L 15 U 67/22

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 1 U 38/21
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 U 67/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 20.01.2023 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 27.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.01.2021 verurteilt, das Ereignis vom 30.10.2020 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

 

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.

 

Die Revision wird zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Klägerin auf Anerkennung eines Ereignisses als Arbeitsunfall im Sinne der §§ 7 Abs. 1, 8 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung – (SGB VII).

 

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin, die an einem frühkindlichen Hirnschaden leidet, ist seit September 1993 als Arbeiterin in einer Werkstatt für behinderte Menschen der E. gGmbH beschäftigt. Ihre tägliche Arbeitszeit reichte im streitgegenständlichen Zeitraum von 8 Uhr bis 14:30 Uhr. Die Klägerin verfügt über einen Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen G, H und RF. Sie steht unter gesetzlicher Betreuung durch ihre Mutter.

 

Nach einer Unfallanzeige des Werkstattträgers erlitt die Klägerin am 20.10.2020 während ihrer Mittagspause um 12:30 Uhr auf dem Außengelände der Werkstatt einen Unfall. Die Klägerin wurde von einem anderen behinderten Mitarbeiter, Herrn V., geschubst und fiel daraufhin zu Boden. Sie klagte danach über Schmerzen im rechten Oberschenkel. Am 03.11.2020 diagnostizierte der Durchgangsarzt des L. H. eine eingestauchte mediale Schenkelhalsfraktur rechts, die am 04.11.2020 operiert wurde. Die Klägerin befand sich bis zum 11.11.2020 in stationärer Behandlung.

 

Auf Nachfrage der Beklagten teilte der Werkstattträger mit, dass die Klägerin regelmäßig in der Mittagspause einen Spaziergang auf dem Außengelände der Werkstatt mache. Es handele sich um eine Runde von ca. 750 Metern. Von einem Ereignis, das den Spaziergang erforderlich gemacht habe, sei nichts bekannt.

 

Mit Bescheid vom 27.11.2020 lehnte die Beklagte die Anerkennung als Arbeitsunfall ab. Spaziergänge in der Mittagspause seien nicht der versicherten Tätigkeit, sondern dem persönlichen, unversicherten Lebensbereich zuzuordnen.

 

Mit Schreiben vom 01.12.2020 erhob die Klägerin Widerspruch. Sie habe sich kurz vor Ende der Pause wenige Meter vor dem Eingang befunden, an ihren Arbeitsplatz zurückkehren wollen und gleichzeitig die Toilette aufsuchen wollen. Sie mache dies täglich. Entgegen der Darstellung des Arbeitgebers habe der Täter sie nicht geschubst, sondern brutal zugestoßen. Es liege eine Aufsichtspflichtverletzung vor.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.01.2021 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Dieser sei nicht begründet. Die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls nach § 8 Abs. 1 SGB VII seien nicht erfüllt. Die Verrichtung zur Zeit des Unfalls habe nicht in einem inneren, sachlichen Zusammenhang mit der grundsätzlich versicherten Tätigkeit gestanden. Ein Spaziergang während einer Arbeitspause stehe nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur dann in einem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, wenn er aus besonderen Gründen zur notwendigen Erholung für eine weitere betriebliche Betätigung erforderlich sei. Der Versicherte müsse aufgrund besonderer Belastungen durch die bisher verrichtete Tätigkeit zur Durchführung des Spaziergangs veranlasst worden sein. Das allgemeine Interesse eines Unternehmers daran, dass Arbeitspausen in vernünftiger Weise zur Erholung und Entspannung verwendet würden, damit die Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer erhalten bleibe, reiche nicht aus. Der innere Zusammenhang sei nur anzunehmen, wenn die bisherige betriebliche Tätigkeit als wesentliche Ursache eine besondere Ermüdung verursacht habe. Eine Ausnahmesituation habe nicht vorgelegen. Die Klägerin unternehme regelmäßig einen Spaziergang während der Mittagspause. Damit handele es sich um eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit. Der Unfall habe sich auch nicht kurz vor Ende der Mittagspause ereignet, die von 12 Uhr bis 13 Uhr dauere. Der Toilettengang unterfalle hier nicht dem Unfallversicherungsschutz, da die vorherige Verrichtung nicht der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sei.

 

Am 15.02.2021 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Detmold erhoben.

 

Die Klägerin hat vorgetragen, sie sei während der Arbeitszeit sehr angespannt. Die Mittagspause sei behinderungsbedingt erforderlich, um die notwendige Konzentration für die Weiterarbeit zu erlangen. Sie habe von den Betreuern die Erlaubnis erhalten, auch während der Arbeitszeit den Werkraum zu verlassen und im Außenbereich einige Runden zu laufen. Bei dem Ereignis habe sie sich wenige Meter vor dem Eingang befunden, hinter dem die Toiletten lägen. Sie habe einen Rucksack getragen, von dem sich ein an einer autistischen Störung leidender Kollege bedroht gefühlt habe. Dieser habe sie angegriffen und zu Boden geschubst. Bei der rechtlichen Einordnung der Mittagspause sei zu beachten, dass sie sich bereits bei den Umkleideräumen vor der Eingangstür der Werkstatt befunden habe und ihre Handlungstendenz darauf gerichtet gewesen sei, ihre Beschäftigung wiederaufzunehmen. Ferner sei ihre Schwerbehinderung zu beachten, die eine Arbeit nur unter geschützten Bedingungen ermögliche. Darüber hinaus habe eine besondere Betriebsgefahr bestanden, die mit einer Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen einhergehe.

