L 4 AS 503/20

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 22 AS 3357/16
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
L 4 AS 503/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 19. August 2020 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Kosten sind für das Klage- und das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin und Berufungsbeklagte (im Weiteren: Klägerin) wendet sich gegen die Aufforderung des Beklagten und Berufungsklägers (im Weiteren: Beklagter), einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen.

Die am ... 1952 geborene, alleinstehende Klägerin war arbeitslos und bezog seit 2005 von dem Beklagten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Im Zeitraum von Oktober 2008 bis September 2011 war sie bei der "Z. mbH" (...) im Rahmen einer geförderten Beschäftigung vollzeitbeschäftigt. Vom Bruttomonatslohn von 810 € gelangte ein Nettobetrag von rund 655 € zur Auszahlung. Daneben bezog sie aufstockende SGB II-Leistungen. Von Dezember 2013 bis Mai 2015 leistete die Klägerin Bundesfreiwilligendienst (wöchentlich 21 Stunden). Dafür erhielt sie zuletzt ein Taschengeld von 200 € monatlich. Zudem wurden Sozialversicherungsbeiträge abgeführt.

Die bewilligten SGB II-Leistungen beliefen sich im Zeitraum von Dezember 2013 bis Mai 2014 auf monatlich 740,37 €, im Dezember 2014 auf 751,14 € (Regelbedarf: 391 €, Mehrbedarf Warmwasserbereitung: 8,99 €, Kosten der Unterkunft und Heizung [KdUH]: 351,15 €) und von Januar bis Mai 2015 auf 759,33 € (Regelbedarf: 399 €). Derselbe Betrag gelangte zunächst von Juni bis November 2015 zur Auszahlung.

Auf Aufforderung des Beklagten legte die Klägerin am 17. November 2014 eine Rentenauskunft der Beigeladenen vom 6. November 2014 vor und erklärte zugleich, sie sei nicht bereit, mit 63 Jahren in Rente zu gehen, weil die Rente mit Abzügen unter den bezogenen SGB II-Leistungen liege. Nach der Auskunft sollte die ab April 2018 zu beziehende Regelaltersrente auf der Grundlage der bislang gespeicherten rentenrechtlichen Zeiten und des aktuellen Rentenwerts 678,66 € monatlich betragen. Wenn bis zum Rentenbeginn Beiträge im Durchschnitt der letzten fünf Kalenderjahre gezahlt würden, belaufe sich die Altersrente ohne Berücksichtigung von Rentenanpassungen auf 721,38 €. Unter Berücksichtigung eines jährlichen Anpassungssatzes von einem Prozent ergäbe sich eine Rente von ca. 740 €. Bei einem Rentenbeginn ab Oktober 2015 werde der Rentenzahlbetrag um neun Prozent gemindert.

Bei einer Vorsprache am 29. Mai 2015 beim Arbeitsvermittler des Beklagten konnte der Klägerin kein Vermittlungsvorschlag unterbreitet werden. Mit ihrer Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt sei nicht mehr zu rechnen.

Nachdem die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit H., am 16. Juni 2015 den Bezug von Arbeitslosengeld I (Alg I) der Klägerin von 3,12 € täglich (monatlich 93,60  €), im Anschluss an den Bundesfreiwilligendienst ab dem 1. Juni 2015 bis zum 30. Januar 2016 mitgeteilt hatte, senkte der Beklagte mit Bescheid vom 25. Juni 2015 die Leistungen für die Monate August bis November 2015 auf 695,73 € ab. Für Juni und Juli 2015 erstattete die Agentur für Arbeit H. einen Gesamtbetrag von 187,20 €. Für den Folgebewilligungszeitraum bewilligte der Beklagte Leistungen von 704,48 € für Dezember 2015 und Januar 2016 und von 768,08 € für die Monate Februar bis Mai 2016 (Regelbedarf: 399 €, Mehrbedarf Warmwasserbereitung: 9,18 €, KdUH: 359,90 €). Für den Zeitraum von Juni bis November 2016 bewilligte er monatlich 773,19 €.

Mit Schreiben vom 3. Mai 2016 forderte der Beklagte die Klägerin auf, bei der Beigeladenen für die Zeit ab Vollendung des 63. Lebensjahres gemäß § 12a Satz 1 SGB II einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen. Er wies darauf hin, sie sei zur Antragstellung verpflichtet, da sie Anspruch auf eine geminderte Altersrente habe, das 63. Lebensjahr vollendet und die Inanspruchnahme dieser geminderten Altersrente nicht unbillig sei. Er habe im Rahmen seiner pflichtgemäßen Ermessensausübung nach Prüfung des Einzelfalls keine Gründe feststellen können, wonach von einer Aufforderung zur Rentenantragstellung abzusehen sei. Es lägen weder die in der Verordnung vom 14. April 2008 zur Vermeidung unbilliger Härten bei der Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung, Unbilligkeits-V) genannten Gründe vor, noch seien andere Unbilligkeitsgründe in ihrem Fall erkennbar. Sie beziehe kein Alg I und stehe nicht in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass sie innerhalb der nächsten drei Monate eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen werde. Sie habe nicht die Möglichkeit, alsbald innerhalb von drei Monaten eine abschlagsfreie Rente in Anspruch zu nehmen. Wenn die Klägerin selber keinen Rentenantrag stelle, sei der Beklagte gemäß § 5 Abs. 3 SGB II berechtigt, für sie den Antrag zu stellen. Er forderte die Klägerin auf, die Antragstellung bis zum 17. Mai 2016 mitzuteilen.

Am 10. Mai 2016 legte die Klägerin Widerspruch gegen das Schreiben vom 3. Mai 2016 ein. Sie wolle nicht vorzeitig mit Abzügen in Rente gehen, weil die aktuell zu erwartende Altersrente unter den SGB II-Leistungen liege.

