1. Eine Konkretisierung bzw. Individualisierung des Klagebegehrens im sozialgerichtlichen Verfahren wirkt nicht ex nunc, sondern ex tunc.
2. Zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 104 SGB X.
3. Der Beklagte als überörtlicher Sozialhilfeträger war im Verhältnis zur Klägerin als Trägerin der Jugendhilfe vorrangig zur Leistung verpflichtet. Gemäß §§ 53, 54 Abs. 3 SGB XII a.F. umfasste im streitgegenständlichen Zeitraum die Eingliederungshilfe auch die hier erbrachte Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie, soweit eine geeignete Pflegeperson Kinder und Jugendliche über Tag und Nacht in ihrem Haushalt versorgt und dadurch der Aufenthalt in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe vermieden oder beendet werden kann.
4. Der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet sich nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften.
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 6. April 2022 abgeändert und der Beklagte verurteilt, der Klägerin weitere 16.872 EUR für Kosten für Jugendhilfeleistungen an J im Jahr 2015 zu zahlen.
II. Von den Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin ein Fünftel und der Beklagte vier Fünftel zu tragen; im Übrigen bleibt es bei der erstinstanzlichen Kostenentscheidung.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
IV. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 20.314,80 EUR festgesetzt.
T a t b e s t a n d :
Streitig ist noch, ob die Klägerin vom Beklagten Erstattung ihrer im Jahr 2015 für Jugendhilfeleistungen an J (LB) aufgewandten Kosten i.H.v. 16.872 EUR beanspruchen kann.
Bei der 2008 geborene LB wurden im April 2014 Stigmatismus und ein Entwicklungsrückstand angenommen (Förderung- und Behandlungsplan vom 23.04.2014). Es wurde bei ihr außerdem wegen einer Schwerhörigkeit mit Sprachstörung ein Grad der Behinderung von 70 mit dem Merkzeichen RF festgestellt. Der Beklagte übernahm die Kosten der heilpädagogischen Leistungen in einer Frühförderstelle vom 15.05.2014 bis 14.09.2015 (Bescheide vom 27.05.2014, 26.05.2015, und 11.06.2015).
Ebenfalls im Mai 2014 leitete das Landratsamt Bad Tölz-Wolfratshausen einen für die LB gestellten Antrag auf Hilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz an die Klägerin als örtlichen Träger der Jugendhilfe weiter. Die LB, die auch an einer Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung leidet, sollte in Vollzeitpflege zu ihren Großeltern kommen. Die gehörlosen Eltern der LB seien mit der Erziehung überfordert. Eine von der Klägerin durchgeführte Weiterleitung an den Beklagten (Schreiben vom 12.08.2014) wies dieser zurück, vornehmlich weil die Weiterleitungsfrist längst abgelaufen sei (Schreiben vom 25.08.2014).
Schließlich bewilligte die Klägerin der LB Jugendhilfe als Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege mit Mehrbedarf Stufe 2 bei den Großeltern der LB ab 09.05.2014 bis auf Weiteres sowie Pflegegeld ab 09.05.2014 (Bescheid vom 14.04.2015). Die Klägerin leiste als erstangegangener Träger vorläufig.
Zugleich bat die Klägerin mit Schreiben vom 14.04.2015 den Beklagten um Fallübernahme in eigener Zuständigkeit und verlangte Kostenerstattung ab 09.05.2014. Dies lehnte der Beklagte ab (Schreiben vom 24.04.2015).
Erneut wandte sich die Klägerin im März 2019 an den Beklagten wegen der Übernahme des Falles (E-Mail vom 12.03.2019). Der Beklagte lehnte eine Kostenerstattung und Fallübernahme jedoch weiterhin ab (Schreiben vom 29.05.2019).
Unter dem 19.12.2019 forderte die Klägerin den Beklagten noch zur Abgabe einer Verjährungsverzichtserklärung auf. Wie viele Fälle noch betroffen seien, könne nur durch eine umfassende Überprüfung geklärt werden, die nicht innerhalb weniger Tage durchgeführt werden könne. Man bitte daher um eine allgemeine Verjährungsverzichtserklärung.