 

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2021 zu verurteilen, den Unfall vom 30.10.2020 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

 

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

 

Die Beklagte hat die Begründung des Widerspruchsbescheides wiederholt und ergänzend ausgeführt, der Spaziergang während der Mittagspause sei eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit, die nicht der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sei. Der Vortrag der Klägerin beschreibe keine Handlungstendenz, die auf die Wiederaufnahme der Arbeit gerichtet gewesen sei, sondern eine, die auf den eigenwirtschaftlichen Toilettengang gerichtet gewesen sei. Auch unter dem Aspekt einer besonderen Betriebsgefahr bestehe kein Versicherungsschutz. Auch dabei müsse der Arbeitnehmer zum Unfallzeitpunkt einer versicherten Tätigkeit nachgegangen sein. Schließlich fehle es an einer Betroffenheit des räumlich-zeitlichen Zusammenhangs des Arbeitsplatzes.

 

Auf Anfrage des Sozialgerichts hat der Werkstattträger mitgeteilt, dass am Unfalltag keine betriebliche Tätigkeit mit besonderen Belastungen oder Tätigkeiten stattgefunden habe, die im Vergleich zu den üblichen Tätigkeiten anders gewesen seien. Herr V. sei bisher nicht auffällig geworden. Eine Pausenaufsicht sei vorhanden gewesen.

 

Dazu hat die Klägerin ausgeführt, es hätten zwar keine außergewöhnlichen Umstände am Unfalltag vorgelegen, aber ihre Behinderung mache den Spaziergang grundsätzlich erforderlich. Eine Änderung ihrer täglichen Abläufe sei für sie nicht tolerabel. Eine durchgängige Pausenaufsicht sei nicht sichergestellt gewesen. Darüber hinaus habe am 12.11.2021 ein erneuter Übergriff durch Herrn V. auf sie stattgefunden.

 

Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 20.01.2022 die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII seien nicht erfüllt. Die Verrichtung der Klägerin zur Zeit des Unfallereignisses habe nicht in einem inneren bzw. sachlichen Zusammenhang zu ihrer versicherten Tätigkeit als Arbeiterin gestanden. Vielmehr habe es sich um eine eigenwirtschaftliche Verrichtung gehandelt. Das Spazierengehen während der Mittagspause entspreche weder einer Haupt- noch einer Nebenpflicht aus ihrem Beschäftigungsverhältnis. Die eigenwirtschaftliche Verrichtung habe auch nicht ausnahmsweise unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden. Der Versicherungsschutz ergebe sich nicht aus einer besonderen Betriebsgefahr. Für eine Aufsichtspflichtverletzung des Arbeitgebers gebe es keine ausreichenden Anhaltspunkte. Der Angreifer sei vor dem streitgegenständlichen Ereignis nicht auffällig gewesen. Der Spaziergang sei auch nicht wegen seiner objektivierten Handlungstendenz betriebsdienlich gewesen. Die Klägerin sei zuvor keinen besonderen Belastungen ausgesetzt gewesen, die eine Erholung erforderlich gemacht hätten. Dass die Klägerin unmittelbar nach dem Angriff ihre Notdurft habe verrichten wollen, führe auch nicht zu einer anderen Betrachtung, denn ihre vorherige Verrichtung sei nicht der versicherten Tätigkeit zuzurechnen gewesen. Aus diesem Grund bestehe auch kein Versicherungsschutz unter dem Aspekt eines Überfalls. Der Gerichtsbescheid ist der Klägerin am 24.01.2022 zugestellt worden.

 

Am 23.02.2023 hat die Klägerin Berufung eingelegt.

 

Die Klägerin rügt in Ergänzung ihres bisherigen Vortrags eine unzureichende Sachaufklärung durch das Sozialgericht. Dieses hätte die Frage der Notwendigkeit des Spaziergangs für die Ausübung ihrer versicherten Tätigkeit gutachterlich untersuchen müssen.  

 

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 20.01.2022 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 27.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.01.2021 zu verurteilen, den Unfall vom 30.10.2020 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

 

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

 

Die Beklagte ist der Ansicht, die Klägerin verkenne die Grundsätze, nach denen das BSG einen inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit auch für Tätigkeiten annehme, die während einer Pause ausgeübt würden. Dieser innere Zusammenhang bestehe nur, wenn die Tätigkeit während der Pause dem Betrieb zu dienen bestimmt gewesen sei. Der Spaziergang während einer Arbeitspause müsse aus besonderen Gründen zur notwendigen Erholung für eine weitere betriebliche Betätigung erforderlich sein, sofern der Versicherte aufgrund besonderer Belastungen durch die bisher verrichtete betriebliche Tätigkeit zur Durchführung des Spaziergangs veranlasst gewesen sei, um sich zu erholen und seine Arbeitsfähigkeit für die nachfolgende betriebliche Tätigkeit wiederherzustellen oder jedenfalls zu erhalten. Für den Personenkreis der behinderten Menschen, die in anerkannten Behindertenwerkstätten tätig seien und nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII in die gesetzliche Unfallversicherung aufgenommen seien, gälten die gleichen Grundsätze zur Begründung und zum Umfang des Versicherungsschutzes. Für eine Ausweitung des Versicherungsschutzes auf eigenwirtschaftliche Tätigkeiten sei kein Raum. Damit sei nicht entscheidungserheblich, ob die Klägerin aufgrund ihrer Behinderung einen Spaziergang habe machen müssen, um ihre Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Der Spaziergang sei nicht aufgrund besonderer Belastungen durch die bisher verrichtete Tätigkeit veranlasst gewesen. Damit sei die Einholung eines neuropsychologischen Sachverständigengutachtens ebenfalls nicht entscheidungserheblich.