Mit Schreiben vom 1. Juni 2016 stellte der Beklagte bei der Beigeladenen den Rentenantrag für die Klägerin, da diese keinen eigenen Altersrentenantrag gestellt hatte. Gleichzeitig machte er dem Grunde nach einen Erstattungsanspruch geltend.

Unter dem 19. Juli 2016 teilte die Arbeitsvermittlung behördenintern mit, die Klägerin könne im Rahmen des Programms „Jobperspektive 58+“ voraussichtlich eine Beschäftigung aufnehmen. Unter dem 30. August 2016 führte sie aus, eine Förderung der Klägerin könne nicht erfolgen, da diese bereits das gesetzliche Rentenalter erreicht habe. Der Maßnahmeträger habe darauf hingewiesen, dass die Maßnahme für eine Dauer von drei Jahren geplant sei. Damit seien in ihrem Fall die Voraussetzungen nicht erfüllt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30. August 2016 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente nach Vollendung des 63. Lebensjahrs sei auch nach den Regelungen der Unbilligkeits-V nicht unbillig. Nach der Rentenauskunft lägen die Voraussetzungen für eine Altersrente für langjährige Versicherte vor. Daher könne sie Anspruch auf eine geminderte Altersrente nach Vollendung des 63. Lebensjahres haben. Nach der Prognose der Vermittlungsfachkraft sei eine Integration auf dem Arbeitsmarkt nicht zu erwarten. Es liege keine besondere Härte vor. In ihrem Fall würde auch eine ungeminderte Altersrente (721,38 € brutto) den derzeitigen Bedarf von 773,19 € nicht decken. Die Klägerin werde sowohl bei geminderter als auch bei ungeminderter Rente hilfebedürftig bleiben. Besondere finanziellen Nachteile träten dadurch nicht ein.

Am 19. September 2016 hat die Klägerin Anfechtungsklage beim Sozialgericht Halle (SG) erhoben und zudem beantragt, den Beklagten zu verurteilen, den Rentenantrag vom 1. Juni 2016 zurückzunehmen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, der erzwungene Wechsel in die Altersrente stelle einen schwerwiegenden Eingriff und eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer Lebensführung dar. Ein Rentenbezug habe für sie unzumutbare Nachteile. Sie werde aus dem Rechtskreis des SGB II ausgeschlossen und könne keine Eingliederungsleistungen mehr erhalten. Der Nettobetrag der zu erwartenden Rente unter schreite die SGB II-Leistungen um etwa 157 €. Der Beklagte habe bei seiner Ermessensentscheidung nicht hinreichend berücksichtigt, dass sie aus der geminderten Altersrente ihren Lebensunterhalt nicht vollständig decken könne. Wegen der Aufforderung des Beklagten habe sie eine geförderte Tätigkeit, die in die Regelaltersrente hätte münden können, nicht aufnehmen können.

Die Beigeladene hat den für die Klägerin gestellten Rentenantrag des Beklagten mit Bescheid vom 2. November 2016 wegen fehlender Mitwirkung der Klägerin abgelehnt (Versagung). Über den dagegen vom Beklagten eingelegten Widerspruch hat die Beigeladene bislang noch nicht entschieden; das Widerspruchsverfahren ruht im Hinblick auf das anhängige Berufungsverfahren.

Nach einer Rentenauskunft der Beigeladenen vom August 2016 beträgt die Regelaltersrente (ab April 2018) 743,97 € unter Maßgabe der bislang gespeicherten Zeiten. Bei einer Fortzahlung der Beiträge im Durchschnitt der letzten fünf Jahre sei mit einer Bruttorente von 754,70 € zu rechnen.

Der Beklagte hat im Klageverfahren ausgeführt, er habe die Unbilligkeits-V geprüft. Die Voraussetzungen der dort abschließend geregelten Ausnahmetatbestände (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 19. August 2015, B 14 AS 1/15 R, juris) lägen nicht vor. Der Umstand, dass die geminderte Altersrente nicht bedarfsdeckend sei, führe nicht zur Rechtswidrigkeit der Aufforderung. Eine entsprechende Änderung der Unbilligkeits-V trete erst ab dem 1. Januar 2017 in Kraft und sei auf den Fall der Klägerin nicht anzuwenden. Die von ihr angesprochene sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Rahmen des Projekts "Jobperspektive 58+" sei nicht möglich gewesen. Die Klägerin erreiche bereits während des Laufs der auf drei Jahre konzipierten Maßnahme das gesetzliche Rentenalter und gehöre daher nicht zum förderfähigen Personenkreis.

Dazu hat die Klägerin ausgeführt, nach ihrer Auffassung gehöre sie zum förderfähigen Personenkreis, denn die Projektlaufzeit liege zwischen einem und maximal drei Jahren. Daher hätte sie bis zum Eintritt in die Regelaltersrente im April 2018 an der Maßnahme teilnehmen können. Im Übrigen sei die bevorstehende Änderung der Unbilligkeits-V bereits vor ihrem Inkrafttreten bei der Ermessensausübung zu beachten.

Mit Beschluss vom 30. Mai 2017 hat das SG die Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland gemäß § 75 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beigeladen.

