Versorgt die Krankenkasse einen Versicherten mit einem Hilfsmittel aufgrund einer Genehmigungsfiktion, ist sie mit der Einwendung der fehlenden Notwendigkeit des Hilfsmittels bezogen auf das für den Gebrauch des Hilfsmittels regelmäßig notwendige Zubehör präkludiert.
Sozialgericht Berlin |
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Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Rechtsstreit
….
vertreten durch
…
…
- Klägerin -
Proz.-Bev.:
…
gegen
Techniker Krankenkasse,
- Hauptverwaltung -
Bramfelder Str. 140, 22305 Hamburg,
…
- Beklagte -
hat die 89. Kammer des Sozialgerichts Berlin ohne mündliche Verhandlung am 1. März 2024 durch die Richterin am Sozialgericht … sowie die ehrenamtliche Richterin … und den ehrenamtlichen Richter … für Recht erkannt:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 9. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. April 2021 und des Bescheides vom 5. Juli 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Feburar 2022 verurteilt, der Klägerin die für 18 selbstbeschafften Elektroden angefallenen Kosten in Höhe von 534,64 Euro zu erstatten.
Die Beklagte erstattet der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob das Zubehör eines Hilfsmittels von der Genehmigungsfiktion umfasst ist.
Die bei der Beklagten krankenversicherte und 2011 geborene Klägerin litt an einer akuten lymphatischen Leukämie und infolge eines Hirnabzesses an einer Fußheberparese. Ihr wurde von der Fachärztin für Pädiatrie mit Schwerpunkt Neuropädiatrie Dr. van Riesen das Hilfsmittel FES Bioness L300 Go rechts verordnet (Verordnung vom 6. September 2018).
Nachdem die Klägerin im Jahre 2018 erfolglos die Versorgung mit dem Hilfsmittel bei der Beklagten beantragt hatte, stellte die Klägerin am 24. August 2019 einen Neuantrag aufgrund einer stagnierenden bzw. rückläufigen Therapieentwicklung und reichte im Nachgang eine neue Verordnung für das Hilfsmittel vom 2. September 2019 von der Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. B. … ein.
Mit Bescheid vom 14. November 2019 übernahm die Beklagte die Kosten für das beantragte Hilfsmittel unter Verweis darauf, dass die Beklagte über den Antrag nicht in der gesetzlichen Frist gem. § 13 Abs. 3a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) entschieden habe. Der Bescheid enthielt den Hinweis, dass Grundlage der Kostenübernahme ein formaler Fehler sei, und daraus kein Rechtsanspruch für die Zukunft abgeleitet werden könne. Mit Bescheid vom 28. November 2019 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie die Kosten der Versorgung mit dem Peronaeusstimulator Ness L300 Go in Höhe von 5.851,68 Euro übernehme. Der Bescheid enthielt denselben Hinweis auf den formalen Fehler und den fehlenden Rechtsanspruch in der Zukunft.
Die Klägerin wurde sodann mit dem Peronaeusstimulator Ness L300 Go versorgt. Die Versorgung enthielt 8-10 Elektroden zur Nutzung des Hilfsmittels.
In der Folge beantragte die Klägerin unter Vorlage einer Verordnung vom 29. Juni 2020 und einem Kostenvortanschlag hierfür über 299,10 Euro die Versorgung mit 10 Elektroden für den L300 Go.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 9. Juli 2020 ab. Die Beklagte habe die Kosten für das Hilfsmittel nur aufgrund einer Genehmigungsfiktion übernommen. Dies schließe einen Rechtsanspruch für die Zukunft aus. Kosten für etwaiges Zubehör könnten daher nicht übernommen werden. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein.
Der von der Beklagten beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MD) kam in einer sozialmedizinischen Stellungahme vom 22. Dezember 2020 unter Berufung auf zuvor erstellte Gutachten dazu, dass aufgrund der abweichenden leistungsrechtlichen Entscheidung eine erneute sozialmedizinische Beurteilung durch den MD hinfällig sei. Die Gutachterin wies aber darauf hin, dass die Auswertung einer Videodokumentation ergeben habe, dass bei der Klägerin im unversorgten Zustand keinerlei funktionelle Einschränkungen des Ganges zu erkennen seien.
Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch unter Verweis auf die Ausführungen des MD zurück (Widerspruchsbescheid vom 22. April 2021). Bereits die Versorgung mit dem Ness L300 Go sei nicht als medizinisch notwendig angesehen worden. Es bestehe auch unter Berufung auf die mit Bescheid vom 14. November 2019 erfolgte Versorgung mit dem Hilfsmittel kein Anspruch auf die Versorgung mit dem Zubehör. Denn gem. § 13 Abs. 3a SGB V gelte nur die beantragte Leistung als genehmigt. Die Beklagte habe zudem darauf hingewiesen, dass die Kosten für den Ness L300 Go nur aufgrund der Genehmigungsfiktion übernommen worden seien, und ein Rechtsanspruch für die Zukunft (z.B. für Zubehör) ausgeschlossen sei.
Die Klägerin beschaffte sich die begehrten 10 Elektroden auf eigene Kosten in Höhe von 270,72 Euro selber (Rechnung vom 8. Januar 2021).
Der Folgeantrag der Klägerin für die Versorgung mit weiteren 8 Elektroden wurde von der Beklagten mit derselben Begründung abgelehnt (Bescheid vom 5. Juli 2021, Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 2022). Auch diese Elektroden beschaffte sich die Klägerin auf eigene Kosten in Höhe von 263,92 Euro selber (Rechnung vom 26. Juli 2021).
Die Klägerin hat am 7. Mai 2021 Klage gegen den Bescheid vom 9. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. April 2021 erhoben. Am 22. März 2022 hat sie zudem Klage gegen den Bescheid vom 5. Juli 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Februar 2022 erhoben. Die Verfahren wurden verbunden.
Die Klägerin trägt vor, sie habe gem. § 33 SGB V einen Anspruch auf die Versorgung mit den Elektroden, da sie zum Ausgleich einer Behinderung erforderlich seien. Sie leide an einer Fußheberparese, womit eine Beeinträchtigung der Gehfähigung einher geht. Das Hilfsmittel Ness L300 Go, mit welchem das Anheben des Fußes gesteuert und damit die Gehfähigkeit hergestellt werden solle, entfalte seine Wirkung nur in Kombination mit den begehrten Elektroden. Ohne die Elektroden könne kein Hautkontakt hergestellt werden, so dass die Leitung eines Impulses unmöglich sei. Die Klägerin benötige ungefähr 2 Elektroden monatlich.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 9. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. April 2021 zu verurteilen, ihr die für die 10 selbstbeschafften Elektroden angefallenen Kosten in Höhe von 270,72 Euro zu erstatten,
sowie die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Juli 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Feburar 2022 zu verurteilen, ihr die für die 8 selbstbeschafften Elektroden angefallenen Kosten in Höhe von 263,92 Euro zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat auf die Ausführungen des Widerspruchsbescheids verwiesen. Funktionelle Einschränkungen des Ganges habe die Gutachterin des MD nicht erkennen können. Über notwendige Reparaturen und Zubehör für ein bereits vorhandenes Hilfsmittel sei nach der Rechtsprechung neu und vollumfänglich zu entscheiden. Ein Rechtsanspruch sei aus früheren Entsscheidungen nicht ableitbar. Darauf sei die Klägerin auch im Rahmen der Bewilligung des Hilfsmittels im Bescheid vom 28. November 2019 hingewiesen worden. Die Prüfungspflicht der Krankenkasse dürfe nicht durch die Genehmigungsfiktion ausgehölt werden. Ein Hilfsmittel sei nicht „einmal bewilligt für immer notwendig“. Eine Bewilligung, die aufgrund einer Genehmigungsfiktion erfolgt sei, könne nicht weiter reichen, als eine normale Bewilligung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese haben der Kammer vorgelegen und sind Gegenstand der geheimen Beratung und Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.
Die Klage ist als Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig und begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung der für die Selbstbeschaffung der Elektroden angefallenen Kosten in Höhe von 534,64 Euro.
Der Anspruch auf Kostenerstattung ergibt sich nicht aus einer Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V oder § 18 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX). Es kann dahinstehen, ob § 13 Abs. 3a S. 1 SGB V einschlägig ist, weil es um eine Krankenbehandlung ging, oder § 18 Abs. 3, weil es sich um eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation handelt. Denn die in beiden Normen vorgesehenen Fristen sind bezogen auf den Antrag vom 24. August 2019 auf Versorgung mit dem Hilfsmittel Ness L300 Go ohne ablehnende Entscheidung der Krankenkasse abgelaufen. Somit galt das Hilfsmittel als genehmigt, weshalb die Klägerin damit versorgt wurde. Allerdings umfasste die Genehmigungsfiktion nicht die fortlaufende Versorgung mit den Elektroden als Zubehör, da die Folgeversorgung mit den Elektroden weder ausdrücklich noch konkludlent von dem ursprünglichen Antrag umfasst war. Nur was beantragt war, kann auch von der Genehmigungsfiktion umfasst sein. Bei Antragstellung war nicht vorhersehbar, wie lange die Klägerin das Hilfsmittel (und damit die fortlaufende Versorgung mit Elektroden) benötigen würde.