 

 

Der Senat hat einen Befundbericht der die Klägerin seit März 2018 behandelnden Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie S. angefordert. Diese hat die Diagnosen Minderbegabung und soziale Phobie sowie weiter mitgeteilt, dass sich der Zustand der Klägerin als Folge der Gewalterfahrung deutlich verschlechtert habe.

 

Auf Nachfrage des Senats hat die E. gGmbH mitgeteilt, dass sich die Klägerin während des Ereignisses noch auf dem Außengelände befunden habe, dass es hin und wieder Auseinandersetzungen verbaler Art in Form von Beschimpfungen und Drohgebärden gebe, tätliche Übergriffe aber sehr selten vorkämen.

 

Die Klägerin hat entgegnet, der Täter sei ausweislich der Polizeiakte in seinem bisherigen Umfeld mehrfach übergriffig geworden und habe nur in Begleitung in die Pause gehen können. Die Maßnahmen des Werkstattträgers zum Schutz vor Übergriffen seien unzureichend gewesen. Am 12.11.2021 sei es zu einem weiteren Übergriff desselben Mitarbeiters auf sie gekommen. Die Polizeiakte enthalte einen Gesprächsvermerk des Werkstatträgers der Klägerin vom 18.11.2021 über die Einholung von Auskünften der Schule, die der Angreifer zuvor besucht habe. Wann genau Kenntnis von den vorherigen vier Übergriffen vorgelegen habe, sei der Akte nicht zu entnehmen.

 

Der Senat hat daraufhin die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft R. beigezogen, die mehrere Mitteilungen des Werkstattträgers an die ermittelnde Polizei enthält. Danach war der Klägerin und dem Angreifer keine direkte Aufsichtsperson zugeteilt worden, da eine 1.1-Betreuung als nicht erforderlich angesehen wurde. Während der Pausenzeiten bestand grundsätzlich eine Aufsichtspflicht für alle Fachkräfte. Auf die Frage, ob ähnliche Übergriffe bekannt waren, verwies der Werkstattträger auf einen Vermerk vom 24.11.2021, nach dem die Mitarbeiterin Frau X. „zwischenzeitlich“ erfahren hatte, dass sich in der Schule des Täters vier ähnliche Vorfälle zugetragen hatten und dieser daraufhin nur in Begleitung in die Pause gehen durfte. Der am 00.00.0000 geborene Angreifer war seit dem 02.09.2019 (Beginn des Eingangsverfahrens) in der Werkstatt für behinderte Menschen der E. gGmbH tätig und war dort seit dem 02.01.2020 an dem Standort, an dem sich der Unfall ereignete, in der Montage tätig.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten und der beigezogenen Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft R. Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Das Sozialgericht hat die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zu Unrecht abgewiesen. Die Klage ist begründet. Die Klägerin ist durch den Bescheid vom 27.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2021 gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, denn der Bescheid ist rechtswidrig. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Anerkennung des Ereignisses vom 30.10.2020 als Arbeitsunfall im Sinne der §§ 7 Abs. 1, 8 SGB VII.

 

Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 23 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht, namentlich der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht hat (Unfallkausalität und haftungsbegründende Kausalität (st. Rspr., zuletzt BSG, Urteile vom 22.06.2023, B 2 U 19/21 R, juris Rn. 8, vom 30.03.2023, B 2 U 1/21R, juris Rn. 15, und vom 31.03.2022, B 2 U 5/20 R, juris Rn. 13).

 

Diese Voraussetzungen liegen vor.

 

1. Die Klägerin hat am 30.10.2020 einen Unfall im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII erlitten. Dass Herr V. die Klägerin zu Boden schubste, stellt ein zeitlich begrenztes, von außen auf ihren Körper einwirkendes Ereignis dar. Dieses führte im Sinne der haftungsbegründenden Kausalität zu einem Gesundheitsschaden, denn die Klägerin erlitt durch den Sturz eine eingestauchte mediale Schenkelhalsfraktur rechts. Dies steht fest aufgrund der Unfallanzeige des Arbeitgebers der Klägerin und des Berichtes des Durchgangsarztes des L. H..

 

2. Die Klägerin unterstand bei dem Unfall auch dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

 

a) Die mit einem anerkannten Grad der Behinderung von 100 schwerbehinderte Klägerin war im Zeitpunkt des Unfalls grundsätzlich gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert, denn sie war als behinderter Mensch bei der E. gGmbH, bei der es sich um eine anerkannte Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) im Sinne des § 225 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX) handelt, als Arbeiterin tätig. Die Klägerin war demgegenüber nicht Beschäftigte im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII. Zwar kann, wie sich auch aus § 221 Abs. 1 SGB IX ergibt, auch zwischen einem behinderten Menschen und einer WfbM ein Beschäftigungsverhältnis bestehen (BSG, Urteil vom 18.01.2011, B 2 U 9/10 R, juris Rn. 14). Arbeitnehmer und damit Beschäftigte sind die in einer WfbM tätigen behinderten Menschen aber nur dann, wenn bei ihnen die Arbeitsleistung und nicht der Zweck des § 219 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX, nämlich die Ermöglichung einer der Behinderung angemessenen Beschäftigung, im Vordergrund des Aufenthalts in der WfbM steht (Schramm, in: jurisPK-SGB IX, § 221 Rn. 16 m.w.N.). Dies ist bei der Klägerin nicht der Fall. Die Klägerin erbringt zwar eine Arbeitsleistung. In Anbetracht der Schwere ihrer Behinderung steht bei ihr aber der spezifische Teilhabeaspekt der Tätigkeit in einer WfbM, dem § 219 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX Rechnung trägt, eindeutig im Vordergrund.