Der Beklagte hat erläutert, er habe keine Zuweisungsmöglichkeit zum Projekt "Jobperspektive 58+". Es handele es sich um ein reguläres, wenn auch öffentlich gefördertes, sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis. Der Maßnahmeträger als Arbeitgeber entscheide, welche Arbeitnehmer er einstelle. Er, der Beklagte, habe lediglich im Vorfeld förderfähige Leistungsberechtigte angesprochen und zu Informationsveranstaltungen des Maßnahmeträgers eingeladen. Grundsätzlich hätte die Klägerin bis zum Erreichen des regulären Rentenalters an der Maßnahme teilnehmen können. Nach dem vorzeitigen Ausscheiden der Klägerin hätte der Maßnahmeträger die Stelle nachbesetzen können. Dieser habe jedoch entschieden, (bevorzugt) solche Bewerber einzustellen, die die gesamte Projektlaufzeit absolvieren können. Auf diese Entscheidung habe der Beklagte keinen Einfluss gehabt.

Die Beigeladenen hat dem Beklagten unter dem 16. März 2018 mitgeteilt, sie habe der Klägerin auf deren Rentenantrag ab dem 1. April 2018 Regelaltersrente bewilligt. Die Rente betrage 783,08 €. Nach Abzug der gesetzlichen Krankenversicherung werde ein monatlicher Betrag von 703,60 € ausgezahlt.

Auf Nachfrage des SG hat die Beigeladene erklärt, sie müsse nach einer Beendigung des Klageverfahrens noch über den Widerspruch des Beklagten entscheiden. Abhängig vom Ausgang dieses Widerspruchsverfahrens sei dann auch die Bewilligung der Regelaltersrente an die Klägerin zu überprüfen.

Die Klägerin hat dazu im April 2020 ausgeführt, sie könne das Klageverfahren nicht für erledigt erklären, da sie angesichts der noch ausstehenden Entscheidung der Beigeladenen über den Rentenantrag (auf vorzeitige Altersrente) des Beklagten weiterhin ein rechtliches Interesse an der Fortführung des Klageverfahrens und der Aufhebung des Aufforderungsbescheids habe. Die Beigeladene habe sich nicht dazu geäußert, wie sich die angekündigte Prüfung der Bewilligung ihrer Regelaltersrente ab April 2018 mit der gesetzlichen Regelung in § 34 Abs. 4 Nr. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) vereinbaren lasse, die nach bindender Bewilligung einer Altersrente einen Wechsel in eine andere Rente wegen Alters ausschließe.

Das SG hat mit Urteil vom 19. August 2020 die angegriffenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, den am 1. Juni 2016 gestellten Rentenantrag zurückzunehmen. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin für die Klage bestehe fort, weil sich der Aufforderungsbescheid des Beklagten durch die zwischenzeitlich bewilligte Regelaltersrente durch die Beigeladene nicht erledigt habe. Denn solange das auf den Antrag des Beklagten beruhende Rentenverfahren nicht bestandskräftig abgeschlossen sei, komme eine rückwirkende Bewilligung der vorzeitigen Altersrente noch in Betracht. Es könne dahinstehen, ob durch die Durchführung des Widerspruchsverfahrens eine Heilung des Anhörungsmangels erfolgt sei. Die Klage sei begründet, denn der angegriffene Bescheid sei rechtswidrig, weil die der Klägerin eingeräumte Frist zur Stellung des vorzeitigen Rentenantrags unangemessen kurz gewesen sei. Die Fristsetzung nach § 5 Abs. 3 SGB II schaffe für den Beklagten die Grundlage für dessen eigene Antragstellung bei dem Rententräger. Diesen Antrag könne der Versicherte nicht zurücknehmen, sodass ihm Nachteile entstehen könnten. Zwar enthalte das Gesetz keine Vorgaben zur Dauer der Frist, jedoch sei eine Frist von zehn Tagen zu kurz. Auch die vergleichbaren Anhörungsfristen müssten so bemessen sein, dass dem Betroffenen ausreichend Zeit zur Einholung von rechtlichem oder medizinischem Rat sowie zur Abfassung seiner Äußerung bleibe. Entsprechendes müsse auch gelten, wenn es – wie hier – allein um rechtliche Fragen gehe. Es sei unerheblich, dass der Beklagte den Rentenantrag für die Klägerin erst am 1. Juni 2016 gestellt habe. Die Klägerin habe damit rechnen müssen, dass der Antrag unmittelbar nach Ablauf der gesetzten Frist gestellt werde. Es komme daher auch nicht darauf an, ob die Unbilligkeits-V in der Fassung ab Januar 2017 auf ihren Fall anzuwenden sei. Auch der Antrag zur Folgenbeseitigung sei erfolgreich. Zwar sei der Beklagte durch seine Bindung an das Gesetz verpflichtet, nach der Aufhebung der Aufforderung von sich aus, den Rentenantrag zurückzunehmen. Jedoch habe der Ausspruch klarstellende Funktion.

Gegen das ihm am 31. August 2020 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 24. September 2020 Berufung eingelegt und vorgetragen, sein Bescheid sei rechtmäßig. Die Stellungnahme- und Antwortfrist von neun Tagen sei nicht zu kurz gewesen. Die Klägerin habe die Frist zur Stellungnahme nicht ausgenutzt, sondern bereits unter dem 9. Mai 2016 geantwortet und Widerspruch eingelegt. Der 4. Senat des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt (LSG) habe im Beschluss vom 18. November 2016 (L 4 AS 550/16 B ER) ausgeführt, eine starre Frist sei nicht angezeigt, denn im Einzelfall könne auch eine kurze Frist noch angemessen sein, die jedoch eine Woche nicht unterschreiten solle. Zudem habe der 4. Senat mit Urteil vom 22. Juli 2020 entschieden, dass eine Frist von 15 Tagen unbedenklich sei (L 4 AS 647/18). Außerdem habe er unter Verweis auf eine Entscheidung des 5. Senats des LSG (Beschluss vom 1. März 2016, L 5 AS 25/16 B ER) die Auffassung vertreten, dass eine zu kurze Frist die Aufforderung nicht unwirksam mache, sondern ggf. die ersatzweise Antragstellung auf einen Zeitpunkt nach Ablauf einer angemessenen Frist zu verschieben sei. So liege der Fall hier. Es könne dahinstehen, ob die der Klägerin eingeräumte Frist zu kurz bemessen gewesen sei, weil seine ersatzweise Antragstellung tatsächlich erst mit Schreiben vom 1. Juni 2016, mithin 25 Tage nach Zugang der Aufforderung, und damit nach Ablauf einer angemessenen Frist erfolgt sei.

