L 8 R 329/23

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 37 R 109/22
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 R 329/23
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 52/24 B NZB
Datum
Kategorie
Beschluss

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 15.02.2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die (Weiter-)Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung nach den Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI).

Die 1977 in Bulgarien geborene Klägerin verfügt über keine Berufsausbildung und übte verschiedene Hilfsarbeitertätigkeiten aus. Sie erhält Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 2 und Eingliederungshilfe im Rahmen ambulant betreuten Wohnens (ABeWo).

Nachdem die Beklagte ihr für den Zeitraum von Januar 2019 bis Januar 2021 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt hatte, stellte die Klägerin im November 2020 unter Verweis auf eine Verschlechterung ihrer psychischen Störung (Depressionen und Ängste) einen Weiterzahlungsantrag. Die Beklagte holte einen Befundbericht des praktischen Arztes P. vom 18.12.2020 ein, zog das Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit des MDK I. aus Dezember 2020 bei und ließ die Klägerin anschließend zur Feststellung ihres Leistungsvermögens von der Ärztin für Allgemein- und Sozialmedizin U. begutachten. Diese führte unter der Diagnose chronischer Lumboischalgien aus, die psychische Situation sei – bis auf eine demonstrierte Vergesslichkeit – ohne Relevanz. Bei der körperlichen Untersuchung hätten deutliche Aggravationstendenzen und Inkongruenzen bestanden. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit lasse sich nicht feststellen (Gutachten vom 22.02.2021).

Darauf gestützt lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 24.02.2021 ab.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin unter Vorlage eines ärztlichen Attestes der behandelnden Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie F. und eines Schreibens der Betreuerin im Rahmen des ABeWo mit einer schweren chronischen Depression, Angstzuständen, Somatisierungsstörungen und Rückenschmerzen. Im Gutachten sei auf ihren psychischen Zustand kaum eingegangen worden.

Nach Eingang eines Befundberichtes der behandelnden Psychiaterin veranlasste die Beklagte eine fachpsychiatrische sowie eine fachorthopädische Begutachtung. Die Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Z. diagnostizierte eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, Angststörungen mit Panikattacken, einen Zustand nach Lendenwirbelsäulenoperation 2016 mit lumboischialgieformen Beschwerden ohne akute Wurzelreizsymptomatik sowie eine einfache Migräne. Die Klägerin könne mit näher beschriebenen qualitativen Einschränkungen noch sechs Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit nachgehen (Gutachten vom 02.08.2021). Der Facharzt für Orthopädie L. diagnostizierte einen chronischen lumbalen Rückenschmerz bei Zustand nach Nukleotomie 2016 sowie einen chronischen Schulter-Nackenschmerz. Die Klägerin könne noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in wechselnden Körperhaltungen sechs Stunden und mehr ausüben (Gutachten vom 22.09.2021).

Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 06.01.2022 zurück. Die medizinischen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente seien unter Berücksichtigung der eingeholten Sachverständigengutachten nicht gegeben.

Hiergegen hat die Klägerin am 31.01.2022 Klage vor dem Sozialgericht Köln (SG) erhoben. Ihre psychischen Erkrankungen seien in keiner Weise ausreichend berücksichtigt worden. Es werde diesbezüglich insbesondere auf das Attest der Psychiaterin F. vom 26.05.2021 verwiesen. Zudem müsste berücksichtigt werden, dass sie seit Jahren ambulant betreutes Wohnen in Anspruch nehme und bei ihr ein Pflegegrad 2 festgestellt worden sei.

Das SG hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte P. und F. sowie des Orthopäden S. sowie anschließend ein Sachverständigengutachten des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie X. vom 01.12.2022 mit Zusatzgutachten des Facharztes für Orthopädie Y. vom 21.09.2022 eingeholt. Y. hat sowohl die Befunde des L. als auch dessen Leistungseinschätzung bestätigt. Die Klägerin könne leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig ausführen. X. hat bei der Klägerin eine leichtgradige depressive Episode und eine einfache Migräne diagnostiziert. Anamnestisch bestünden Hinweise auf ein Restless legs-Syndrom. Es ergebe sich eine leichte Reduktion der Stressresistenz und Belastbarkeit, sodass die Klägerin unter leichten Einschränkung des Konzentrations- und Umstellungsvermögens leide. Sie könne jedoch noch leichte bis zeitweise mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung unter Vermeidung häufigen Publikumsverkehrs verrichten. Während der Untersuchung seien bei der Klägerin deutliche Aggravationstendenzen zu erkennen gewesen. Die Diagnosen und Leistungseinschätzung von Frau F. könnten nach deren Dokumentationen und Medikation sowie einer fehlenden Berücksichtigung der Aggravationstendenzen nicht nachvollzogen werden.