 

b) Allerdings ist die Verrichtung der Klägerin zur Zeit des Unfalls nicht ihrer versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Es bestand vom Grundsatz her kein innerer, sachlicher Zusammenhang zu ihrer versicherten Tätigkeit.

 

aa) (1) Der sachliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Verrichtung zur Zeit des Unfalls ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (st. Rspr., zuletzt BSG, Urteile vom 22.06.2023, B 2 U 19/21 R, juris Rn. 14, vom 30.03.2023, B 2 U 3/21 R, juris Rn. 22, vom 28.06.2022, B 2 U 8/20 R, juris Rn. 13, und vom 31.03.2022, B 2 U 5/20 R, juris Rn. 13). Versicherter im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII und damit von der gesetzlichen Unfallversicherung geschützt ist jemand grundsätzlich nur, wenn, solange und soweit er den Tatbestand einer versicherten Tätigkeit durch eigene Verrichtungen erfüllt. Eine Verrichtung ist jedes konkrete Handeln eines Verletzten, das (objektiv) seiner Art nach von Dritten beobachtbar und (subjektiv) – zumindest auch – auf die Erfüllung des Tatbestands der jeweiligen versicherten Tätigkeit ausgerichtet ist. Diese innere Tatsache der subjektiven Ausrichtung des objektiven konkreten Handelns des Verletzten wird als „Handlungstendenz" bezeichnet. Wenn das beobachtbare objektive Verhalten allein noch keine abschließende Subsumtion unter den jeweiligen Tatbestand der versicherten Tätigkeit erlaubt, diese aber auch nicht ausschließt, kann die finale Ausrichtung des Handelns auf die Erfüllung des jeweiligen Tatbestands, soweit die Intention objektiviert ist (sog. objektivierte Handlungstendenz), die Subsumtion tragen. Die bloße Absicht einer Tatbestandserfüllung reicht hingegen nicht (BSG, Urteil vom 05.07.2016, B 2 U 5/15 R, juris Rn.15).

 

(2) Bei Beschäftigungen im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII liegt deshalb eine versicherte Verrichtung vor, wenn eine eigene Tätigkeit in Eingliederung in das Unternehmen eines anderem zu dem Zweck verrichtet wird, dass die Ergebnisse der Verrichtung diesem und nicht ihr selbst unmittelbar zum Vorteil oder Nachteil gereichen. Es kommt objektiv auf die Eingliederung des Handelns der verletzten Person in das Unternehmen eines anderen und subjektiv auf die zumindest auch darauf gerichtete Willensausrichtung an, dass die eigene Tätigkeit unmittelbare Vorteile für das Unternehmen des anderen bringen soll. Eine Beschäftigung wird daher ausgeübt, wenn die Verrichtung zumindest dazu ansetzt und darauf gerichtet ist, entweder eine eigene objektiv bestehende Haupt- oder Nebenpflicht aus dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis zu erfüllen, oder die verletzte Person eine objektiv nicht geschuldete Handlung vornimmt, um einer vermeintlichen Pflicht aus dem Rechtsverhältnis nachzugehen, sofern sie nach den besonderen Umständen ihrer Beschäftigung zur Zeit der Verrichtung annehmen durfte, sie treffe eine solche Pflicht, oder sie unternehmensbezogene Rechte aus dem Rechtsverhältnis ausübt (stRspr., vgl. statt vieler BSG, Urteil vom 28.06.2022, B 2 U 8/20 R, juris Rn. 15 m.w.N.).

 

Daraus folgt, dass nicht alle Verrichtungen eines grundsätzlich versicherten Arbeitnehmers im Laufe eines Arbeitstags auf der Arbeitsstätte versichert sind, weil nach dem Wortlaut des § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII nur Unfälle „infolge" der versicherten Tätigkeit Arbeitsunfälle sind und es einen sogenannten Betriebsbann nur in der Schifffahrt (§ 10 SGB VII), nicht aber in der übrigen gesetzlichen Unfallversicherung gibt (BSG, Urteile vom 18.11.2008, B 2 U 31/07 R, juris Rn. 11, und vom 12.04.2005, B 2 U 11/04 R, juris Rn. 14). Typischerweise und in der Regel unversichert sind höchstpersönliche Verrichtungen wie zum Beispiel das Essen; sie führen zu einer Unterbrechung der versicherten Tätigkeit und damit auch in der Regel zu einer Unterbrechung des Versicherungsschutzes (BSG, Urteile vom 18.11.2008, B 2 U 31/07 R, juris Rn. 11, und vom 12.04.2005, B 2 U 11/04 R, juris Rn. 14). Gleiches gilt für einen Spaziergang während der Mittagspause. Verunglückt ein Versicherter während einer Pause infolge einer Tätigkeit, die er während der Pause ausübt, besteht der innere Zusammenhang nur, wenn diese Tätigkeit dem Betrieb zu dienen bestimmt war. Ein Spaziergang während einer Arbeitspause ist deshalb nur dann versichert, wenn der Versicherte aufgrund besonderer Belastungen durch die bisher verrichtete betriebliche Tätigkeit zur Durchführung des Spaziergangs veranlasst war, um sich zu erholen und seine Arbeitsfähigkeit für die nachfolgende betriebliche Tätigkeit wiederherzustellen oder jedenfalls zu erhalten. Insoweit besteht eine Parallele etwa zur Aufnahme von Nahrung während der Arbeitspause (BSG, Urteil vom 26.06.2001, B 2 U 30/00 R, juris Rn. 16 f.; Landessozialgericht [LSG] Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.11.2015, L 17 U 325/13, juris Rn. 29; LSG Hamburg, Urteil vom 14.09.2022, L 2 U 20/21, juris Rn. 31).