Mit Schreiben vom 31. Mai 2023 hat die Berichterstatterin darauf hingewiesen, die Berufung des Beklagten werde voraussichtlich erfolgreich sein, weil der angegriffene Bescheid des Beklagten im Ergebnis nicht zu beanstanden sei. Zuletzt habe das BSG (Urteil vom 22. September 2022, B 4 AS 60/21 R, juris RN 17) entschieden, dass eine 17-tägige Fristsetzung zur Rentenantragstellung nicht zu beanstanden sei. Es habe in der Begründung darauf hingewiesen, dass der Aufforderungsbescheid schon mit seiner Bekanntgabe vollziehbar sei, sodass die oftmals geforderte Einhaltung einer vierwöchigen Rechtsbehelfsfrist als Regelfrist kein geeigneter Maßstab sei. Eine Frist von „brutto“ zwei Wochen sei nicht zu beanstanden. In der Rechtsprechung sei geklärt, dass die am 1. Januar 2017 in Kraft getretenen Neuregelungen der Unbilligkeits-V nicht auf Sachverhalte anzuwenden seien, in denen – wie hier – das Widerspruchsverfahren bereits vor dem 31. Dezember 2016 beendet gewesen sei (BSG, Urteil vom 24. Juni 2020, B 4 AS 12/20 R, juris RN 25). Dementsprechend sei das von der Klägerin herangezogene Argument der Hilfebedürftigkeit im Alter entsprechend des Ausnahmetatbestands in § 6 der ab Januar 2017 gültigen Unbilligkeits-V hier nicht anzuwenden. Ermessensfehler seien nicht ersichtlich. Es lägen auch keine relevanten Aspekte einer besonderen Härte vor. Die Integration der Klägerin auf dem ersten Arbeitsmarkt sei nicht zu erwarten gewesen. Eine anfänglich in Aussicht genommene Aufnahme in die Maßnahme „Jobperspektive 58+“ habe der Maßnahmeträger abgelehnt, weil er die auf drei Jahre konzipierte Maßnahme vorrangig mit Leistungsbeziehern besetzen wollte, die an der Maßnahme über die gesamte Laufzeit teilnehmen konnten. Dies wäre der Klägerin wegen des Erreichens der Regelaltersrente nicht möglich gewesen. Zudem hätte es sich um eine geförderte Beschäftigung auf dem sog. zweiten Arbeitsmarkt gehandelt. In ihrem Fall decke weder die vorgezogene Rente mit Abschlägen noch die Regelaltersrente den Bedarf, sodass ein ergänzender Sozialleistungsanspruch bestehe.

Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 19. August 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die zutreffenden Ausführungen im Urteil des SG. Die ihr eingeräumte Frist zur Stellung des Rentenantrags sei unangemessen kurz gewesen.

Die Beigeladene hat sich im Berufungsverfahren nicht zur Sache geäußert und angekündigt, keinen Antrag zu stellen.

Die Beteiligten haben sich am 6. Juni 2023 (Beklagter), 23. Juni 2023 (Klägerin) und 24. Oktober 2023 (Beigeladene) mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten ergänzend Bezug genommen. Die Unterlagen sind Gegenstand der Beratung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§ 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 SGG).

Die Berufung ist zulässig. Sie hat insbesondere nicht der Zulassung im Urteil des SG gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGG bedurft, weil der Streit keine Geld-, Dienst- oder Sachleistungen und auch keinen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft. Denn der Beklagte fordert von der Klägerin eine Antragstellung bei einer Behörde, d.h. ein tatsächliches Verhalten.

Gegenstand des Berufungsverfahrens sind das Urteil des SG vom 19. August 2020 sowie der Bescheid des Beklagten vom 3. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. August 2016, mit dem die Klägerin zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente aufgefordert worden ist.

Die Berufung des Beklagten ist begründet, denn das SG hat zu Unrecht den Bescheid vom 3. Mai 2016 und den Widerspruchsbescheid vom 30. August 2016 aufgehoben und ihn verurteilt, den am 1. Juni 2016 gestellten Rentenantrag zurückzunehmen. Der angegriffene Bescheid des Beklagten ist im Ergebnis rechtmäßig.

I. Die Klage gegen die Aufforderung zur Rentenantragstellung ist als Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG statthaft, da es sich bei der Aufforderung, vorzeitig eine Altersrente zu beantragen, um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) handelt (vgl. BSG, Urteil vom 19. August 2015, B 14 AS 1/15 R, juris RN 12).

Die Anfechtungsklage ist zulässig. Die Klägerin hat auch ein Rechtsschutzbedürfnis, da sich die Aufforderung des Beklagten zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente (ab Oktober 2016) nicht im Sinne von § 39 Abs. 2 SGB X durch die von der Beigeladenen mit Bescheid vom 16. März 2018 ab dem 1. April 2018 (bestandskräftig) bewilligte abschlagsfreie Regelaltersrente erledigt hat. Aufgrund des vom Beklagten gegen die Ablehnung des Antrags auf vorzeitige Altersrente durch die Beigeladenen eingelegte Widerspruchs, der noch nicht beschieden worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 19. August 2015, a.a.O. RN 13; zuletzt: BSG, Urteil vom 22. September 2022, B 4 AS 60/21 R, juris RN 11), ist das Rentenverfahren insgesamt noch nicht bestandskräftig abgeschlossen.

