S 20 P 48/20

Sozialgericht
SG Münster (NRW)
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Sozialgericht Münster

                                                                                                                                                                                             30.03.2022

 

Az.: S 20 P 48/20

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Namen des Volkes

 

Urteil

 

In dem Rechtsstreit

 

 

Der Bescheid vom 09.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2020 wird geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Pflegegeld nach Pflegegrad 2 für die Zeit ab dem 01.07.2019 zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

 

Die Beklagte hat 4/5 der außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

 

Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Pflegegeld für die Zeit ab Juli 2019.

 

Die am 00.00.2011 geborene Klägerin, die bei der Beklagten pflegeversichert ist, ist an Diabetes Typ 1 erkrankt, die Erstdiagnose erfolgte im Juli 2019. Sie ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 50 und dem Merkzeichen H anerkannt und wohnt in häuslicher Gemeinschaft mit den Eltern und ihrer Zwillingsschwester.

 

Im Juli 2019 beantragte die Klägerin Pflegegeld. In einem auf der Grundlage eines Hausbesuchs erstellten Gutachtens gelangte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe (im Folgenden: MDK) zu dem Ergebnis, dass die Klägerin pflegebedürftig nach Pflegegrad 1 war (Summe der gewichteten Punkte: 20,00). Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 09.08.2019 Leistungen nach Pflegegrad 1 und lehnte zugleich die Gewährung von Pflegegeld mit der Begründung ab, dass diese Leistung im Pflegegrad 1 nicht vorgesehen sei. Mit weiterem Bescheid vom 09.08.2019 bewilligte die Beklagte der Klägerin den Entlastungsbetrag in Höhe von 125 Euro monatlich für die Zeit ab dem 01.07.2019.

 

Die Klägerin erhob gegen die Ablehnung von Pflegegeld Widerspruch und vertrat die Auffassung, dass sie wegen des auf der Diabeteserkrankung beruhenden Hilfebedarfs einem höheren Pflegegrad zuzuordnen sei. Im Widerspruchsverfahren erstellte der MDK ein Gutachten nach Aktenlage, wonach sich die Summe der gewichteten Punkte zwar auf 23,75 belief, aber weiterhin von Pflegegrad 1 ausgegangen wurde. Im Anschluss wies die Beklagte den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 04.03.2020).

 

Am 03.04.2020 hat die Klägerin Klage erhoben. Ab Juli 2019 seien die Voraussetzungen für Pflegegrad 2 erfüllt, für die Zeit ab Februar 2022 wegen der Vollendung ihres elften Lebensjahres für Pflegegrad 3.

 

Die Klägerin beantragt,

 

den Bescheid vom 09.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2020 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr Pflegegeld nach Pflegegrad 2 für die Zeit ab dem 01.07.2019 bis 31.01.2022 und Pflegegeld nach Pflegegrad 3 für die Zeit ab dem 01.02.2022 zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten bei den behandelnden Ärzten der Klägerin sowie eines Gutachtens bei dem Sachverständigen C. Zu Einwänden der Beklagten gegen das Gutachten hat der Sachverständige ergänzend Stellung genommen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akten der Beklagten verwiesen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die Klage ist zulässig.

 

Sie ist als Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und 4 SGG statthaft. Gegenstand der Anfechtungsklage ist der Bescheid vom 09.08.2019, mit dem die Gewährung von Pflegegeld abgelehnt worden ist, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2020 (§ 95 SGG). Die Leistungsklage ist gerichtet auf die Gewährung von Pflegegeld nach Pflegegrad 2 (bis Januar 2022) bzw. nach Pflegegrad 3 (ab Februar 2022). Es ist über Leistungsansprüche für die Zeit vom 01.07.2019 bis zur mündlichen Verhandlung am 30.03.2022 zu entscheiden.

 

Die Klage ist überwiegend begründet. Der Bescheid vom 09.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Pflegegeld nach Pflegegrad 2 für die Zeit ab dem 01.07.2019, ein Anspruch auf Pflegegeld nach Pflegegrad 3 für die Zeit ab dem 01.02.2022 besteht hingegen nicht.