 

(3) Die für Beschäftigte im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII entwickelten Grundsätze für die Abgrenzung von versicherten Verrichtungen und nicht versicherten, eigennützigen Verrichtungen, gelten auch für Versicherte im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII, wie die Klägerin. Für einen grundsätzlich auch private Verrichtungen während der Pausenzeiten umfassenden Versicherungsschutz lässt sich kein methodisch tragfähiges Argument finden (in diesem Sinne auch Keller, in: Hauck/Noftz, SGB VII, § 8 Rn. 19a, 170a).

 

Schon nach seinem Wortlaut schützt § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII nur behinderte Menschen, die in einer WfbM „tätig sind“. Im Gegensatz hierzu stellt beispielsweise § 2 Abs. 1 Nr. 8 Buchst. a) und b) SGB VII Kinder und Schüler „während des Besuchs“ von Tageseinrichtungen bzw. „von allgemein- oder berufsbildenden Schulen“ unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Letzteres impliziert einen Versicherungsschutz auch während der Pausen. Vor allem folgt die Übertragbarkeit der für Beschäftigte im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII geltenden Grundsätze aus der Entstehungsgeschichte des § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter in geschützten Einrichtungen vom 07.05.1975 (SVBG – BGBl. I 1061) waren körperlich, geistig oder seelisch Behinderte, die in nach dem Schwerbehindertengesetz anerkannten Werkstätten für Behinderte, Blindenwerkstätten, Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen beschäftigt wurden, in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung versichert. Behinderte, die ohne oder gegen Entgelt in gewisser Regelmäßigkeit eine Leistung erbrachten, die einem Fünftel der Leistung eines voll erwerbsfähigen Beschäftigten in gleichartiger Beschäftigung entsprach, galten nach § 2 Abs. 2 SVBG als beschäftigt. Aus § 3 Abs. 1 Satz 2 SVBG, der die nach §§ 1 und 2 SVBG Versicherten den aufgrund einer entgeltlichen Beschäftigung Versicherten gleichstellte, hatte das BSG abgeleitet, dass sich die gesetzliche Unfallversicherung der Beschäftigten im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) auf in Werkstätten für Behinderte Beschäftigte erstrecke (siehe hierzu im Überblick BSG, Urteil vom 18.01.2011, B 2 U 9/10 R, juris Rn. 29). Durch die Aufhebung des SVBG durch Art. 83 Nr. 24 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vom 18.12.1989 (Rentenreformgesetz 1992 - RRG 1992, BGBl. I  2394) zum 01.01.1992 und dem damit einhergehenden Entfallen der Beschäftigungsfiktion war im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung eine Lücke für die in einer WfbM tätigen behinderten Menschen entstanden. Diese wollte der Gesetzgeber mit der Einführung von § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII durch das Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz – UVEG) vom 07.08.1996 (BGBl. I 1254, 1317) zum 01.01.1997 schließen (vgl. BT-Drucks. 13/2204 S. 74). Zweck der Regelung des § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII ist es dementsprechend, den Versicherungsschutz Schwerstbehinderter demn von Beschäftigten gleichzustellen (Riebel, in: Hauck/Noftz, SGB VII, § 2 Rn. 46a, Stand: 3. Ergänzungslieferung 2021). Für eine Ausweitung des Umfangs versicherter Verrichtung von Versicherten nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII gegenüber Beschäftigten besteht deshalb kein tragfähiger Grund.

 