Obwohl § 34 Abs. 4 SGB VI in der hier für die Rentenbewilligung vom 16. März 2018 maßgeblichen, vom 1. Juli 2017 bis zum 31. Dezember 2022 gültigen Fassung (a.F., gleichlautend jetzt § 34 Abs. 2 SGB VI n.F.), bestimmt, dass nach der bindenden Bewilligung einer Altersrente der Wechsel in eine andere Rentenart ausgeschlossen ist, hält es der Senat für denkbar, dass der Klägerin im hier streitigen Zeitraum vom 1. Juni 2016 bis 31. März 2018 (von der Rentenantragstellung durch den Beklagten bis zum Beginn der Regelaltersrente noch eine vorzeitige Altersrente (mit Abschlägen) gewährt werden könnte.

Wenn § 34 Abs. 4 SGB VI a.F. nach seinem Sinn und Zweck im Anwendungsbereich auf die Zeiten, für die ein realisierter Anspruch aus Altersrente besteht, beschränkt ist (so: Fichte in Hauck/Noftz, SGB VI, Stand 4. EL 2023, § 34 RN 83; Dankelmann in Kreikebohm/Roßbach, SGB VI, 6. Aufl. 2021, § 34 RN 41), erscheint es möglich, ihr bis zum Beginn der regulären Altersrente am 1. April 2018 eine andere Rentenart zu gewähren. Es kann daher offenbleiben, ob die Klägerin ggf. eine Aufhebung der bestandskräftigen Altersrentenbewilligung gemäß den §§ 45 ff. SGB X zu befürchten hätte, wenn die Beigeladene im Rahmen der Bescheidung des Widerspruchs des Beklagten gegen den Versagungsbescheid sein Verwaltungshandeln für rechtswidrig hält. Die Beigeladene hat im Schriftsatz vom 16. März 2020 an das SG diese Möglichkeit angesprochen und nicht ausgeschlossen.

Vor diesem Hintergrund kann die begehrte gerichtliche Entscheidung (Aufhebung der Aufforderung) die Rechtsposition der Klägerin verbessern. Daher besteht – auch nach Auffassung des BSG (a.a.O.) – ein Rechtsschutzbedürfnis für das gerichtliche Verfahren, solange das auf dem Antrag des Leistungsträgers beruhende Rentenverfahren nicht bestandskräftig beendet ist. Es kommt daher zur Beurteilung des Rechtschutzbedürfnisses nicht maßgeblich darauf an, ob ggf. durch Fristablauf der Rentenversicherungsträger daran gehindert ist, die bestandskräftige Rentenbewilligung ab April 2018 zu ändern.

Im Berufungsverfahren ist die Sach- und Rechtslage bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids vom 30. August 2016 zu berücksichtigen. Danach ist der Bescheid des Beklagten vom 3. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. August 2016 formell (folgend 1.) und materiell-rechtlich (folgend 2.) rechtmäßig.

Rechtsgrundlage für die streitige Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente durch den Beklagten ist § 12a Satz 1 in Verbindung mit § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II (jeweils in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011, BGBl I 850). Nach § 12a Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Ausnahmen gelten u.a. für die vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente vor Vollendung des 63. Lebensjahrs (§ 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II) und für erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die vor dem 1. Januar 2008 das 58. Lebensjahr vollendet haben (§ 65 Abs. 4 Satz 2 SGB II). Stellen Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag nicht, können die SGB II-Leistungsträger nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II den Antrag für sie stellen.

1. Durchgreifende Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 3. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. August 2016 bestehen nicht; insbesondere ist die Klägerin zu der Aufforderung, bei der es sich um einen belastenden Verwaltungsakt handelt (vgl. BSG, Urteil vom 19. August 2015, a.a.O. RN 12) im Vorverfahren im Ergebnis ordnungsgemäß angehört worden. § 24 Abs. 1 SGB X bestimmt, dass einem Beteiligten vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in dessen Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben ist, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern; hierzu gehören auch alle Umstände, die für die Ermessensentscheidung der Behörde relevant sind (BSG, Urteil vom 24. Juni 2020, B 4 AS 12/20 R, juris RN 16). Dies ist im vorliegenden Fall zunächst nicht geschehen. Der diesbezügliche Mangel, der nicht nach § 40 SGB X zur Nichtigkeit des Verwaltungsakts führt, ist jedoch unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird (§ 41 Abs.1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X). Die Klägerin hatte im Widerspruchsverfahren ausreichend Gelegenheit, ihre Einwände und besondere Einzelfallgesichtspunkte vorzutragen, wodurch eine Heilung des Anhörungsmangels eingetreten ist. Der angegriffene Ausgangsbescheid lässt für die Klägerin erkennen, dass der Beklagte eine Abwägungsentscheidung zu treffen hatte, bei der ihre Interessen zu berücksichtigen waren. Auch war der Begründung des Bescheids zu entnehmen, dass nach Prüfung der Ausnahmetatbestände der Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (UnbilligkeitsV, vom 14. April 2008, BGBl I 734) weitere, von ihr anzusprechende Umstände ihres Falls im Rahmen der Ermessensentscheidung einbezogen werden konnten.

2. Der angefochtene Bescheid ist auch materiell rechtmäßig. Die oben genannten tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage waren bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens erfüllt.