Die Klägerin hat auch in Kenntnis der Gutachten an ihrem Begehren festgehalten und beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24.02.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.01.2022 zu verurteilen, ihr über den 31.01.2021 hinaus eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

                        die Klage abzuweisen.

Das SG hat die Klage nach informatorischer Befragung der ABeWo-Betreuerin der Klägerin Schulz mit Urteil vom 15.02.2023 abgewiesen. Der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig, eine Erwerbsminderung der Klägerin über den Januar 2021 hinaus nicht nachzuweisen. Die Kammer folge den Gutachten der Y. und X., die ihre Diagnosen schlüssig und unter Berücksichtigung der zuvor erhobenen ärztlichen Befunde und eingeholten Gutachten dargelegt und begründet hätten. Für eine schwere Depression lägen keine Anhaltspunkte vor. Die Sachverständigen hätten ebenso nachvollziehbar und überzeugend dargestellt, dass die Klägerin mit den aus ihren Erkrankungen folgenden Beeinträchtigungen noch in der Lage sei, vollschichtig leichte und zeitweise mittelschwere Tätigkeiten unter Berücksichtigung dargelegter qualitativer Einschränkungen auszuüben. Auch der Umstand, dass die Klägerin Leistungen des ABeWO erhalte und einmal täglich eine hauswirtschaftliche Versorgung durch die Pflegeklasse gewährt werde, stehe der Leistungseinschätzung nicht entgegen. Die ABeWo-Betreuerin suche die Klägerin in der Regel lediglich einmal wöchentlich für 2-3 Stunden auf, um mit ihr organisatorische bzw. behördliche Angelegenheiten zu besprechen und wahrzunehmen. Im Hinblick auf die Leistungen der Pflegekasse sei zu bedenken, dass die dortige Begutachtung auf einer lediglich telefonischen Anamneseerhebung beruht habe. Auf Aggravationstendenzen bzw. widersprüchliche Aussagen der Klägerin, wie sie insbesondere der Sachverständige X. beschreibe, sei nicht geachtet worden. Ein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI scheide im Hinblick auf das Geburtsjahr der Klägerin 1977 aus.

Gegen das ihr am 10.03.2023 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 06.04.2023 Berufung eingelegt und eine weitere fachärztliche Stellungnahme der behandelnden Psychiaterin F. vorgelegt. Zur Begründung ihrer Berufung führt die Klägerin aus, das SG vermische die Ergebnisse des orthopädischen und des psychiatrischen Gutachtens undifferenziert. Ihr Betreuungsbedarf im Rahmen der Alltagsbewältigung werde nicht adäquat berücksichtigt. Aus dem vorgelegten Attest werde erkennbar, dass die durch ihre verbale Introvertiertheit geprägten gutachterlichen Untersuchungsergebnisse lediglich eine Momentaufnahme darstellten.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 15.02.2023 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.01.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.12.2021 zu verurteilen, ihr Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

                        die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin ist mit gerichtlichem Schreiben vom 13.11.2023 darauf hingewiesen worden, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg biete und beabsichtigt sei, diese gem. § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückzuweisen. Sie hat mitgeteilt, die Klage nicht zurückzunehmen. Ihrer Auffassung nach seien weitere Ermittlungen und (sodann) auch eine mündliche Verhandlung erforderlich.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der Beratung des Senats gewiesen ist.

II.

Die zulässige Berufung der Klägerin wird durch Beschluss gem. § 153 Abs. 4 S. 1 SGG zurückgewiesen. Zur Möglichkeit einer solchen Entscheidung sind die Beteiligten durch den erkennenden Senat mit Schreiben vom 13.11.2023 angehört worden (§ 153 Abs. 4 S. 2 SGG).

Gem. § 153 Abs. 4 S. 1 SGG kann der Senat die Berufung außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 S. 1 SGG zurückweisen, wenn er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Diese Voraussetzungen liegen vor.

Im Klageverfahren hat das SG nach mündlicher Verhandlung entschieden. Die Berufung ist nach einstimmiger Auffassung des Senats nicht begründet. Eine weitere mündliche Verhandlung wird nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens nicht für erforderlich gehalten. Der Sachverhalt ist umfassend ermittelt, eine ergänzende Sachverhaltsaufklärung nicht mehr erforderlich. Das erstmalige Vorbringen noch nicht vorgetragener Tatsachen oder rechtlicher Gesichtspunkte in einem Verhandlungstermin ist nicht zu erwarten. Schließlich ist ein weiteres Vorbringen der Klägerin nicht angekündigt worden. Auf das Anhörungsschreiben des Gerichts hat sie lediglich ihre vorigen Argumente wiederholt. Andere Aspekte, die die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens notwendig erscheinen lassen, sind nicht erkennbar.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 28.01.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.12.2021 ist nicht rechtswidrig, so dass die Klägerin nicht im Sinne von § 54 Abs. 1 S. 1 SGG beschwert ist. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung nach dem SGB VI.