bb) Ausgehend von diesen Grundsätzen ging die Klägerin im Zeitpunkt des Angriffs ihres Arbeitskollegen Herrn V. keiner versicherten Verrichtung nach. Ein sachlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Verrichtung zur Zeit des Unfalls besteht nicht deshalb, weil die Klägerin einer Verpflichtung aus ihrem Arbeitsverhältnis nachkam. Vielmehr befand sich die Klägerin zum Zeitpunkt des Unfalls in der Mittagspause und unternahm zu ihrer eigenen Erholung einen Spaziergang auf dem Außengelände der Werkstatt. Damit hat sie nicht eine Haupt- oder Nebenpflicht aus ihrem Beschäftigungsverhältnis erfüllt und auch nicht eine nicht geschuldete Handlung mit der objektivierten Handlungstendenz vorgenommen, ihre vertraglichen Pflichten zu erfüllen (vgl. BSG, Urteil vom 31.01.2012, B 2 U 2/11 R, juris Rn. 18). Sofern die Klägerin argumentiert, die Mittagspause sei behinderungsbedingt erforderlich, um die notwendige Konzentration für die Weiterarbeit zu erlangen, führt dies zu keiner anderen Betrachtung. Auch wenn der Werkstattträger ein Interesse daran haben wird, dass die Klägerin die Pausen nutzt, um ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten, genügt dies nicht, um eine versicherte Tätigkeit zu begründen, denn im Vordergrund steht bei der Klägerin ein Grundbedürfnis nach Erholung nach konzentrierter Beschäftigung, das unabhängig von ihrer beruflichen Tätigkeit besteht (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 26.01.2021, L 3 U 131/18, juris Rn. 50, zur Nahrungsaufnahme). Dass besondere Belastungen durch die bisher verrichtete betriebliche Tätigkeit die Klägerin zu ihrem Spaziergang veranlasst haben, ist nicht ersichtlich. Besondere Belastungen oder Tätigkeiten, die im Vergleich zu den üblichen Tätigkeiten anders waren, hat der E. gGmbH im Schreiben vom 22.06.2021 ausdrücklich verneint. Darüber hinaus hat die Klägerin selbst vorgetragen, dass sie stets einen Spaziergang in der Mittagspause machen müsse, um sich von den Anforderungen ihrer Tätigkeit zu erholen. Damit ist der Spaziergang aus Sicht der Klägerin wegen der generellen, alltäglichen Belastungen der versicherten Tätigkeit jeden Tag notwendig. Zu besonderen Belastungen am Tag des Unfalls hat sie nichts vorgetragen und insoweit bestehen auch keine Anhaltspunkte. Den Spaziergang am Tag des Angriffs hat sie deshalb ebenso wie an jedem anderen Beschäftigungstag zur Befriedigung ihres allgemeinen Bedürfnisses nach Erholung vorgenommen. Er diente damit sowohl objektiv als auch subjektiv ihrem rein privaten Interesse.

 

Zu einer anderen Bewertung führt auch nicht die Einlassung der Klägerin, sie habe unmittelbar im Anschluss an den Spaziergang die Toilette sowie anschließend ihren Arbeitsplatz aufsuchen wollen und sich bereits auf dem Weg in Richtung der Toilette befunden, wenngleich sie das Betriebsgebäude, in dem sich die Toilette befand, noch nicht betreten hatte. Zwar sind Wege zur Toilette auf der Betriebsstätte anders als die Verrichtung der Notdurft selbst nach ständiger Rechtsprechung als Betriebswege versichert, weil sie zum einen durch die Notwendigkeit, persönlich auf dem Betriebsgelände anwesend zu sein und dort die betriebliche Tätigkeit zu verrichten, und zum anderen durch das mittelbar betriebsbezogene Ziel, die aktuelle Tätigkeit fortsetzen zu können, geprägt sind (st. Rspr., BSG, Urteil vom 06.12.1989, 2 RU 5/89, juris Rn. 13, 15,). Es kann jedoch nicht festgestellt werden, dass sich die Klägerin bereits auf dem Weg zur Toilette befand. Die Klägerin kann wegen ihrer Behinderung zu der Zielrichtung ihres Wegs nicht befragt werden und hierüber keine Auskunft geben. Wie die für die Klägerin handelnden Personen zu der Behauptung gelangt sind, die Klägerin sei auf dem Weg zur Toilette gewesen, erschließt sich nicht. Ob die Klägerin wirklich das Handlungsziel verfolgte, das Betriebsgebäude zu betreten, um dort die Toilette aufzusuchen, lässt sich nicht verifizieren. Zudem ist eine etwaige Handlungstendenz der Klägerin, die Toilette im Betriebsgebäude aufzusuchen, nicht objektivierbar. Der Angriff auf die Klägerin fand, wie der E. gGmbH auf Nachfrage des Senats bestätigt hat (zuletzt im Schreiben vom 06.10.2022), auf dem Außengelände um 12.30 Uhr statt. Zu diesem Zeitpunkt dauerte die von 12.00 Uhr bis 13.00 Uhr reichende Mittagspause der Klägerin noch an. Ob die Klägerin sich bereits zur Eingangstür des Betriebsgebäudes hingewendet und ihre Wegrichtung dorthin gelenkt hat, ist nicht feststellbar. Zeugen für das Ereignis gibt es nicht. Die Klägerin und der Angreifer können wegen ihren Behinderungen hierüber keine Auskunft geben. Darüber hinaus erschließt sich nicht, warum die Klägerin ihre Mittagspause bereits um 12.30 Uhr hätte beenden sollen, um, wie die für die Klägerin handelnden Personen selbst vorgetragen haben, nach einem Toilettenbesuch an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Ein plausibler Grund wird hierfür nicht vorgetragen.

 

Von daher kann dahinstehen, ob Wege zur Toilette auch dann versichert sind, wenn sie aus der Mittagspause heraus angetreten werden. Ebenso wenig muss entschieden werden, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Rückweg von einem Spaziergang mit dem Ziel der Wiederaufnahme der versicherten Tätigkeit nach Beendigung der Mittagspause als Betriebsweg oder nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versichert sein kann (siehe hierzu Hessisches LSG, Urteil vom 14.09.2019, L 9 U 208/17, juris Rn. 42), denn eine objektivierte Handlungstendenz der Klägerin zum Aufsuchen des Arbeitsplatzes ist ebenfalls nicht feststellbar.