Die Klägerin zählte im Jahr 2016 zum Kreis der nach dem SGB II Leistungsberechtigten und war über 63 Jahre alt, ohne dass sie bereits vor dem 1. Januar 2008 das 58. Lebensjahr vollendet hatte. Die Klägerin hätte ihre bestehende Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente für langjährig Versicherte beenden können (§ 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II), wofür ein Rentenantrag erforderlich war (§ 99 Abs. 1 SGB VI). Vorliegend war die Beantragung der vorzeitigen Altersrente auch erforderlich, um die Dauer des SGB II-Leistungsbezugs zu reduzieren. Erforderlich in diesem Sinne ist jede Inanspruchnahme, die Hilfebedürftigkeit vermeidet, also nicht eintreten lässt, beseitigt, also eine bestehende Hilfebedürftigkeit beendet bzw. wegfallen lässt, verkürzt, also die Dauer begrenzt, oder vermindert, also die Höhe verringert (BSG, Urteil vom 19. August 2015, a.a.O. RN 21).

Die Klägerin war eine erwerbsfähige Leistungsberechtigte, weil sie die Anspruchsvoraussetzungen zum Erhalt von Alg II dem Grunde nach erfüllte. Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten erwerbsfähige Leistungsberechtigte Alg II, wenn sie das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (§ 19 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II) und sie nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen sind. Der Beklagte hatte der Klägerin daher Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bewilligt.

Sie hätte auch mit Vollendung des 63. Lebensjahres eine vorzeitige Altersrente beziehen können. Nach der Rentenauskunft der Beigeladenen vom 6. November 2014 wäre – bei rechtzeitiger Antragstellung (§ 99 Abs. 1 SGB VI) – ab dem 1. Oktober 2015 der Bezug einer Altersrente für langjährige Versicherte mit Abschlag möglich gewesen. Leistungen nach dem Rentenversicherungsrecht, insbesondere Renten wegen Alters, wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und wegen Todes gehören zu den gegenüber den SGB II-Leistungen vorrangigen Sozialleistungen anderer Leistungsträger.

Die im Bescheid vom 3. Mai 2016 der Klägerin eingeräumte sehr kurze Frist zur Rentenantragstellung (bis zum 17. Mai 2016) macht die Aufforderung entgegen der Auffassung des SG im angegriffenen Urteil nicht rechtswidrig. Die Länge der Frist ist gesetzlich nicht geregelt. Eine starre Vorgabe wäre auch nicht sachgerecht. Das BSG hat in seiner bisherigen Rechtsprechung Fristen von ca. zwei bis drei Wochen nicht beanstandet. Es hat ausgeführt, zwar erscheine die Anordnung einer Umsetzungsfrist, die die Rechtsbehelfsfrist unterschreitet, grundsätzlich problematisch, habe aber im Ergebnis keine Konsequenz, weil Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, mit dem zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert wird, abweichend von § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG keine aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung mit § 39 Nr. 2 SGB II) entfalten (vgl. BSG, Urteil vom 19. August 2015, a.a.O., RN 12; zuletzt: Urteil vom 22. September 2022, a.a.O., RN 17 mit weit. Nachweisen). Daher war der Bescheid des Beklagten schon mit seiner Bekanntgabe (§ 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X) vollziehbar. Die hier nach Zugang des Bescheids am 6. Mai 2016 verbleibende Frist von 11 Tagen war noch ausreichend – zumal der Beklagte tatsächlich erst mit Schreiben vom 1. Juni 2016, d.h. erst 25 Tage nach der Bekanntgabe des Bescheids, ersatzweise für die Klägerin den Rentenantrag gestellt hat. Diese bis zur Rentenantragstellung verstrichene Frist ist zweifellos angemessen (vgl. Urteil des Senats vom 22. Juli 2020, L 4 AS 647/18, juris RN 44).

Die Klägerin ist zur Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente auch verpflichtet, denn diese ist im Sinne des § 12a Satz 1 SGB II erforderlich, weil sie zur Beseitigung ihrer Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II führt. Dies gilt unabhängig von dem Umstand, dass eventuell die Höhe der vorgezogenen Rente nicht ausreicht, um den notwendigen Lebensunterhalt zu bestreiten und deshalb ergänzend andere Sozialleistungen – wie Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz oder Grundsicherungsleistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe (SGB XII) – benötigt werden. Entscheidend ist insoweit das Ergebnis – das Ausscheiden des Leistungsberechtigten aus dem existenzsicherungsrechtlichen Leistungssystem des SGB II, das für die Anwendung der Norm ausreichend ist (vgl. BSG, Urteil vom 19. August 2015, a.a.O., RN 33).

Die streitgegenständliche Aufforderung der Klägerin zur Rentenantragstellung ist auch nicht als unbillig anzusehen. Die insoweit maßgebenden Ausnahmetatbestände ergeben sich abschließend aus der UnbilligkeitsV, die im Zeitpunkt des Erlasses des angegriffenen Bescheids und des Widerspruchsbescheids galt. Durch deren Regelungen soll verhindert werden, dass Leistungsberechtigte eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch nehmen müssen, wenn dies unbillig wäre (§ 13 Abs. 2 SGB II iVm § 1 UnbilligkeitsV, der selbst keinen eigenständigen Ausnahmetatbestand darstellt). Nicht von den einzelnen Unbilligkeitstatbeständen in den §§ 2 ff. UnbilligkeitsV erfassten unzumutbaren Härten kann darüber hinaus nur im Rahmen der Ermessensausübung begegnet werden (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 2020, B 4 AS 12/20 R, juris RN 20; BSG, Urteil vom 19. August 2015, a.a.O., RN 24). Keiner der normierten Unbilligkeitstatbestände ist hier erfüllt.

Die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente ist im Fall der Klägerin nicht unbillig, weil sie zum Verlust eines Anspruchs auf Alg I führen würde (§ 2 UnbilligkeitsV). Der Klägerin stand kein Alg I mehr zu, denn ihr Alg I-Anspruch, der im Anschluss an den Bundesfreiwilligendienst bestand, endete am 30. Januar 2016.

