L 5 KR 622/16

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 3 KR 1623/14
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 622/16
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

§ 275 Abs. 1c S. 4 ist nicht auf Prüffälle vor dem 01.01.2016 anzuwenden.

 

I. Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts München vom 20.10.2016 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

IV. Der Streitwert wird auf 300,- € festgesetzt.


T a t b e s t a n d :

Streitig ist die Erstattung einer Aufwandspauschale in Höhe von 300 Euro.

Der bei der Beklagten versicherte D im wurde im Krankenhaus der Klägerin vom 14. Juli 2010 bis 4. August 2010 stationär behandelt. Die Klägerin stellte für diesen Aufenthalt am 3. September 2010 gegenüber der Beklagten einen Betrag in Höhe von 3662,31€ in Rechnung. Die Beklagte beauftragte daraufhin am 23. September 2010 den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Bayern (MDK) mit den Fragestellungen, ob die Nebendiagnosen korrekt kodiert sei, eine medizinische Notwendigkeit zur stationären Behandlung bestand und ob eine Überschreitung der oberen Grenzverweildauer vorlag.

Der MDK gelangte in seiner Stellungnahme vom 2. Dezember 2010 zu dem Ergebnis, dass die stationäre Behandlung des Patienten medizinisch notwendig und auch die gesamte Verweildauer plausibel gewesen sei. Nicht belegt sei jedoch die Nebendiagnose J 96.1, es ergebe sich die Nebendiagnose J 44.99, so dass sich daran anknüpfend die DRG E 75C ergebe. Die von der Klägerin ermittelte DRG E 75 B sei insofern nicht korrekt.

Durch die Nachkodierung war der Behandlungsfall um 866,09 € höher abzurechnen, so dass die Klägerin am 31. Dezember 2010 einen erhöhten Rechnungsbetrag von 4.530,95 € geltend machte. Weiter stellte die Klägerin der Beklagten am 17. Februar 2011 die hier streitige Aufwandspauschale in Höhe von 300 € in Rechnung. Nachdem die Beklagte der Zahlungsaufforderung nicht nachkam, hat die Klägerin am 29. Dezember 2014 Leistungsklage zum Sozialgericht München erhoben. Die Aufwandspauschale sei auch dann zu entrichten, wenn die Prüfung nicht zu einer Minderung, sondern zu einer Erhöhung des Rechnungsbetrages führe. Dass die Klägerin die ursprüngliche Rechnung auf null gesetzt habe, sei unerheblich, da der Gesetzeswortlaut eindeutig auf den Abrechnungsbetrag abstelle. Mithin ziele die Gesetzesintention des § 275 Abs. 1c S. 3 SGB V gerade darauf ab, erheblichen Verwaltungsaufwand für das Krankenhaus durch unspezifische Anfragen der Krankenkasse zur Verschlüsselung der Nebendiagnose als auch zur Verweildauer zu verhindern.

Die Beklagte ist dem entgegengetreten und hat ausgeführt, dass die Aufwandspauschale nicht zu entrichten sei, da das Krankenhaus durch die MDK-Prüfung profitiert habe und es nicht gerecht wäre, wenn die gesetzliche Krankenversicherung in diesem Fall noch eine Aufwandspauschale an das Krankenhaus zu zahlen hätte.

Das Sozialgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt und seine Entscheidung darauf gestützt, dass Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck von § 275 Abs. 1c SGB V sowie die vom Gesetzgeber zum 1. Januar 2016 vorgenommene Korrektur der BSG-Rechtsprechung in Satz 4 des § 275 Abs. 1c SGB V, welche nunmehr eine Legaldefinition für den - auch bereits vor Inkrafttreten der Klarstellung verwendeten - Begriff der Prüfung in Satz 1 enthalte. Danach seien sowohl die sachlich-rechnerischen Prüfungen als auch die Auffälligkeitsprüfung vom Begriff der Prüfung umfasst. Da es sich nur um eine Klarstellung durch den Gesetzgeber und nicht um eine Änderung des Gesetzes gehandelt habe, sei diese klarstellende Regelung auch auf Prüfsachverhalte vor dem 01.01.2016 anzuwenden.

Die Beklagte hat gegen diese Entscheidung die vom Sozialgericht zugelassene Berufung eingelegt und ihren erstinstanzlichen Vortrag vertieft. Auf übereinstimmenden Antrag der Beteiligten wurde mit Beschluss vom 28.03.2018 das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Auf Antrag der Beklagten vom 13.11.2019 wurde das Verfahren fortgesetzt. Beide beteiligten haben ihr Einverständnis erklärt mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 20.10.2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Gerichtsakten beider Rechtszüge waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Ergänzend wird hierauf Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet.