 

c) Das Vorliegen eines sachlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der Verrichtung zur Zeit des Unfalls ist hier aber wegen der Verwirklichung einer besonderen Betriebsgefahr entbehrlich, so dass sich der Versicherungsschutz ausnahmsweise auch auf die private Verrichtung während der Pause erstreckte (vgl. BSG, Urteil vom 18.11.2008, B 2 U 31/07 R, juris Rn. 25).

 

Nach dem Grundsatz der besonderen Betriebsgefahr erleidet ein Versicherter unabhängig von der zur Zeit des Unfalls konkret durch ihn ausgeübten Verrichtung und der dieser Verrichtung zugrundeliegenden Handlungstendenz einen Arbeitsunfall, wenn der Unfall durch eine spezifische Gefahr verursacht wurde, die der versicherten Tätigkeit aufgrund ihrer besonderen Beziehung zu dieser Gefahr zuzurechnen ist (BSG, Urteil vom 18.11.2008, B 2 U 31/07 R, juris 25 f.). Es muss sich um eine gerade mit den betrieblichen Abläufen und der Betriebsstätte unmittelbar zusammenhängende, typische Gefahr handeln (BSG, Urteile vom 18.11.2008, B 2 U 27/07 R, juris Rn. 26, und vom 30.06.1999, B 2 U 28/98 R, juris Rn. 20; Hessisches LSG, Urteil vom 26.01.2021, L 3 U 131/18, juris Rn. 59). Eine besondere Betriebsgefahr liegt damit vor, wenn der Versicherte sich wegen einer versicherten Tätigkeit an einem Ort aufhält, an dem sich objektiv gefahrenträchtige Einrichtungen befinden oder gefährliche Arbeiten durchgeführt werden oder wenn er wegen seiner versicherten Tätigkeit auch im privaten Bereich gefährdet ist, von Dritten angegriffen zu werden, denn die gesetzliche Unfallversicherung schützt die Versicherten gegen solche Gefahren, denen sie im Wesentlichen wegen ihrer versicherten Tätigkeit ausgesetzt sind (BSG, Urteile vom 12.05.2009, B 2 U 12/08, juris Rn. 30, und vom 12.12.2006, B 2 U 28/05 R, juris Rn. 32). Trotz einer eigenwirtschaftlichen Verrichtung ist der Beschäftigte gegen Gefahren aus dem Bereich seines Arbeitsplatzes versichert, wenn er sich im Wesentlichen wegen seiner versicherten Beschäftigung dort aufhält und sich eine spezifische Gefahr verwirklicht, der der Versicherte durch seine Eingliederung in den Betrieb ausgesetzt ist (BSG, Urteil vom 12.05.2009, B 2 U 12/08, juris Rn. 30). Dabei muss die besondere Betriebsgefahr auf den mit einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit befassten Versicherten im räumlich-zeitlichen Bereich seines Arbeitsplatzes einwirken (BSG, Urteil vom 22.11.1976, 2 RU 101/75, juris Rn. 21; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, 3. Ergänzungslieferung 2023, § 8 Rn. 45), ohne dass diese private Verrichtung wesentlich zur Bedrohung durch die zum Unfall führende Betriebsgefahr beigetragen hat (BSG, Urteil vom 12.05.2009, B 2 U 12/08, juris Rn. 30 f.). Der Versicherungsschutz auf dieser Grundlage ist durch den Sinn und Zweck der Unfallversicherung begründet, die Beschäftigten gegen die Gefahren des Betriebs zu versichern, denen sie wegen ihrer Beschäftigung dort ausgesetzt sind, und die Unternehmen von möglichen Schadensersatzansprüchen ihrer Beschäftigten freizustellen (BSG, Urteile vom 12.05.2009, B 2 U 12/08, juris Rn. 30, und vom 18.11.2008, B 2 U 31/07 R, juris Rn. 25; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, 3. Ergänzungslieferung 2023, § 8 Rn. 4).

 

Zwar verbietet sich die pauschale Annahme, dass von behinderten Menschen eine spezifische Gefahr ausgeht und eine Werkstatt für behinderte Menschen wegen der dort tätigen Menschen einen objektiv gefahrenträchtigen Arbeitsplatz darstellt. Im konkreten Fall hat sich jedoch eine mit der Tätigkeit in der WfbM des E. gGmbH verbundene spezifische Gefahr für die Klägerin verwirklicht.

 

Die Örtlichkeit des Angriffs befand sich auf dem umzäunten Außengelände der Werkstatt und damit im räumlich-zeitlichen Bereich des Arbeitsplatzes. Dies wird dadurch unterstrichen, dass der Werkstattträger auf dem Werkstattgelände begleitete Spaziergänge initiiert und grundsätzlich eine Aufsicht sicherstellt.

 

In der konkreten Situation, in der sich der streitgegenständliche Unfall ereignete, befand sich die Klägerin nur, weil sie ihren Arbeitsplatz auch während der Pause behinderungsbedingt nur bis in den Bereich des umzäunten Außengeländes verlassen konnte. Dort war sie der Aggression des Angreifers ausgesetzt, ohne sich entfernen zu können. Auch der ebenfalls in der WfbM tätige Angreifer konnte sich in der Mittagspause nur auf dem Betriebsgelände bewegen.

