L 6 SB 2217/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 14 SB 2442/22
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 2217/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 3. Juli 2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger begehrt die höhere Erstfeststellung des Grades der Behinderung (GdB) mit mehr als 30.

Er ist 1960 geboren, hat nach dem Abitur ein Studium zum Dipl.-Biologen absolviert und war seit 1992 als Betriebsleiter bei der Stadt H2 angestellt. Nach dem Ende der Beschäftigung 2020 und einer Phase der Arbeitsunfähigkeit über 18 Monate bezog der Kläger Arbeitslosengeld I. Er ist ledig, kinderlos und bewohnt ein Eigenheim (vgl. Anamnese S1).

Am 18. März 2021 beantragte er bei dem Landratsamt H1 (LRA) erstmals die Feststellung des GdB. Vorgelegt wurde der Befundbericht der U2 über die ambulante Untersuchung vom 25. September 2020. Danach habe sich echokardiographisch die bekannte leichtgradig eingeschränkt linksventrikuläre Funktion mit Hypokinesie nach Vorderwandinfarkt 2015 gezeigt. Die Antikoagulation solle belassen werden.

Im Entlassungsbrief der S2-Kliniken über die stationäre Behandlung vom 31. August bis 5. September 2020 wurde eine hypertensive Entgleisung beschrieben. Die stationäre Aufnahme sei bei hypertensiver Entgleisung, am ehesten bei abgesetzter antihypertensiver Therapie wegen Magenproblematik erfolgt. Die Therapie sei wieder angesetzt worden, die Blutdruckwerte hätten sich gebessert. Die Entlassung sei in gebessertem Allgemeinzustand erfolgt.

In der Zeit vom 30. Januar bis 20. Februar 2020 befand sich der Kläger zur stationären Rehabilitation in der Rehabilitationsklinik T1. Danach sei bei bekanntem Diabetes bislang keine Therapie vorhanden, der letzte Langzeitwert (HbA1c) habe 7,3 % betragen. Es liege ein schwergradiges obstruktives Schlafapnoe-Syndrom vor, die CPAP-Maske habe der Kläger bislang noch nicht getragen.

Hinsichtlich der rehabilitationselevanten Erkrankungen bestünden keine körperlichen oder psychischen Funktionsstörungen. Der Kläger könne seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Dipl.-Biologe weiter vollschichtig ausüben. Die Entlassung sei arbeitsfähig erfolgt. Wegen der Herzerkrankung erfolgten regelmäßige kardiologische Kontrollen, die regelmäßigen Belastungs-EKG hätten keine Hinweise auf eine Progredienz ergeben. Bei Aufnahme hätten sich eine gestresste Stimmungslage, aber keine inhaltlichen oder formalen Denkstörungen gezeigt.

Die Hypertonie sei schlecht eingestellt, der Tag-Mittelwert habe bei 147,7/94,3 mmHg gelegen, der Nacht-Mittelwert bei 155,0/97,6 mmHg. Die Therapie sei intensiviert worden.

Bei Entlassung habe sich der Kläger in stabilem Allgemeinzustand befunden. Der Blutdruck sei besser eingestellt, bedürfe aber eventuell noch einer Therapieanpassung. Die Blutzuckertagesprofile seien unter eingeleiteter Therapie im normoglykämischen Bereich. Die psychische Lage habe sich verbessert. Eine psychologische Betreuung werde empfohlen.

Das LRA erhob den Befundschein des V1, der eine koronare Herzkrankheit beschrieb. Der Diabetes werde medikamentös mit Metformin behandelt. Die Lungenerkrankung sei durch das Schlafapnoe-Syndrom bedingt, dieses sei mit einer CPAP-Maske therapiert, eine Tagesmüdigkeit bestehe fort.

Ergänzend legte er – neben bereits aktenkundigen oder älteren Befunden – den Arztbericht der U2 über die Diagnostik vom 3. Dezember 2019 vor. Danach sei im Belastungs-EKG die Belastung zwischen 75 und 175 Watt über 5 Minuten erfolgt, entsprechend 82 % der errechneten Ausbelastungsstufe. Soweit beurteilbar liege ein kardial stabiler Verlauf ohne Hinweis für eine Progression vor. Blutdruck und Puls seien grenzwertig hoch, es zeige sich aber auch eine deutliche Gewichtszunahme von 30 kg.

G1 bewertete versorgungsärztlich das Schlafapnoe-Syndrom mit einem Teil-GdB von 20, ebenso die koronare Herzkrankheit mit Herzleistungsminderung. Eine rückwirkende Feststellung des GdB sei nicht plausibel.

Mit Bescheid vom 18. Oktober 2021 stellte das LRA einen GdB von 30 seit dem 18. März 2021 fest. Eine rückwirkende Feststellung ab 1. Januar 2014 könne nicht erfolgen, da die geltend gemachten Gesundheitszustände ab diesem Zeitpunkt nicht belegt seien.