Gemäß § 43 Abs. 1 S. 1 bzw. Abs. 2 S. 1 SGB VI haben Versicherte bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 43 Abs. 1 und Abs. 2, je Nr. 2 und 3 SGB VI) bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind bzw. Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI) und voll erwerbsgemindert – neben weiteren, hier nicht gegebenen besonderen Voraussetzungen – Versicherte, denen dies nicht mindestens drei Stunden täglich möglich ist (§ 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist hingegen nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen des § 43 SGB VI müssen im Vollbeweis, d.h. mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, feststehen (vgl. z.B. Senatsurt. v. 04.05.2022 – L 8 R 945/12 ZVW – juris Rn. 35 m.w.N.).

 

Diese Voraussetzungen eines Rentenanspruchs wegen Erwerbsminderung liegen nicht vor. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat zunächst auf die zutreffende Würdigung durch das SG im Urteil vom 15.02.2023 Bezug und macht sich diese nach Prüfung zu eigen (§ 153 Abs. 2 SGG).

 

Das Berufungsvorbringen rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und gibt keinen Anlass zu weiteren Ermittlungen. Die knappe Berufungsbegründung vom 05.06.2023 setzt sich mit dem erstinstanzlichen Beweisergebnis und der Urteilsbegründung des SG nicht hinreichend auseinander.

 

Die Behauptung der Klägerin, sie sei neben ihren orthopädischen Beschwerden insbesondere aufgrund ihrer psychischen Beschwerden nicht in der Lage, drei Stunden und mehr zu arbeiten, findet weder in den im Verwaltungsverfahren noch in den vom SG eingeholten Gutachten eine Stütze. Dass und aus welchen Gründen die Inanspruchnahme von Eingliederungsleistungen des ABeWo sowie von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 2 nicht zu einer anderen Beurteilung führt, hat das SG überzeugend dargestellt. Soweit es in dem Zusammenhang angeführt hat, die seitens der Klägerin behaupteten Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwierigkeiten seien nicht feststellbar, steht dies im Einklang mit den differenzierten Feststellungen des Sachverständigen X. in dessen Gutachten vom 01.12.2022. Der psychiatrische Sachverständige hat dargelegt, dass die Klägerin die Aufmerksamkeit und Konzentrationsleistung über den gesamten Zeitraum der Untersuchung (etwa 135 Minuten) habe aufrechterhalten können. Müde oder erschöpft habe sie nicht gewirkt. Weder das Kurzzeit- noch das Langzeitgedächtnis seien auffällig gewesen. Der Einwand der Klägerin, ihr Rapport sei in sachlichen und emotionalen Dingen nach den (weiteren) gutachterlichen Ausführungen nur knapp befriedigend gewesen, lässt – entgegen ihrer Auffassung – den Schluss einer mangelnden körperlichen und insbesondere kognitiven Ausdauer daher nicht zu. Vielmehr steht die Notwendigkeit häufiger Nachfragen des Sachverständigen im Einklang mit einer unzureichenden Mitarbeit der Klägerin in den Kurztests, die im Kontext der durch X. erkannten und anhand weiterer Umstände überzeugend begründeten bewussten Beschwerdeverdeutlichung steht, die bereits die Sozialmedizinerin U. beschrieben hatte.

Auch die mit Schriftsatz vom 08.09.2023 vorgelegte fachärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie F. vom 06.09.2023 vermag das seitens des SG nach umfassenden Ermittlungen überzeugend gewürdigte Beweisergebnis nicht in Zweifel zu ziehen. Die Stellungnahme der behandelnden Psychiaterin weicht nicht wesentlich von ihren vorhergehenden Berichten ab. So hatte sie auch bereits in ihrem durch das SG eingeholten Befundbericht vom 02.06.2022 – ebenfalls ohne nähere zeitliche Differenzierungen – neben einer Somatisierungsstörung (F 45.0) sowie einer Angst und depressiven Störung, gemischt (F 41.2) insbesondere die Diagnose einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome (F 32.2) mitgeteilt und war – ohne nähere Erläuterung – zu der Einschätzung gelangt, die Klägerin sei nicht in der Lage, sechs Stunden leichte Tätigkeiten zu verrichten. Der psychiatrische Sachverständige X. konnte dem weder diagnostisch noch in der sozialmedizinischen Einschätzung folgen. Er hat überzeugend die mangelnde Validierbarkeit der Beurteilungen der behandelnden Psychiaterin moniert. Seit 2018 fänden sich nur handschriftliche Dokumentationen über weniger als zehn Termine. Der Schweregrad der Diagnosen sei mit der Behandlungsintensität nicht in Einklang zu bringen und die niedrigdosierte Medikation im gesamten Zeitraum unverändert geblieben. Hinweise auf eine Somatisierung oder krankheitswertige Angstsymptomatik habe er nicht explorieren können. Außerdem berücksichtige die behandelnde Ärztin die Hinweise auf Aggravationstendenzen nicht.