Die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente ist auch nicht deshalb unbillig, weil die Klägerin andernfalls in nächster Zukunft berechtigt gewesen wäre, die Altersrente abschlagsfrei in Anspruch zu nehmen (§ 3 UnbilligkeitsV). Ob diesem Ausnahmetatbestand eine feste (zeitliche) Obergrenze zu entnehmen ist, kann dahinstehen, weil die Klägerin erst mit Erreichen der Regelaltersgrenze ab April 2018 Anspruch auf eine abschlagsfreie Altersrente hatte. Ausgehend vom maßgebenden Beurteilungszeitpunkt, dem Erlass des Widerspruchsbescheids am 30. August 2016, war der Zeitraum von mehr als einem Jahr jedenfalls zu lang, um einen „in nächster Zukunft“ oder „alsbald“ bevorstehenden Anspruch auf Regelaltersrente annehmen zu können (vgl. BSG, Urteil vom 19. August 2015, a.a.O. RN 35; zuletzt: BSG, Urteil vom 29. September 2022, a.a.O., RN 20).

Die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente ist im Fall der Klägerin auch nicht unbillig, weil sie 2016 sozialversicherungspflichtig beschäftigt war oder aus sonstiger Erwerbstätigkeit ein entsprechend hohes Einkommen erzielte (§ 4 Satz 1 UnbilligkeitsV). Es fehlt bereits an der vorausgesetzten Erwerbstätigkeit, deren Geltung für die erste Variante sich nicht nur aus der amtlichen Überschrift der Norm, sondern auch aus der Verwendung des Worts "sonstiger" in der zweiten Variante ergibt. Die Klägerin übte im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung keine Erwerbstätigkeit aus, sie erzielte kein Einkommen. Zudem stand eine solche Einkommenserzielung aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung oder in sozialversicherungspflichtiger Höhe auch nicht in näherer Zukunft bevor (§ 5 UnbilligkeitsV). Denn sie besaß keinen auf eine zukünftige Beschäftigung gerichteten Arbeitsvertrag; ihr wurde auch nicht verbindlich eine Arbeitsaufnahme in Aussicht gestellt.

Soweit die Klägerin zur Begründung ihrer Klage geltend gemacht hat, ihr sei eine Einbeziehung in die Maßnahme „Jobperspektive 58+“ angeboten worden, mit der sie im Rahmen einer geförderten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nahtlos in die Altersrente hätte übergehen können, hat eine Nachfrage des Beklagten beim Maßnahmeträger Z. ergeben, dass eine Einbeziehung der Klägerin in die Maßnahme zwar dem Grunde nach in Betracht kam, weshalb sie auch vom Beklagten zu einer Informationsveranstaltung über die Maßnahme eingeladen wurde. Im Rahmen des Projekts war grundsätzlich eine individuelle Beschäftigungszeit von mindestens einem und maximal drei Jahren möglich. Aber der Maßnahmeträger, der allein als „Arbeitgeber“ über die Besetzung der Teilnehmerplätze aus dem Kreis der dem Grunde nach förderfähigen Leistungsberechtigten bestimmte, hatte sich gegen eine Aufnahme der Klägerin in das Projekt entschieden, weil sie mit Erreichen des Regelrenteneintrittsalters während der dreijährigen Projektlaufzeit die Maßnahme hätte (vorzeitig) beenden müssen. Der Maßnahmeträger hätte dann versuchen müssen, den durch das Ausscheiden der Klägerin freiwerdenden Teilnehmerplatz nachzubesetzen. Nach Auskunft des Beklagten hat der Projektträger dazu erklärt, dass er die Teilnahmeplätze vorrangig an Bewerber vergeben habe, deren Beschäftigung über die gesamte Projektlaufzeit möglich gewesen sei. Er habe sich in mehreren Fällen gegen Bewerber entschieden, bei denen absehbar während der Projektlaufzeit eine Nachbesetzung erforderlich geworden wäre. Diese Entscheidung des Maßnahmeträgers, auf die der Beklagte keinen Einfluss hatte, ist aus Sicht des Senats nicht zu beanstanden. Der Klägerin war wegen des Erreichens der Regelaltersrente in der Projektlaufzeit eine Teilnahme an der Maßnahme über die gesamte Laufzeit nicht möglich. Zudem war ihr eine Einbeziehung in die Maßnahme nicht – weder vom Beklagten noch vom Maßnahmeträger – verbindlich in Aussicht gestellt worden. Es kann daher dahinstehen, wie es zu bewerten ist, dass es sich um eine geförderte Beschäftigung auf dem sog. zweiten Arbeitsmarkt gehandelt hätte.

Für eine bevorstehende Erwerbstätigkeit der Klägerin gemäß § 5 UnbilligkeitsV bietet der Sachverhalt keine Anhaltspunkte.