 

Rechtsgrundlage für den Pflegegeldanspruch ist § 37 Abs. 1 SGB XI. Danach können Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 anstelle der häuslichen Pflege ein Pflegegeld beantragen (Satz 1 der Vorschrift). Der Anspruch setzt voraus, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die erforderlichen körperbezogenen Pflegemaßnahmen und pflegerischen Betreuungsmaßnahmen sowie Hilfen bei der Haushaltsführung in geeigneter Weise selbst sicherstellt (Satz 2 der Vorschrift). Das Pflegegeld beläuft sich bei Pflegegrad 2 auf 316 Euro monatlich und bei Pflegegrad 3 auf 545 Euro monatlich (§ 37 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 und 2 SGB XI).

 

Die Voraussetzungen für einen Pflegegeldanspruch ab dem 01.07.2019 sind erfüllt. Einer näheren Begründung bedarf allein, dass die Klägerin pflegebedürftig nach Pflegegrad 2 ist. Die weiteren Leistungsvoraussetzungen liegen vor, worüber zwischen den Beteiligten kein Streit besteht.

 

Die Beurteilung, ob Pflegebedürftigkeit besteht und welcher Pflegegrad gegeben ist, richtet sind in erster Linie nach den §§ 14, 15 SGB XI. Die Zuordnung zu einem Pflegegrad richtet sich danach, inwieweit Beeinträchtigungen in den maßgeblichen sechs Bereichen (Modulen) besteht (§ 14 Abs. 2, § 15 Abs. 2 SGB XI). Für jedes Modul wird ein Punktwert ermittelt. Aus der Addition der Punktwerte ergeben sich die Gesamtpunkte, wobei für die Module 2 und 3 nur der höhere der beiden Werte berücksichtigt wird (§ 15 Abs. 3 Satz 1 bis 3 SGB XI). Pflegegrad 2 liegt bei Gesamtpunkten von mindestens 27 und weniger als 47,5 vor (§ 15 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 SGB XI). Bei pflegebedürftigen Kindern wird der Pflegegrad durch einen Vergleich der Beeinträchtigungen ihrer Selbständigkeit und ihrer Fähigkeiten mit altersentsprechend entwickelten Kindern ermittelt (§ 15 Abs. 6 SGB XI).

 

Bei der Bestimmung des Pflegegrades sind ergänzend die auf der Grundlage von § 17 SGB XI erlassenen Begutachtungsrichtlinien (BRi) zu berücksichtigen. Es handelt sich um eine einheitliche und für die Pflegekassen und den MDK verbindliche Begutachtungsgrundlage. Im Außenverhältnis zu den Versicherten kommt ihnen eine eingeschränkte Bindungswirkung zu, soweit sie als Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben anzusehen und deswegen zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen zu beachten sind (BSG, 28.09.2017 - B 3 P 3/16 R - juris Rn. 22). Die BRi enthalten auch Regelungen, die sich auf den Vergleich von pflegebedürftigen und altersentsprechend entwickelten Kindern beziehen. Insoweit ist in einem ersten Schritt - wie bei Erwachsenen - für das jeweilige Einzelkriterium zu ermitteln, ob das Kind unselbständig, überwiegend unselbständig, überwiegend selbständig oder selbständig ist. Dem ist im zweiten Schritt der altersentsprechende Selbständigkeitsgrad gegenüber zu stellen. Die Ermittlung der Punkte erfolgt in Anwendung der Tabelle im Abschnitt „Systematik zur Berechnung der Einzelpunkte zu den Kriterien bei Kindern unter elf Jahren im Vergleich zu altersentsprechend entwickelten Kindern“.

 

Die Gesamtpunkte für die Klägerin liegen seit dem 01.07.2019 bei zumindest 27 und weniger als 47,5.

 

Den Modulen 1 (Mobilität), 2 (kognitive und kommunikative Fähigkeiten) und 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) sind keine gewichteten Punkte und dem Modul 5 (Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) 20 gewichtete Punkte zugeordnet. Da das im Widerspruchsverfahren eingeholte Gutachten des MDK sowie das Gutachten des Sachverständigen C. hierin übereinstimmen und die Beteiligten insoweit keine Einwände erhoben haben, wird insoweit von einer näheren Begründung abgesehen.