Dies lehnte der Beklagte mit Verweis darauf ab, dass ein genereller Verzicht auf die Einrede der Verjährung, bei denen möglicherweise ein Vorrang-/Nachrang-Verhältnis vorliegt und die nicht weitergehend konkret bezeichnet werden können, nicht möglich sei (Schreiben vom 20.12.2019).
Am 30.12.2019 hat die Klägerin zum Sozialgericht München (SG) Klage erhoben (Az. S 48 SO 650/19) mit folgenden Anträgen:
"I. Es wird festgestellt, dass in sämtlichen Fällen mit Kostenpositionen der Klägerin aus dem Jahr 2015, denen Sachverhalte zugrunde liegen, bei denen ein Vorrang-/Nachrang-Verhältnis i.S.d. § 10 Abs. 4 SGB VIII [Achtes Buch Sozialgesetzbuch] vorlag, ein Kostenerstattungsanspruch der Klägerin gemäß § 104 SGB X [Zehntes Buch Sozialgesetzbuch] gegenüber dem Beklagten besteht.
Hilfsweise:
II. Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin in sämtlichen Fällen mit Kostenpositionen der Klägerin aus dem Jahr 2015, denen Sachverhalte zugrunde liegen, bei denen ein Vorrang-/Nachrang-Verhältnis i.S.d. § 10 Abs. 4 SGB VIII vorlag, die von der Klägerin im Zeitraum 01.01.2015 mit 31.12.2015 jeweils aufgewandten Kosten zuzüglich Zinsen aus diesen Beträgen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten."
Nach einer Prüfung durch den Bayer. Kommunalen Prüfungsverband habe sich ergeben, dass es möglich sei, dass in manchen Fällen fälschlicherweise von einer primären bzw. alleinigen Zuständigkeit der Klägerin ausgegangen worden sei. Richtigerweise hätte aber ein Vorrang-/Nachrangverhältnis angenommen werden müssen. Hieraus resultierten Erstattungsansprüche gegen den Beklagten. Die Klageerhebung erfolge fristwahrend, da der Beklagte keine Verjährungsverzichtserklärung abgegeben habe. Wie viele Fälle aus dem Jahr 2015 im Einzelnen betroffen seien, könne nur durch eine umfassende Überprüfung sämtlicher in Betracht kommender Vorgänge in Erfahrung gebracht werden. Aus verwaltungstechnischen Gründen sei dies nicht mehr im Jahr 2019 möglich gewesen.
Der Beklagte hat erwidert, ein Feststellungsklage sei zulässig, wenn ein konkretes Recht in Anspruch genommen werden solle. Dies sei der behauptete Erstattungsanspruch. Zulässig sei eine Feststellungsklage aber nur dann, wenn die Anwendung der Erstattungsregelung auf einen bereits übersehbaren Sachverhalt strittig sei. Das sei vorliegend nicht gegeben. Es sei unbekannt, ob und in welchen Fällen die Klägerin im Jahr 2015 Leistungen erbracht habe. Die Klägerin habe keinen derartigen Fall bezeichnet. Sie müsse erst selbst prüfen, ob und welche Fälle betroffen sein könnten. Überdies sei die Feststellungsklage unbegründet, denn in der von der Klägerin formulierten Pauschalität könnten keine Kostenerstattungsansprüche gegeben sei. Ein Erstattungsanspruch setzte mehr voraus, als den schlichten Vorrang nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII. Die hilfsweise Leistungsklage sei ebenfalls unzulässig. Es fehle das Rechtsschutzbedürfnis, weil die Klägerin keine Kostenerstattung beim Beklagten geltend gemacht habe.
Mit Schriftsatz vom 23.03.2020 (eingegangen beim SG am 26.03.2020) hat die Klägerin ausgeführt, ihre am 30.12.2019 erhobene Klage werde dahin konkretisiert, dass u.a. für die LB Kostenerstattung i.H.v. 20.314,80 EUR begehrt werde.