Der erst mit Wirkung vom 1. Januar 2017 eingeführte Ausnahmetatbestand des § 6 UnbilligkeitsV ist auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Dazu hat das BSG im Urteil vom 24. Juni 2020 (B 4 AS 12/20 R, juris RN 25) folgendes ausgeführt:

„Der Ausnahmetatbestand des § 6 (Hilfebedürftigkeit im Alter) in der durch die Erste Verordnung zur Änderung der Unbilligkeitsverordnung vom 4. Oktober 2016 (BGBl I 2210) ab 1. Januar 2017 geänderten Fassung, der ausdrücklich regelt, dass die Inanspruchnahme zur vorzeitigen Rentenantragstellung unbillig ist, wenn Leistungsberechtigte dadurch hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII werden würden (Satz 1), findet keine Anwendung. Bei einer Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt 1 SGG ist maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage derjenige der letzten Behördenentscheidung (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 RN 33 mwN), hier also des Erlasses des Widerspruchsbescheids im Juni 2016. Für eine Rückwirkung des Ausnahmetatbestandes des § 6 UnbilligkeitsV auf Zeiten vor dessen Inkrafttreten fehlt es an einer ausdrücklichen Bestimmung. Ausweislich der Begründung des Verordnungsentwurfs sollte mit der Rechtsänderung zum 1. Januar 2017 auf die Urteile des BSG vom 19. August 2015 (B 14 AS 1/15 R - BSGE 119, 271 = SozR 4-4200 § 12a Nr. 1) und 23. Juni 2016 (B 14 AS 46/15 R - NZS 2016, 831) reagiert werden. Dabei hat der Verordnungsgeber zugrunde gelegt, dass eine etwaige künftige Hilfebedürftigkeit der Leistungsberechtigten bei Bezug der vorgezogenen Altersrente keinen bei der Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 3 SGB II atypischen Fall begründe und dies als "ungünstig" angesehen (vgl. Begründung des Verordnungsentwurfs vom 19.9.2016, S 2 f; www.bmas.de/Service/Gesetze/Unbilligkeitsverordnung.html; zur eingeschränkten Bedeutung dieser Materialien: BSG vom 9.8.2018 - B 14 AS 1/18 R - SozR 4-4200 § 12a Nr. 2 RN 22). Trotz dieser Einschätzung wurde davon abgesehen, der neuen Rechtslage eine Rückwirkung, etwa für noch nicht bestandskräftige Aufforderungsbescheide, beizumessen.“

Bei der Aufforderung zur Beantragung der vorzeitigen Rente durch Bescheid vom 3. Mai 2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 30. August 2016 hat der Beklagte sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt.

Soweit einer Behörde – wie hier dem Beklagten – Ermessen eingeräumt ist, bestimmt sie innerhalb der gesetzlichen Grenzen und dem Zweck der Ermächtigung die Rechtsfolge. Ihre Ermessensausübung ist gerichtlich nur eingeschränkt darauf zu prüfen (§ 39 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil [SGB I], § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG), ob sie ihr Ermessen überhaupt ausgeübt, ob sie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens über- oder unterschritten oder ob sie von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat ("Rechtmäßigkeits-, aber keine Zweckmäßigkeitskontrolle"). Dabei hat das durch § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II dem Leistungsträger hinsichtlich des „Ob“ einer Aufforderung eingeräumte Ermessen seinen Ausgangspunkt beim Grundsatz der gesetzlichen Verpflichtung des Leistungsberechtigten nach § 12a SGB II zur Realisierung vorrangiger Sozialleistungen zu nehmen (BSG, Urteil vom 19. August 2015, a.a.O., RN 37).

Der Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente geht die tatbestandliche Prüfung voraus, dass die Beantragung einer vorzeitigen Altersrente nicht unbillig ist. Liegen keine Unbilligkeitsgründe vor, handelt es sich um intendiertes Ermessen, d.h. wegen des grundsätzlichen Nachrangs der SGB II-Leistungen ist regelmäßig kein Grund gegeben, von der Aufforderung abzusehen. Relevante Ermessensgesichtspunkte können daher nur solche sein, die einen atypischen Fall begründen, in dem vom gesetzlichen Regelfall der Aufforderung zur Antragstellung abzusehen ist. Dabei dürften nur besondere Härten im Einzelfall in Betracht kommen, die keinen Unbilligkeitstatbestand im Sinne der UnbilligkeitsV begründen, aber die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente aufgrund außergewöhnlicher Umstände als unzumutbar erscheinen lassen. Aus der nach § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X obligatorischen Begründung der Ermessensentscheidung muss erkennbar sein, dass der Leistungsträger diesen Ermessenspielraum erkannt und genutzt hat, dass sämtliche, aber auch ausschließlich die nach dem Zweck des § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II iVm § 12a Satz 1 SGB II relevanten, Gesichtspunkte in tatsächlicher Hinsicht ermittelt und berücksichtigt worden sind.

Den angegriffenen Bescheiden ist zu entnehmen, dass der Beklagte das ihm aufgrund der Verpflichtung der Klägerin, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen und in Anspruch zu nehmen, eröffnete Ermessen hinsichtlich des "Ob" einer Aufforderung erkannt und im Ergebnis fehlerfrei ausgeübt hat. Dies wird bereits aus den Formulierungen im Bescheid vom 3. Mai 2016 deutlich. Im Widerspruchsbescheid hat sich der Beklagte zudem mit den von der Klägerin vorgebrachten Gründen gegen die Aufforderung zur Antragstellung und ihre spätere Durchsetzung auseinandergesetzt. Seine Ausführungen sind knapp, lassen aber Ermessensfehler nicht erkennen. Andere Gründe, weshalb vom gesetzlichen Regelfall, der vorzeitigen Altersrente nach Vollendung des 63. Lebensjahres den Vorrang vor dem Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II einzuräumen, abgewichen werden könnte, hat der Beklagte nicht erkennen können, was aus Sicht des Senats nicht zu beanstanden ist.

II. Das Begehren, den Beklagten zu verurteilen, seinen Antrag auf vorzeitige Altersrente zurückzunehmen, ist als echte Leistungsklage im Sinne von § 54 Abs. 5 SGG statthaft, aber unbegründet. Die die Klägerin hat keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Rücknahme des für sie gestellten Antrags auf vorzeitige Altersrente. Die ersatzweise für die Klägerin vorgenommene Antragstellung des Beklagten ist rechtmäßig, weil die Voraussetzungen von § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II erfüllt sind.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

IV. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage.

Rechtskraft
Aus
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