 

Für das Modul 6 (Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte) ergeben sich 7,5 gewichtete Punkte. Das Gericht stützt sich insoweit maßgeblich auf das Gutachten des Sachverständigen C. Dieser hat für das Modul 4 zwar nur 3,75 Punkte vergeben, die von ihm dargestellten Einschränkungen rechtfertigen aber die Vergabe von 7,5 Punkten.

 

Der Sachverständige hat ausgeführt, dass die Klägerin hinsichtlich der Kriterien „Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen“ (6.1) sowie „Ruhen und Schlafen“ (6.2) überwiegend unselbständig und hinsichtlich der Kriterien „Sichbeschäftigen“ (6.3) und „Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen“ (6.4.) überwiegend selbständig sei (Seite 28 des Gutachtens vom 11.05.2021). Diese Einschätzung hat er nachvollziehbar und überzeugend begründet (Seite 55 ff. des Gutachtens vom 11.05.2021). Nach den BRi sind altersentsprechend entwickelte Kinder bezogen auf das Kriterium 6.1 ab 7 Jahren selbständig, bezogen auf das Kriterium 6.2 von 5 Jahren bis unter 11 Jahren überwiegend selbständig und ab 11 Jahren selbständig und bezogen auf die Kriterien 6.3 und 6.4 jeweils ab 5 Jahren selbständig. Daher ergeben sich bei der Klägerin für das Kriterium 6.1 zwei Einzelpunkte und für die Kriterien 6.2 bis 6.4 jeweils ein Einzelpunkt (vgl. BRi: Systematik zur Berechnung der Einzelpunkte zu den Kriterien bei Kindern unter elf Jahren im Vergleich zu altersentsprechend entwickelten Kindern). Bei zusammen fünf Einzelpunkten besteht im Modul 6 eine erhebliche Beeinträchtigung der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, die nach Anlage 2 des SGB XI mit 7,5 Punkten zu bewerten ist.

 

 

Vor diesem Hintergrund bedarf die Frage, ob für das Modul 4 (Selbstversorgung) weitere 10 Punkte zu vergeben sind, keiner Entscheidung. Der Sachverständige C. hat dies angenommen, die Beklagte ist dieser Einschätzung entgegengetreten. Auswirkungen auf den Pflegegrad ergeben sich nicht, weil die Gesamtpunktzahl bei mindestens 27,5 und höchstens 37,5 liegt und die Klägerin damit ab Juli 2019 in jedem Fall dem Pflegegrad 2 zuzuordnen ist.

 

Der Pflegegrad hat sich nicht ab dem 01.02.2022 und auch nicht zu einem anderen Zeitpunkt bis zur mündlichen Verhandlung auf 3 erhöht. Das Gericht folgt insoweit nicht der Auffassung des Sachverständigen C., der von 47,5 gewichteten Punkten ab Vollendung des 11. Lebensjahres im Februar 2022 ausgegangen ist (Seite 8 der ergänzenden Stellungnahme vom 30.09.2021). Dem liegt offenbar die Vermutung zugrunde, dass der Hilfebedarf der Klägerin seit dem Hausbesuch des Sachverständigen im Januar 2021 unverändert geblieben ist und daher der Unterschied ihres Hilfebedarfs zum Hilfebedarf altersentsprechend entwickelter Kinder sogar zugenommen hat. Konkrete Anhaltspunkte, die diese Annahme stützen, liegen aber nicht vor. Umgekehrt ist es naheliegend, dass die Klägerin zunehmend selbständiger und kompetenter im Umgang mit der Diabeteserkrankung wird und der auf der Erkrankung beruhende Hilfebedarf tendenziell zurückgeht. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass sich der diabetesbedingte Hilfebedarf der Klägerin (auch) in der Zeit von Januar 2021 bis Februar 2022 reduziert hat.

 

Die Beklagte bleibt für die Zeit nach der mündlichen Verhandlung zur Prüfung berechtigt, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld weiterhin vorliegen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das überwiegende Obsiegen der Klägerin.

Rechtskraft
Aus
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