Rechtsgrundlage für die Kostenerstattung für die Beschaffung der Elektroden ist § 13 Abs. 3 SGB V: „Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.“
Die Voraussetzung der 2. Alternative liegen vor. Die Beklagte hat zu Unrecht eine Leistung, nämlich die Versorgung mit den beantragten Elektroden, abgelehnt. Dadurch sind der Klägerin Kosten in Höhe von 534,64 Euro entstanden.
Die Klägerin hatte einen Anspruch auf Versorgung mit den Elektroden.
Zwar ergibt sich der Anspruch nicht direkt aus dem dem Bewilligungsbescheid vom 14. November 2019, da, wie bereits ausgeführt, die Folgeversorgung mit den Elektroden nicht ausdrücklich oder konkludlent von dem ursprünglichen Antrag umfasst war.
Der Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit den begehrten Elektroden ergibt sich aber direkt aus § 33 SGB V, da der Anspruch einer Versicherten auf Versorgung mit einem Hilfemittel als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal auch den Anspruch auf Zubehörteile erfasst, ohne die das Hilfsmittel nicht oder nicht zweckentsprechend betrieben werden kann (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. November 2020 – L 1 KR 156/18, Rn. 25 - juris; Pitz, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 33 SGB V [Stand:20.07.2023], Rn. 27). Die Krankenkasse muss ein Hilfsmittel, auf welches man einen Anspruch hat, im gebrauchsfertigem Zustand zur Verfügung stellen (BSG, Urteil vom 18. Mai 1978 – 3 RK 47/77, Nr 7 – juris). Sie muss aber auch fortlaufend die Versicherten mit für den Gebrauch des Hilfsmittels notwendigen Zubehörteilen versorgen, die regelmäßig ausgetauscht werden müssen, um den gebrauchsfertigen Zustand des Hilfsmittels zu erhalten (vgl. BeckOGK/Nolte, 1.3.2021, SGB V § 33 Rn. 19). Eine Ausnahme gilt für solche Zubehörteile, deren Erwerb der Eigenverantwortung der Versicherten unterfällt, z.B. neue Hörgerätebatterien (Pitz, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 33 SGB V [Stand: 20.07.2023], Rn. 27) oder die Pflege und Reinigung von Hilfsmitteln (Gerlach, in Hauck/Noftz SGB V, 2. EL 2024, § 33 SGB 5, Rn. 115). Dies folgt aus dem Grundgedanken der Solidarität der Versicherten, wonach der einzelne Versicherte Ansprüche nur im Rahmen des Notwendigen und Angemessenen stelle (BSG, Urteil vom 18. Mai 1978 – 3 RK 47/77, Rn. 16 - juris).
Der regelmäßige Ersatz der für den Betrieb des Hilfsmittels Ness L300 Go notwendigen Elektroden unterfällt nicht der Eigenverantwortung der Versicherten. Der Ersatz der Elektroden ist nicht vergleichbar mit dem – für jedes elektronische Gerät notwendigen – regelmäßigen Batterieaustausch.
Die Beklagte konnte mit ihrem Vorbringen, dass die Versorgung mit den Elektroden – wie zuvor schon die Versorgung mit dem Ness L300 Go – medizinisch nicht notwendig ist, nicht durchdringen. Denn der Beklagten ist es wegen der eingetretenen Genehmigungsfiktion verwehrt, sich nunmehr darauf zu berufen, dass das Hilfsmittel selbst nicht medizinisch notwendig sei. Dies ist die Folge davon, dass sie es seinerzeit versäumt hatte, die medizinische Notwendigkeit rechtzeitig zu prüfen bzw. darüber eine rechtzeitige (ggf. abschlägige) Entscheidung zu erlassen. Diese Wertung würde konterkariert und die Fiktion entwertet, wenn die Beklagte sich jetzt in Bezug auf das Zubehör auf die fehlende medizinische Notwendigkeit des Hilfsmittels berufen könnte.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Die Kammer hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen. Soweit ersichtlich gibt es noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Frage, inwieweit eine Genehmigungsfiktion auch das notwendige Zubehör das Hilfsmittels umfasst bzw. die Einwendungen der medizinischen Notwendigkeit aufgrund dessen präkludiert sind.