Der Beklagte hat weiter erwidert, dass die Klägerin nun einige Fälle, in denen Kostenerstattung begehrt werde, bezeichnet habe, ändere an der Unzulässigkeit und Unbegründetheit der Klage nichts. Die Geltendmachung sei erst nach Klageerhebung erfolgt. Der Erstattungsanspruch für die klagegegenständlichen Aufwendungen aus 2015 sei verjährt. Die Klage vom 30.12.2019 hemme den Ablauf der Verjährung nicht, da sie derart umfassend formuliert sei, dass sie alle dem § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII unterfallenden Fälle erfassen würde. Einen Bezug zum Erstattungsanspruch im Hilfefall der LB habe die Klage nicht. Insbesondere sei der Erstattungsanspruch bereits geltend gemacht gewesen und es sei der Klägerin möglich und zuzumuten gewesen, im konkreten Fall verjährungshemmende Maßnahmen zu ergreifen.
Im September 2020 ist die Klage betreffend Kostenerstattung für die LB unter dem Az. S 48 SO 454/20 registriert worden, da es sich um insgesamt sieben Klagen handle.
Am 14.12.2020 hat die Klägerin zudem ihre Klage dahin erweitert, dass Kostenerstattung i.H.v. insgesamt 82.968 EUR für die aufgewandten Kosten im Zeitraum vom 01.01.2016 bis 23.11.2020 begehrt werde. Der Antrag auf Verzinsung ist zurückgenommen worden.
Der Beklagte hat für den Zeitraum vom 01.01.2016 bis 23.11.2020 den Anspruch auf Erstattung dem Grunde nach anerkannt (Schriftsatz vom 07.06.2021).
Das SG hat mit Anerkenntnisurteil und Urteil vom 06.04.2022 den Beklagten verurteilt, die von der Klägerin für die LB im Zeitraum vom 01.01.2016 bis zum 23.11.2020 aufgewendeten Kosten für Fremdpflege mit Mehrbedarf i.H.v. insgesamt 82.968 EUR zu erstatten, und im Übrigen die Klage abgewiesen. Die zulässige Klage sei zum Teil begründet. Im Umfang seines Anerkenntnisses sei der Beklagte zur Erstattung in der geltend gemachten Höhe verpflichtet; Zweifel an der Rechtmäßigkeit der von der Klägerin für die LB erbrachten Leistungen bestünden nicht. Im Übrigen sei ein möglicher Erstattungsanspruch der Klägerin für den Leistungszeitraum vom 01.01.2015 bis zum 31.12.2015 verjährt. Der Beklagte habe die Einrede der Verjährung erhoben und die vierjährige Verjährungsfrist sei mit Ablauf des 31.12.2019 abgelaufen. Die am 30.12.2019 erhobene Feststellungsklage führe nicht zu einer Hemmung der Verjährung. Insoweit habe nach früherem Recht der Grundsatz gegolten, dass eine Klage die Verjährung nur für Ansprüche in der Gestalt und in dem Umfang unterbreche, wie sie mit der Klage rechtshängig gemacht worden seien, also nur für den streitgegenständlichen prozessualen Anspruch. Für die nach neuem Recht an die Stelle der Unterbrechung getretene Hemmung der Verjährung gelte nichts Abweichendes. Die Hemmung des mit einer sozialgerichtlichen Klage geltend gemachten Anspruchs trete nur dann ein, wenn der Anspruch in der Klageschrift hinreichend konkretisiert und individualisiert sei. Dazu sei es grundsätzlich erforderlich, dass der streitige Anspruch durch seine Kennzeichnung von anderen möglichen Ansprüchen so unterschieden und abgegrenzt werde, dass er Grundlage eines Vollstreckungstitels sein könne und dem Beklagten die Beurteilung ermögliche, ob er sich gegen den Anspruch zur Wehr setzen wolle. Gehe es, wie vorliegend, um einen Erstattungsanspruch, könne eine Hemmung jedenfalls erst dann eintreten, wenn der Name des Leistungsempfängers genannt werde, weil erst dann der Klagegegenstand (der konkrete Erstattungsanspruch) hinreichend identifizierbar sei. Das sei hier erst mit dem Schriftsatz vom 23.03.2020 gegeben gewesen.