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), nachdem die Beteiligten jeweils hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

Das SG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Die Klägerin hat gegen die Beklagte wegen des im Ergebnis ohne Minderung durchgeführten Prüfverfahrens zu dem Behandlungsfall des Versicherten keinen Anspruch auf eine Aufwandspauschale i.H.v. 300,- € nebst Prozesszinsen. Der Anspruch auf Zahlung der Aufwandspauschale ist dem Grunde und der Höhe nach nicht begründet und fällig. Bei der von der Beklagten durchgeführten Prüfung handelte es sich um eine Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit.

1. Ausgangspunkt sind die Bestimmungen in § 275 SGB V zur Prüfung von Krankenhausabrechnungen. Maßgeblich für die Frage, welche Fassung von § 275 SGB V zur Anwendung kommt, ist der Zeitpunkt, in welchem der Prüfauftrag der Krankenkasse dem Krankenhaus zugeht; dies geschieht regelhaft in Gestalt der Prüfanzeige (BSG, Urteil vom 16. Juli 2020 - B 1 KR 15/19 R -, juris Rn. 14). Der MDK hat den Prüfauftrag am 23.09.2010 erhalten und die Begutachtung am 02.12.2010 durchgeführt. Maßgeblich ist daher die Rechtslage im Jahr 2010.

§ 275 Abs. 1c SGB V a.F. regelt das Prüfverfahren bei Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V. Bei letzterer ist eine Prüfung durch den MDK nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V zeitnah durchzuführen (§ 275 Abs. 1c Satz 1 SGB V a. F.). Diese Prüfung ist spätestens sechs Wochen nach Eingang der Abrechnung bei der Krankenkasse einzuleiten und durch den MDK dem Krankenhaus anzuzeigen (§ 275 Abs. 1c Satz 2 SGB V a.F.). Daran anschließend bestimmt § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V a.F.: "Falls die Prüfung nicht zu einer Minderung des Abrechnungsbetrages führt, hat die Krankenkasse dem Krankenhaus eine Aufwandspauschale in Höhe von 300 Euro zu entrichten." Ferner regelt § 275 Abs. 1c Satz 4 SGB V, dass als Prüfung nach Satz 1 jede Prüfung der Abrechnung eines Krankenhauses anzusehen ist, mit der die Krankenkasse den Medizinischen Dienst beauftragt und die eine Datenerhebung durch den Medizinischen Dienst beim Krankenhaus erfordert. Satz 4 wurde mit Wirkung zum 01.01.2016 neu eingefügt. Maßgeblich ist vorliegend jedoch die Rechtslage vor dem 01.01.2016.

2. Ob die Voraussetzungen eines Anspruchs auf eine Fallpauschale nach diesen Regelungen erfüllt sind, hängt wiederum maßgebend davon ab, ob man die Rechtsprechung des 1. Senats des Bundessozialgerichts (z.B. Urteil vom 01.07.2014 - B 1 KR 29/13 R Rn. 22 ff.), die § 275 Abs. 1c S. 3 SGB V nur bei Auffälligkeitsprüfungen, nicht aber in Fällen der Prüfung der sachlichen und rechnerischen Richtigkeit, angewendet wissen will, für überzeugend hält.

Der Senat folgt insoweit der Rechtsprechung des 1. Senats des Bundessozialgerichts. Die dagegen - auch in dem vorliegenden Berufungsverfahren vorgebrachten Einwände - greifen nicht durch (so im Übrigen in wesentlichen Teilen auch schon LSG NRW, Urteil vom 06.09.2016 - L 1 KR 459/16 Rn. 37 ff.).

a) Einer besonderen Rechtsgrundlage für die Annahme einer Befugnis der Krankenkasse, die sachlich-rechnerische Richtigkeit einer Abrechnung zu überprüfen, bedarf es nicht. Es ist selbstverständlich, dass derjenige, der (etwa von einem Pflegedienst oder einem Heilmittelerbringer) auf Zahlung eines in Rechnung gestellten Betrages in Anspruch genommen wird, diese Rechnung in sachlich-rechnerischer Hinsicht überprüfen kann und darf. Das Gesetz setzt (z.B. in § 125 Abs. 1 S. 4 Nr. 4 SGB V) voraus, dass Prüfungen der Leistungserbringer erfolgen dürfen und müssen. Krankenkassen befinden sich insoweit in keiner anderen Position als Privatpersonen, die auf Zahlung z.B. einer Handwerkerrechnung in Anspruch genommen werden. In dem hier fraglichen Zusammenhang ergibt sich eine solche Prüfungsbefugnis auch aus § 301 SGB V sowie den §§ 300, 301a und 302 SGB V. Ohne die Annahme einer Prüfungsbefugnis machen insbesondere die in § 301 SGB V geregelten Informations- und Übermittlungspflichten des Krankenhauses keinen Sinn.
Bei einer Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit einer Krankenhausrechnung bedarf es auch nicht deshalb eines Rückgriffs auf § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, die zu einer Anwendung von § 275 Abs. 1c S. 3 SGB V führen würde, weil andernfalls keine Rechtsgrundlage für die Einschaltung des MDK ersichtlich wäre. Dass sich die gesetzlichen Krankenkassen zur Prüfung von geltend gemachten Ansprüchen des MDK bedienen dürfen, folgt bereits aus der allgemeinen Regelung des § 21 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X. Danach kann die Krankenkasse als Behörde im Sinne des SGB X zur Erfüllung ihrer aus § 20 SGB X folgenden Amtsermittlungspflichten schriftliche Sachverständigengutachten einholen. Dies betrifft auch die Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme des MDK zur Überprüfung der zutreffenden Kodierung nach einer Krankenhausbehandlung eines Versicherten. § 275 SGB V enthält nur insoweit eine Spezialregelung, als diese den gesetzlichen Krankenkassen die Beteiligung des MDK in bestimmten Fällen verbindlich oder für den Regelfall ("soll") vorschreibt. Die Einschaltung des MDK in anderen als den in § 275 SGB V behandelten Fällen wird damit nicht ausgeschlossen.