Der Senat misst dem Urteil der gerichtlichen Sachverständigen in freier Beweiswürdigung (§ 128 SGG) einen höheren Beweiswert zu als den Bescheinigungen der behandelnden Ärztin. Zu beachten ist dabei zunächst, dass Sachverständige den zu begutachtenden KlägerInnen neutral gegenüberstehen, wohingegen das dauerhafter angelegte Arzt-PatientInnen-Verhältnis häufig von einer persönlichen Vertrauensbindung sowie der beabsichtigten therapeutischen Unterstützung geprägt wird. Darüber hinaus liegt der Konsultation von behandelnden Ärzten eine gänzlich andere Zielrichtung zugrunde als der Begutachtung durch ärztliche Sachverständige im Rahmen eines Verwaltungs- bzw. gerichtlichen Verfahrens. So soll die haus- und fachärztliche Behandlung Leiden der Patientin bzw. des Patienten feststellen, um diese kurativ zu lindern bzw. zu beseitigen oder deren Verschlimmerung präventiv zu begegnen. Entsprechend sind Anamnese, Befundung und Diagnostik (allein) selektiv auf eine etwaige Therapie gerichtet. Die Sachverständigenbegutachtung hingegen dient der umfassenden (fach-)ärztlichen Aufklärung des gesamten Gesundheitszustandes und der anschließenden Beurteilung im Hinblick auf die konkrete sozialversicherungsrechtliche Fragestellung. So obliegt es den Sachverständigen nicht nur, die bestehenden Leiden genau und vollumfänglich zu ermitteln, sondern darüber hinaus in einem zweiten Schritt, diejenigen hieraus resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen festzustellen, denen im jeweiligen sozialversicherungsrechtlichen Kontext Relevanz zukommt. Schließlich ist dann – nach Konsistenzprüfung – in einer Gesamtschau aller vorhandenen ärztlichen Berichte und der eigenen Befunde eine präzise den vorgegebenen beweisrechtlichen Fragen folgende, begründete sozialversicherungsrechtliche Gesamtbeurteilung vorzunehmen. Hierfür bedarf es neben der allgemeinen ärztlich-medizinischen Kompetenz noch zusätzlicher Spezialkenntnisse, über die behandelnde Ärzte regelmäßig nicht verfügen (Senatsbeschl. v. 24.05.2023 – L 8 R 446/22 – juris Rn. 34). Auch in Bezug auf Frau F. ist weder geltend gemacht noch sonst erkennbar geworden, dass sie ihre Bescheinigung auf der Grundlage von Spezialkenntnissen in der Beurteilung etwaiger Erwerbsminderungen nach dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung abgegeben hat. Schließlich fehlt es ihrem Attest auch an jeglicher Auseinandersetzung mit den substantiierten Ausführungen des erstinstanzlich von X. eingeholten Gutachtens.

Weitere Ermittlungen von Amts wegen waren vor dem Hintergrund der bereits erfolgten Beweisaufnahme nicht notwendig. Der medizinische Sachverhalt ist hinreichend aufgeklärt. Liegen mehrere Gutachten vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten im Sinne von § 118 Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 412 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) ungenügend sind, weil sie grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten, von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde der Gutachter geben (vgl. BSG Beschl. v. 27.01.2021 – B 13 R 123/20 B – juris Rn. 7; Senatsbeschl. v. 05.01.2022 – L 8 R 752/16 – juris Rn. 63; Senatsbeschl. v. 20.09.2023 – L 8 R 788/22 – juris Rn. 42). Dies ist hier nicht der Fall. Das Vorliegen weiterer Beeinträchtigungen gleichwohl zu prüfen, würde einer Beweiserhebung "ins Blaue hinein" gleichgekommen, zu der das Gericht weder nach dem Amtsermittlungsgrundsatz (vgl. BSG Beschl. v. 28.10.2020 –  B 5 R 162/20 B – juris Rn. 11 m.w.N.) noch aus verfassungsrechtlichen Gründen verpflichtet ist (vgl. BVerfG Beschl. v. 09.10.2007 – 2 BvR 1268/03 – juris Rn. 19; BSG Beschl. v. 28.02.2018 – B 13 R 279/16 B – juris Rn. 21).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 S. 1 i.V.m. § 193 Abs. 1 S. 1 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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