Dagegen hat die Klägerin Berufung beim Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Entgegen der Ansicht des SG seien die für das Jahr 2015 geltend gemachten Erstattungsansprüche nicht mit Ablauf des Jahres 2019 verjährt. Die (Feststellungs-)Klage sei zum 30.12.2019 wirksam erhoben worden und habe zu einer Hemmung der Verjährung geführt. Während in zivilrechtlichen Verfahren die bestimmte Angabe des Klagegegenstandes und des Grundes sowie ein bestimmter Antrag gefordert würden, sei im sozialgerichtlichen Verfahren nur die Angabe des Klagegegenstandes notwendig. Die Klage müsse den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Dabei sei auch das Gebot des effektiven Rechtsschutzes zu berücksichtigen. Die Anforderungen an eine hinreichende Bezeichnung des Gegenstandes des Klagebegehrens dürften nicht überspannt werden. Erforderlich, aber auch ausreichend sei die Angabe des Klagebegehrens, also etwa die Feststellung, die das Gericht treffen solle, oder die Leistung, die begehrt werde. Der Sachverhalt, über den das Gericht entscheiden solle, müsse angegeben oder zumindest umrissen werden. Die Regelung zum "bestimmten Antrag" sei nur als Sollvorschrift ausgestaltet. Diese Voraussetzungen seien mit der Klage vom 30.12.2019 bereits erfüllt worden. Die geltend gemachten Ansprüche beträfen das Jahr 2015 und stellten Kostenerstattungsansprüche dar, die sich aus § 104 SGB X bzw. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ergäben. Die Sachverhalte hätten sich demnach auf Sachverhalte bezogen, bei denen ein Vorrang-/Nachrang-Verhältnis bestanden habe. Die Klägerin sei vor Klageerhebung an den Beklagten herangetreten und habe diesen darauf aufmerksam gemacht, dass bislang noch nicht geltend gemachte Ansprüche vorhanden seien. Der Beklagte sei zuletzt mit Schreiben vom 19.12.2019 vergeblich um Abgabe einer Verjährungsverzichtserklärung gebeten worden. Der Beklagte habe folglich von der Existenz dieser Fälle gewusst. Entgegen der bisher geltend gemachten Summe von 20.314,80 EUR ergebe sich eine Forderung i.H.v. 16.872 EUR.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts München vom 06.04.2022 zu verurteilen, ihr Aufwendungen für Jugendhilfeleistungen an J i.H.v. 16.872 EUR für das Jahr 2015 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Ein eventueller Anspruch auf Erstattung der Kosten für das Jahr 2015 sei bereits verjährt. Für den Eintritt der Hemmung der Verjährung müsse der Anspruch in der Klageschrift hinreichend konkretisiert und individualisiert sein. Das erforderliche Angeben oder zumindest Umreißen des Sachverhalts ohne Konkretisierung der Person, für die Leistungen gewährt worden seien, sei vorliegend schlichtweg nicht möglich. Für eine hinreichende Bezeichnung des (Streit-)Gegenstandes müsse der junge Mensch konkretisiert werden, denn das Vorliegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung des jungen Menschen sei zwingende Voraussetzung, damit ein Anspruch gegen den Träger der Eingliederungshilfe bestehen könne. Da andernfalls die Zuständigkeit mangels Bestimmbarkeit der Behinderungsart nicht festgestellt werden könne, sei die Konkretisierung der betroffenen Person bei Angabe des Klagebegehrens eine Voraussetzung, die vorliegen müsse. Ein "Überspannen" der Anforderungen sehe man dabei nicht. Hier sei die LB erstmals mit Schreiben vom 23.03.2020 bezeichnet worden, so dass die Ansprüche für 2015 verjährt seien.