b) Die Einfügung von § 275 Abs. 1c S. 4 SGB V zum 01.01.2016, wonach als Prüfung nach § 275 Abs. 1c Satz 1 SGB V jede Prüfung der Abrechnung eines Krankenhauses anzusehen ist, mit der die Krankenkasse den MDK beauftragt und die eine Datenerhebung durch den MDK beim Krankenhaus erfordert, rechtfertigt kein anderes Ergebnis. In den Gesetzesmaterialien zu der Vorschrift ist ausgeführt, mit der "Neuregelung" werde "nunmehr" bestimmt, dass sich die Fristen- und Anzeigeregelung des Satzes 2 und die Regelung zur Aufwandspauschale in Satz 3 auf jede Prüfung der Abrechnung einer stationären Behandlung beziehe, mit der eine Krankenkasse den MDK beauftrage und die eine Datenerhebung durch den MDK beim Krankenhaus erfordere. Dies gelte "sowohl für die vom 1. Senat des BSG angesprochenen Auffälligkeitsprüfungen als auch für die Prüfungen auf sachlich-rechnerische Richtigkeit" (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf eines KHSG, BT-Drs. 18/6586, Seite 110). Diese Ausführungen machen deutlich, dass der Gesetzgeber an die seit Mitte 2014 entwickelte Rechtsprechung des 1. Senats des Bundessozialgerichts anknüpfen und diese für die Vergangenheit nicht ändern wollte (so auch BSG, Urteil vom 23.05.2017 - B 1 KR 24/16 R Rn. 31).

c) Die Rechtsprechung des 1. Senats des Bundessozialgerichts zur Differenzierung zwischen Prüfungen der sachlich rechnerischen Richtigkeit einerseits und der Auffälligkeitsprüfungen andererseits überschreitet auch nicht die sich aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 2 und 3 GG ergebenden verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Entscheidungsfindung.
Es kommt insoweit nicht darauf an, ob die vom 1. Senat des Bundessozialgerichts vorgenommene Differenzierung die einzig "richtige" Rechtsposition darstellt.
Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist es vielmehr hinreichend, wenn das Gericht von den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung in vertretbarer Weise Gebrauch gemacht und die gesetzgeberische Grundentscheidung respektiert hat (vgl. zu diesem Maßstab BVerfG, Beschluss vom 03.04.1990 - 1 BvR 1186/89 , Beschluss vom 12.11.1997 - 1 BvR 479/92 , vom 17.06.2004 - 2 BvR 383/03 und vom 15.01.2009 - 2 BvR 2044/07). Dies ist hier der Fall. Denn die Rechtsprechung des 1. Senats des Bundessozialgerichts gründet auf systematischen und am Gesetzeswortlaut - nicht nur des § 275 SGB V - orientierten Überlegungen (vgl. z.B. Urteil vom 01.07.2014 - B 1 KR 29/13 R Rn. 17 ff. oder vom 23.05.2017 - B 1 KR 28/16 R Rn. 16 ff.). Die gesetzgeberische Grundentscheidung, dass (nur) die gegenüber der sachlich-rechnerischen Richtigkeitsprüfung regelmäßig aufwendigere Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Krankenhausbehandlung einen Aufwendungsersatzanspruch des Krankenhauses begründet, wird dabei respektiert (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13. Dezember 2018 - L 5 KR 738/16 -, Rn. 54 - 63, juris).

Die Berufung hat damit vollumfänglich Erfolg.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.

4. Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.

5. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 S. 1, § 52 Abs. 1 und 3 S. 1, § 47 Abs. 1 Gerichtskostengesetz.

 

Rechtskraft
Aus
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