habe, die ohne Suggestion und allein aufgrund der Erfahrung von Sicherheit der Klägerin erlaubt habe, über ihre bis dahin dissoziativ abgespaltenen Erinnerungen zu sprechen und sich mehr und mehr ihrer traumatischen Erfahrungen bewusst zu werden. Eine konkrete Begründung hierfür hat der Sachverständige zu keinem Zeitpunkt gegeben. Er hat sich insbesondere nicht damit auseinandergesetzt, wie diese Schlussfolgerung zu den Aussagen der Klägerin passen, die sie selbst gegenüber H gemacht hat. Danach hat die Klägerin gegenüber H berichtet, dass ihre Stiefmutter ihr ca. 2009 erzählt habe, dass sie "(Frau A)" mit 14/15 Jahren ihr von den Missbräuchen erzählt habe. Daran habe sich die Klägerin lange nicht mehr erinnern können. Diese Aussagen bestätigen für den Senat zusätzlich, dass die Klägerin mit 14/15 Jahren - und damit in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem Eintritt der sozialrechtlichen Handlungsfähigkeit mit Vollendung des 15. Lebensjahres - positive Kenntnis von der Schädigung hatte. Anderenfalls hätte sie ihrer Stiefmutter nicht davon berichten können. Zu dem Zeitpunkt, zu dem die Klägerin - nach ihren eigenen Angaben - ihrer Stiefmutter von dem Missbrauch berichtet hat, lag der Missbrauch bereits mindestens 5 Jahre zurück. Dass es nach diesem Zeitraum, dann noch zu der von H diagnostizierten starken Verdrängung im Sinne einer dissoziativen Abspaltung bzw. Amnesie gekommen sein soll, ist für den Senat - ohne eine entsprechende Begründung durch den Sachverständigen - nicht überzeugend.

Es ist für den Senat nachvollziehbar und verständlich, dass sich die Klägerin möglicherweise aus Gründen des Selbstschutzes nicht weiter gedanklich mit dem erlebten Missbrauch auseinandersetzten wollte und versucht haben mag, den Missbrauch "zu vergessen". Ein Vergessenwollen ist mit einer nicht willentlich steuerbaren Amnesie jedoch nicht vergleichbar und stellt keine unverschuldete Verhinderung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG dar. Eine Verhinderung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG liegt nur bei Umständen vor, die von dem Beschädigten nicht beeinflusst werden können (Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 10.05.2001 - L 3 VJ 30/00 - juris Rn. 27). Dies ist bei dem Versuch, einen Missbrauch zu vergessen, jedoch nicht der Fall.

Eine unverschuldete Verhinderung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG liegt auch nicht deshalb vor, weil die Schädigungsfolgen erst zeitlich verzögert aufgetreten sind und sich insbesondere die Symptome der Angst- und Panikstörung sowie der PTBS erst nach 1998 gezeigt haben. Die vom ZBFS offensichtlich im Bescheid von 14.01.2013 vertretene Rechtsauffassung, nach der von einer unverschuldeten Verhinderung an der Antragstellung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG so lange auszugehen sei, bis die Schädigungsfolgen aufgetreten sind, vermögen vor dem Hintergrund des eindeutigen an den Begriff der Schädigung anknüpfenden Wortlauts des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG nicht zu überzeugen. Eine entsprechende Rechtsauffassung lässt sich auch nicht der vom ZBFS zitierten Entscheidung des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern entnehmen. Dort wird vielmehr ausgeführt, dass die Unkenntnis des eingetretenen Schadens ein Verschulden im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG nicht ausschließe (Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 10. Mai 2001 - L 3 VJ 30/00 - juris Rn. 29). Weiter hat das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern in der genannten Entscheidung ausdrücklich entschieden, dass eine Erweiterung des als Ausnahmetatbestand grundsätzlich eng auszulegenden Art. 60 Abs. 1 Satz 3 BVG auf Fälle, in denen der Betroffene um die Möglichkeit einer Leistungsgewährung bzw. eines Schädigungstatbestandes vor der Antragstellung nicht gewusst hat, mit dem Antragsprinzip nicht vereinbar sei und die Möglichkeit der Gewährung von Versorgungsleistungen in einem (rückwirkenden) Ausmaß erweitern würde, wie es vom Gesetzgeber nicht vorgesehen sei (Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 10. Mai 2001 - L 3 VJ 30/00 - juris Rn. 30).

In Bezug auf die vom ZBFS anerkannte Vergewaltigung im Jahr 1994 hat die Klägerin selbst zu keinem Zeitpunkt ausdrücklich eine dissoziative Amnesie geltend gemacht. Eine solche lag aus Sicht des Senats auch schon deshalb nicht vor, weil selbst nach den Ausführungen des Sachverständigen H dieses Ereignis für die Klägerin nicht schwer traumatisierend war. In Bezug auf dieses Ereignis ist somit ebenfalls keine unverschuldete Verhinderung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG anzunehmen, so dass die Jahresfrist des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG für diese Gewalttat spätestens am 31.12.1995 geendet hat. Auch insofern liegt der Antrag vom 21.09.2009 außerhalb der Frist.

Es kommt auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 SGB X in die Jahresfristen des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG, die am 01.09.1988 bzw. am 31.12.1995 abgelaufen sind, in Betracht. Eine solche Wiedereinsetzung scheitert bereits daran, dass der Antrag vom 21.09.2009 auch außerhalb der jeweilige Jahresfrist des § 27 Abs. 3 SGB X gestellt wurde und eine Verhinderung infolge höherer Gewalt nicht ersichtlich ist. Höhere Gewalt setzt bestimmungsgemäß ein außergewöhnliches Ereignis voraussetzt, dessen Eintritt nicht vorauszusehen und auch bei äußerster Sorgfalt nicht mit üblichen Mitteln abzuwenden ist (BSG, Urteil vom 10.12.2003 - B 9 VJ 2/02 R - juris Rn. 28). Ein solches Ereignis ist hier nicht ersichtlich. Die geltend gemachte dissoziative Amnesie kann schon deshalb nicht als höhere Gewalt angesehen werden, weil diese nicht nachgewiesen ist.

Da die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Sätze 2 und 3 BVG nicht erfüllt sind, scheidet eine Vorverlegung des Anspruchsbeginns aus. Die Klägerin hat ausgehend von dem Antragseingang am 21.09.2009 somit gem. § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG für die monatsweise bewilligte Rentenleistung einen Anspruch ab dem 01.09.2009. Für die nicht monatsweise zuzuerkennende Leistung der Heilbehandlung steht ihr ein Anspruch ab dem Tag zu, an dem die Bedingungen für die Gewährung erfüllt sind (Fehl, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl. § 60 Rn. 1). Das ist der Tag der Antragstellung am 21.09.2009. Dem hat das ZBFS mit den Bescheiden vom 21.10.2010 und vom 27.08.2012 entsprochen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt das im Teilvergleich zum Ausdruck kommende, in etwa hälftige Obsiegen der Klägerin in Bezug auf den Streitgegenstand des Verfahrens L 15 VG 43/14 vor der Verbindung und das vollständige Unterliegen in Bezug auf das Verfahren, das vor der Verbindung unter dem Aktenzeichen L 15 VG 45/14 geführt wurde.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, vgl. § 160 Abs. 2 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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