Im Erörterungstermin am 01.07.2022 haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung und durch den Berichterstatter als Einzelrichter erklärt.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die vorgelegten Behördenakten sowie die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Das Gericht entscheidet ohne mündliche Verhandlung und durch den Berichterstatter als Einzelrichter (§ 124 Abs. 2 und § 155 Abs. 3 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG), denn es liegt das Einverständnis der Beteiligten vor und das Verfahren stellt sich weder rechtlich noch tatsächlich als besonders schwierig dar.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG) und hat in der Sache, soweit nicht die Berufung zurückgenommen worden ist, auch Erfolg. Die Klägerin hat gegen den Beklagten auch Anspruch auf Erstattung von im Jahr 2015 aufgewandten Jugendhilfekosten für die LB i.H.v. 16.872 EUR.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist nach der im nicht-öffentlichen Termin am 01.07.2022 erfolgten Antragstellung das klägerische Begehren nach Erstattung der Kosten für Jugendhilfe als Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege mit Mehrbedarf Stufe 2 bei den Großeltern der LB für das Jahr 2015 im Umfang von nunmehr noch 16.872 EUR. Soweit die Klägerin für die Jugendhilfeleistungen für 2015 erstinstanzlich und bei Einlegung der Berufung noch 20.314,80 EUR gefordert hatte, hat sie ihre Forderung im Laufe des Berufungsverfahrens auf 16.872 EUR reduziert (Schriftsatz vom 08.06.2022 und Antragstellung im Erörterungstermin am 01.07.2022) und damit konkludent die Berufung teilweise zurückgenommen. Nicht streitgegenständlich im Berufungsverfahren sind die vom Beklagten erstinstanzlich anerkannten und vom SG zugesprochenen Kostenerstattungsansprüche der Klägerin ab dem 01.01.2016. Berufung gegen das Urteil des SG vom 06.04.2022 hat nur die Klägerin eingelegt und zwar nur, soweit das SG die Klage abgewiesen hat (Ziffer II. des Urteils des SG), also in Bezug auf Erstattung der Jugendhilfeaufwendungen für das Jahr 2015. Auf die Erstattung von Jugendhilfeleistungen an die LB für die Zeit vor 2015 - die Klägerin hat Jugendhilfe bereits ab 09.05.2014 erbracht (Bescheid vom 14.04.2015) - war die Klage nie gerichtet. Ihr noch streitiges Begehren kann die Klägerin mittels Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG verfolgen.
Die Klage ist auch hinsichtlich der im Berufungsverfahren noch weiterverfolgten Ansprüche zulässig, insbesondere genügt sie den Anforderungen des § 92 SGG als Sachurteilsvoraussetzung (vgl. Binder in Berchtold, SGG, 6. Aufl., § 92 Rn. 7), und begründet.
Grundlage für das Erstattungsverlangen der Klägerin ist § 104 Abs. 1 SGB X. Danach ist, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat (Satz 1). Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (Satz 2). Die in der seit 01.01.2020 geltenden Fassung des § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X vorgenommene Einfügung der Träger der Eingliederungshilfe (Gesetz vom 23.12.2016, BGBl. I, 3234) ist dabei für den geltend gemachten Anspruch unerheblich, denn die Träger der Sozialhilfe - als solcher wird der Beklagte ausgehend vom Geltungszeitraumprinzip des materiellen Rechts (vgl. BSG, Urteil vom 12.05.2011 - B 11 AL 24/10 R - juris) in Anspruch genommen - sind weiterhin in § 104 Abs. 1 SGB X genannt.
Ein Fall des § 103 SGB X liegt nicht vor, denn es ist nicht der Anspruch der LB auf die von der Klägerin gewährten Leistungen nachträglich entfallen. Einem Anspruch aus § 104 SGB X steht auch weder die vorrangige Anwendung von § 16 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) noch die des § 102 SGB X entgegen. Da die streitigen Aufwendungen der Klägerin Jugendhilfeleistungen gemäß § 33 SGB VIII waren (siehe Bescheid vom 14.04.2015), handelt es sich nicht um Rehabilitationsleistungen i.S.d. § 5 SGB IX (vgl. Urteil des Senats vom 16.11.2017 - L 8 SO 284/16 - juris). Ebenso wenig liegt die Konstellation einer vorläufigen Leistung der Klägerin i.S.d. § 102 Abs. 1 SGB X vor. Zwar ist in der Begründung des Bescheids vom 14.04.2015 ausgeführt, die Klägerin leiste als "erstangegangener" Träger vorläufig. Jedoch leiten sich die Erstattungsansprüche nach den §§ 102 ff. SGB X nicht aus der Rechtsposition des Leistungsberechtigten ab, sondern stellen eigenständige Ansprüche dar (vgl. Ross in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., vor 102 Rn. 4; auch BSG, Urteil vom 30.01.2020 - B 2 U 19/18 R und BVerwG, Urteil vom 09.02.2012 - 5 C 3/11 - beide nach juris) und es kommt nicht auf die Bezeichnung als vorläufig bzw. einen Vorläufigkeitsvermerk in entsprechenden Leistungsbescheiden an. Ein negativer Kompetenzkonflikt, der Grundlage für eine vorläufige Leistungspflicht gemäß § 43 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) hätte sein können, bestand nicht, vielmehr lag nur eine vorrangige Leistungsverpflichtung des Beklagten gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII vor. Bei konkurrierenden Leistungsansprüchen aus den Gebieten der Jugendhilfe und der Sozialhilfe - wie hier (dazu noch unten) - sind nämlich der Träger der Jugendhilfe und der Träger der Sozialhilfe, solange die benötigte Hilfe aussteht, dem Berechtigten gleichermaßen nicht nur vorläufig zu Leistungen verpflichtet (vgl. BVerwG, a.a.O.). Demzufolge scheidet auch die Anwendung des landesrechtlichen Kostenerstattungsanspruchs nach Art. 53 des (bayer.) Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG) aus, da die bundesrechtlichen Vorschriften die Frage der Kostenerstattung bei einem Vorrang-Nachrang-Verhältnis abschließend regeln (vgl. BayVGH, Beschluss vom 17.02.2014 - 12 C 13.2646 - juris).