 

Darüber hinaus erfolgte der Angriff selbst ausschließlich wegen der Behinderung des an frühkindlichem Autismus und einer geistigen Behinderung leidenden Angreifers. Dieser war, wie sich aus den beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft R., Az.: 502 JS 4370/21, und den dort enthaltenen Auskünften der E. gGmbH ergibt, bereits während eines Schulpraktikums durch aggressives Verhalten aufgefallen und durfte dort nur in Begleitung in die Pause (vgl. die „Stellungnahme zum Vorfall V./Serbent vom 24.11.2021, Bl. 134 der Gerichtsakte). Es ist weder ersichtlich, dass rein private Motive für den Angriff ursächlich waren, noch, dass ein Verhalten der Klägerin wesentlich zu dem Angriff beigetragen hat. Die Klägerin hatte vor dem Angriff keinerlei privaten Kontakt zu dem Angreifer, der zudem in einer anderen Abteilung arbeitete. Offensichtlich hat den Angreifer irgendetwas an der Klägerin provoziert oder gestört, obwohl es hierfür keinerlei objektiven Grund oder Anlass gab. Dies zeigt sich auch daran, dass der Angreifer die Klägerin am 12.11.2021 nochmals ohne erkennbaren Grund angegriffen hat. Die Ursache des Übergriffs kann damit nur in der Behinderung des Angreifers gesehen werden. Der Gefahr eines solchen behinderungsbedingten Übergriffs war die Klägerin nur deshalb ausgesetzt, weil sie in der WfbM der E. gGmbH tätig war und dort mit dem ebenfalls behinderten und darüber hinaus ihr gegenüber wegen seiner Behinderung aggressiven Angreifer zusammentraf.

 

Schließlich kommt hier eine Aufsichtspflichtverletzung des Arbeitgebers in Betracht, so dass ein wesentlicher Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung (Sicherung des Betriebsfriedens; Freistellung des Unternehmers von Schadensersatzansprüchen) einschlägig ist. So hat die E. gGmbH zwar stets geltend gemacht, in ihrem Zuständigkeitsbereich sei der Angreifer nie durch aggressives Verhalten aufgefallen und auch die Schule, in der der Angreifer das Schulpraktikum absolviert habe, habe über das dort gezeigte aggressive Verhalten keine Informationen abgegeben. Die Mutter der Klägerin hat diesen Vortrag jedoch in Zweifel gezogen und die Auffassung vertreten, die E. gGmbH hätte dem Angreifer während der Mittagspausen eine Aufsichtsperson zuteilen müssen. Aus den beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft R. geht hervor, dass eine Mitarbeiterin des Werkstattträgers „zwischenzeitlich“ erfahren habe, dass es während des Schulpraktikums des Angreifers „4 ähnliche Vorfälle“ gegeben habe. Von daher hängt das Vorliegen von Aufsichtspflichtverletzungen der E. gGmbH wesentlich davon ab, ob und ggf. ab wann der Werkstattträger Kenntnis von der Gefährlichkeit des Angreifers hatte. Die schwierige Auseinandersetzung hierüber kann und soll durch die Einbeziehung des Ereignisses vom 30.10.2020 in den Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung unter dem Gesichtspunkt der betriebsspezifischen Gefahr vermieden werden. Dies dient auch dem Schutz der WfbM als Einrichtung für behinderte Menschen. Die Einbeziehung solcher Ereignisse, wie dem hier streitgegenständlichen, in den Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung, ermöglicht dem Werkstattträger, ein Konzept zu entwickeln, das dem Schutzbedürfnis und der Freiheit der in der WfbM Tätigen gleichermaßen Rechnung trägt. Würde es im Fall von tätlichen Übergriffen stets zu zivilrechtlichen Auseinandersetzungen über die Reichweite der Aufsichtspflicht des Werkstattträgers kommen, wäre die WfbM als Ort, an dem behinderte Menschen einer für sie angemessenen Beschäftigung nachgehen und sich im Rahmen ihrer gesundheitlichen Möglichkeiten frei entfalten können, gefährdet.

 

2. Auch die Unfallkausalität, d.h. die Kausalität zwischen der Einwirkung von außen auf den Körper der Klägerin und der unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehenden Verrichtung ist zu bejahen. Sie wird nicht dadurch infrage gestellt, dass hier ein vorsätzlicher Angriff vorliegt. Wenn, wie hier, der Angriff bei einer unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehenden Tätigkeit erfolgt, scheidet die Anerkennung als Arbeitsunfall wegen fehlender Unfallkausalität nur aus, wenn der Angriff in keiner sachlichen Verbindung mit der versicherten Tätigkeit des Verletzten steht, sondern z.B. aufgrund einer persönlichen Feindschaft erfolgt und keine der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Verhältnisse (z.B. Dunkelheit, Dämmerung, einsam gelegener Tatort, örtliche Gegebenheiten) den Überfall wesentlich begünstigt haben (zusammenfassend BSG, Beschluss vom 12.04.2022, B 2 U 10/21 BH, juris Rn. 9 m.w.N.). Diese Ausnahmetatbestände liegen nicht vor. Wenn sich, wie hier in dem tätlichen Angriff gerade eine betriebsspezifische Gefahr verwirklicht, muss konsequenterweise auch die Unfallkausalität angenommen werden. Wie bereits ausgeführt, wurde der Angriff auch wesentlich durch die örtlichen Gegebenheiten begünstigt. Grund für den Angriff war allein die individuelle, behinderungsbedingte Aggressivität des Angreifers; private Motive spielten keine Rolle.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil es zum Umfang des Versicherungsschutzes bei im Arbeitsbereich einer WfbM Tätigen noch keine höchstrichterliche Entscheidung gibt.

 

Rechtskraft
Aus
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