Eine Erstattung der Aufwendungen der Klägerin scheitert zudem nicht an der Ausschlussfrist des § 111 SGB X. Die Vorschrift begründet eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist, so dass der Erstattungsanspruch nach Ablauf der Ausschlussfrist untergeht. Das Versäumnis der Frist ist von Amts wegen zu beachten (vgl. BSG, Urteil vom 28.03.2000 - B 8 KN 3/98 U - juris; Roller in von Wulffen/Schütze, SGB X, Kommentar, 8. Aufl., § 111, Rn. 16). Die Klägerin hatte bereits mit Schreiben vom 14.04.2015 beim Beklagten ihren Erstattungsanspruch angemeldet, woran auch der Beklagte keine Zweifel geäußert hat.
Der Anspruch auf Erstattung für die Zeit ab 13.09.2015 ist nicht gemäß § 113 SGB X verjährt. Der Beklagte erhebt gegen das Erstattungsbegehren der Klägerin ohne Erfolg die Einrede der Verjährung (Schriftsatz vom 08.07.2020). Nach § 113 Abs. 1 Satz 1 SGB X verjähren Erstattungsansprüche in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträger über dessen Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat.
Demnach lief vorliegend die vierjährige Frist des § 113 Abs. 1 Satz 1 SGB X mit dem 01.01.2016 an, denn zugleich mit der Leistungsbewilligung an die LB (Bescheid vom 14.04.2015) hatte sich die Klägerin mit der Bitte um Kostenerstattung und Fallübernahme an den Beklagten gewandt (Schreiben vom 14.04.2015), was dieser abgelehnt hatte (Schreiben vom 24.04.2015). Somit lag im April 2015 mit Zugang des Schreibens vom 24.04.2015 die positive Kenntnis der Klägerin darüber vor, dass der Beklagte seine Leistungspflicht gegenüber der LB verneinte.
Infolge der Klagerhebung beim SG am 30.12.2019 (Az. zunächst S 48 SO 650/19) ist aber die an sich mit dem 31.12.2019 (Mittwoch) endende Verjährungsfrist in ihrem Ablauf gehemmt worden, § 113 Abs. 2 SGB X i.V.m. § 204 Abs. 1 Nr. 1 und § 209 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB wird die Verjährung u.a. gehemmt durch Erhebung der Klage auf Leistung oder auf Feststellung des Anspruchs. Vorliegend war die Klagerhebung am 30.12.2019 auch (prozessual) wirksam und ihr kommt (materiell) verjährungshemmende Wirkung.
Nach § 90 SGG ist eine Klage schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu erheben; unter den Voraussetzungen des § 65a SGG kann die Klageerhebung auch elektronisch erfolgen. Hier sind weder die Erfüllung des Schriftformerfordernisses noch des unbedingten Begehrens nach gerichtlichem Rechtsschutz (vgl. Binder, a.a.O., § 90 Rn. 3 f.) durch die am 30.12.2019 beim SG erhobene Feststellungs- und hilfsweise Leistungsklage zweifelhaft.
Der Beklagte wendet auch ohne Erfolg ein, dass eine wirksame Klageerhebung bereits am 30.12.2019 an einer fehlenden Individualisierung bzw. Konkretisierung des Erstattungsbegehrens scheitere. Zum Inhalt einer Klageschrift gibt § 92 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGG zwingend vor, dass die Klage den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen muss. Allein auf die letztgenannte Voraussetzung beziehen sich die Einwände des Beklagten, die aber nicht durchgreifen. Das BSG hat zu einer früheren Fassung des § 92 SGG entschieden (Urteil vom 28.09.2006 - B 3 KR 20/05 R - juris), dass zwar nicht per se aus der prozessualen Wirksamkeit einer Klageerhebung auf die materielle Rechtswirkung der Verjährungsunterbrechung geschlossen werden kann, es jedoch auch nicht zwingend geboten ist, zur Herbeiführung einer Verjährungsunterbrechung durch Klageerhebung beim Sozialgericht weitergehende Anforderungen an die Individualisierung des Klageanspruchs zu stellen, als es prozessual zu einer wirksamen Klageerhebung erforderlich ist. Wird eine unzureichend gekennzeichnete Klageforderung bei Gericht geltend gemacht, so wird in aller Regel das Gericht den Kläger veranlassen, seinen Anspruch näher zu begründen. Eine etwaige Rechtsunsicherheit auf Seiten des Schuldners besteht dann nur vorübergehend, seine Verteidigungsmöglichkeiten sind dadurch nicht wesentlich eingeschränkt.
Dass § 92 SGG seitdem geändert wurde und nunmehr die Angabe des Gegenstandes des Klagebegehrens nicht mehr als "Soll"-Bestimmung enthält, sondern als "Muss" ("Die Klage muss den Kläger..."), ändert daran nichts. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass § 92 SGG zugleich um einen Absatz 2 erweitert wurde, der ein "Klärungsverfahren" vorsieht (vgl. Urteil des Senats vom 19.07.2011 - L 8 SO 75/11 - juris), welches eine Konkretisierung des geltend gemachten Anspruchs noch im Laufe des Prozesses erlaubt.
Anders als nach den zivilprozessualen Regeln bzw. der dazu ergangenen Rechtsprechung wirkt eine etwaige Konkretisierung bzw. Individualisierung des Klagebegehrens im sozialgerichtlichen Verfahren daher nicht ex nunc, sondern ex tunc.
Dieser Sichtweise folgt auch die Kommentarliteratur, die eine unwirksame Klageerhebung nur bei Verstoß gegen zwingende Vorschriften annimmt, wozu aber nicht die von § 92 Abs. 1 Satz 1 SGG geforderten Angaben zählen (vgl. Binder, a.a.O., § 94 Rn. 6 und § 90 Rn. 9; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 90 Rn. 9; Föllmer in jurisPK-SGG, Stand: 15.06.2022, § 92 Rn. 71).
Übertragen auf den hiesigen Fall reichten somit die in der Klageschrift vom 30.12.2019 gestellten Anträge aus, die - zugegeben - den Klagegegenstand noch recht vage umrissen haben. Nichtsdestotrotz war bereits aus dem hilfsweise gestellten Leistungsantrag (Ziffer II. der Klageschrift) erkennbar, dass es sich um ein gegen den Beklagten gerichtetes Erstattungsbegehren handelte und das Jahr 2015 betroffen war. Auch wenn vorliegend verschiedene Gesichtspunkte die Klägerin nicht als schutzwürdig erscheinen lassen oder anders gewendet für den Schutz des Beklagten sprechen, vor allem dass es sich bei der Klägerin nicht um eine rechtlich unerfahrene und ungewandte Person handelt und dass wegen der LB bereits Jahre vor Klageerhebung zwischen den Beteiligten um die Zuständigkeit gestritten worden war, kann diesen Umständen unter Berücksichtigung der zitierten Rechtsprechung des BSG hier kein großes Gewicht beigemessen werden; sie hindern im Ergebnis die Annahme einer wirksamen Klageerhebung am 30.12.2019 nicht. Mit dem Schriftsatz vom 23.03.2020 hat die Klägerin sodann jedenfalls den Gegenstand der am 30.12.2019 erhobenen Klage rechtzeitig in ausreichender Weise geklärt, so dass den Anforderungen des § 92 Abs. 1 Satz 1 SGG genüge getan und der Eintritt der verjährungshemmenden Wirkung der Klage zu bejahen ist.
Auch die weiteren Voraussetzungen des § 104 SGB X sind erfüllt. So war insbesondere der Beklagte im Verhältnis zur Klägerin vorrangig zur Leistung verpflichtet. Neben den Voraussetzungen der Hilfegewährung nach § 33 SGB VIII waren auch die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe gegeben. Gemäß den §§ 53, 54 Abs. 3 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) a.F. umfasste im streitgegenständlichen Zeitraum die Eingliederungshilfe auch die - hier erbrachte - Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie, soweit eine geeignete Pflegeperson Kinder und Jugendliche über Tag und Nacht in ihrem Haushalt versorgt und dadurch der Aufenthalt in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe vermieden oder beendet werden kann. Dies war im Fall der LB auch unproblematisch gegeben und wurde vom Beklagten auch nicht angezweifelt, zumal dieser für die Zeit der Hilfegewährung ab 2016 erstinstanzlich ein Anerkenntnis abgegeben hat und diesem gemäß vom SG verurteilt worden ist.
Im streitgegenständlichen Zeitraum gehörte die LB ferner aufgrund ihrer Hörbeeinträchtigungen zum leistungsberechtigten Personenkreis gemäß § 53 Abs. 1 SGB XII a.F. i.V.m. §1 der Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglhV). Damit war der Beklagte als überörtlicher Sozialhilfeträger (Art. 81 AGSG - in der Fassung der Verordnung vom 22.07.2014, GVBl S. 286) zur Leistung vorrangig verpflichtet, § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII (in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.09.2012, BGBl. I, 2022). Er war zudem örtlich und sachlich für die hier streitige Hilfe zuständig, §§ 97, 98 SGB XII a.F. i.V.m. Art. 82 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AGSG (in der Fassung des Gesetzes vom 20.12.2007, GVBl S. 979).
Gemäß § 104 Abs. 3 SGB X richtet sich der Umfang des Erstattungsanspruches nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die der LB erbrachte Hilfe im streitgegenständlichen Zeitraum nach Grund und Höhe nicht rechtmäßig erfolgte. Diesbezüglich hat auch keiner der Beteiligten Zweifel geltend gemacht und solche sind auch sonst nicht erkennbar.
Die Höhe des Erstattungsanspruchs ist zwischen den Beteiligten ebenfalls nicht streitig. Die Klägerin hat zudem im Berufungsverfahren eine Aufstellung der geleisteten Hilfen übersandt mit dem korrigierten Betrag i.H.v. 16.872 EUR. Dazu hat der Beklagte auch im nicht-öffentlichen Termin am 01.07.2022 keine Einwände erhoben. Anhaltspunkte dafür, dass die Höhe der von der Klägerin im streitigen Zeitraum erbrachten Leistungen, deren Erstattung gefordert wird, unzutreffend berechnet sein könnte, sind auch sonst nicht ersichtlich.
Die Berufung hat nach alledem im tenorierten Umfang Erfolg.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i.V.m. § 155 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). In Bezug auf das Berufungsverfahren orientiert sich die Kostenentscheidung am Umfang des Obsiegens bzw. Unterliegens der Beteiligten. Eine höhere bzw. volle Kostentragung für das erstinstanzliche Verfahren resultiert aus dem weiteren Obsiegen der Klägerin im Berufungsverfahren dagegen nicht, denn dieses fällt angesichts des weitreichenden Klagebegehrens, welches bis zur Konkretisierung zunächst beim SG erhoben worden ist, nicht ins Gewicht. Andererseits kommt auch eine Abänderung der Kostenentscheidung zu Lasten der Klägerin nicht in Betracht, soweit das Urteil des SG nicht angefochten worden ist.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Als Streitwert ist der von der Klägerin bei Einlegung der Berufung (§ 40 GKG) als Kostenersatz geforderte Betrag i.H.v. 20.314,80 EUR festzusetzen (§ 52 Abs. 1 und 3 GKG).