Im Widerspruchsverfahren legte der Kläger weitere Befundunterlagen vor:

Im Entlassungsbericht der S2-Kliniken über die stationäre Behandlung vom 22. bis 23. Juni 2021 wurde ein subakuter Hinterwandinfarkt mit funktionell proximalem Verschluss beschrieben. Am 5. Mai 2021 seien zwei Stents eingesetzt worden.

Vom 19. Mai bis 16. Juni 2021 wurde eine stationäre Rehabilitation im S3 Gesundheitszentrum W1 durchgeführt. Nach dem Entlassungsbericht sei die Mobilität eingeschränkt, Wissensanwendung und Kommunikation seien nicht limitiert. Die Bewältigung des häuslichen Lebens sei eingeschränkt. Kopf und Hals seien frei beweglich. Die Wirbelsäule sei physiologisch gekrümmt und altersentsprechend frei beweglich wie die großen Gelenke. Die orientierend neurologische Untersuchung sei unauffällig, psychisch sei der Kläger zu allen Qualitäten orientiert, Aufmerksamkeit und Gedächtnis wären unauffällig, ebenso das Aktivitätsniveau und die Psychomotorik, die Affektivität zeige sich normal. Im Belastungs-EKG sei eine Belastungssteigerung um 25 Watt alle 2 Minuten erfolgt, der Abbruch sei nach 1,5 Minuten bei 100 Watt wegen peripherer Erschöpfung erfolgt. Ischämietypische Endstreckenveränderungen und Rhythmusstörungen hätten sich keine gezeigt. In der Bodyplethysmographie habe sich ein FEV1-Wert von 108 % ergeben.

Gegenüber dem Psychologen habe der Kläger über psychische Belastungen aufgrund seiner Erkrankungen berichtet. Er mache sich Sorgen um seine berufliche und private Zukunft. Er fürchte sich vor einem weiteren, tödlichen Infarkt. In unterstützenden Gesprächen seien persönliche Ressourcen und Zukunftsperspektiven erarbeitet worden.

Im Verlauf sei es zu einer Verbesserung der körperlichen Belastbarkeit und Kondition gekommen, Leistungsfähigkeit und Ausdauer hätten zugenommen. Das Bewusstsein für Risikofaktoren habe geschärft werden können.

Das LRA erhob den Befundschein der U2. Danach habe sich kardiologisch bis Juni 2021 ein stabiler Befund gezeigt. Dann sei es zu einem subakuten Hinterwandinfarkt gekommen. In der Kardio-Kernspintomographie (MRT) bestehe jetzt eine reduzierte linksventrikuläre Funktion mit einer Ejektionsfraktion von 38 %, sowie eine Dyspnoe bei mittlerer Belastung. Eine Ergometrie sei bei ihr seit Ende 2019 nicht mehr erfolgt. Die Blutdruckwerte seien optimiert worden, trotzdem zeige sich konstant ein konzentrisch hypertrophierter linker Ventrikel. Es sei ein obstruktives Schlafapnoesyndrom mit dem Versuch einer Anpassung einer CPAP-Maske bekannt. Weiter hat sie ihre Befundberichte vorgelegt.

S4 hielt versorgungärztlich an der bisherigen Bewertung fest. Der Teil-GdB für die Herzerkrankung könne auf 30 angehoben werden. Die Gesamtheit der Gesundheitsstörungen mit ihren gegenseitigen funktionellen Beeinträchtigungen ergebe weiter einen Gesamt-GdB von 30. Eventuelle kardiale Folgen eines Schlafapnoesyndroms seien bereits mit erfasst, ebenfalls eine körperliche Einschränkung infolge der Adipositas, die sich funktionell von der Herzkrankheit nicht trennen lasse.

Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium S5 – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 31. August 2022 zurück. Für die Bemessung des GdB bei Herz- und Kreislaufkrankheiten sei weniger die Krankheit an sich maßgeblich, sondern die Leistungseinbuße. Bei der Beurteilung des GdB sei zunächst vom klinischen Bild und den Funktionseinschränkungen auszugehen. Es zeige sich eine mittelgradige linksventrikuläre Funktion von 43 %, sodass der Teil-GdB auf 30 angehoben werden könne. Eine Erhöhung des Gesamt-GdB rechtfertige sich hieraus nicht, da die körperliche Leistungseinschränkung durch die Adipositas sich funktionell nicht von der Herzerkrankung trennen lasse und die kardialen Folgen des Schlafapnoe-Syndroms mitberücksichtigt worden seien. Das Schlafapnoe-Syndrom sei mit einem Teil-GdB von 20 zu bewerten, eine Einschränkung der Lungenfunktion bestehe nicht.

Am 30. September 2022 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben, welches zur weiteren Sachaufklärung das internistische Sachverständigengutachten des S1 aufgrund ambulanter Untersuchung vom 8. Februar 2023 erhoben hat. Diesem gegenüber hat der Kläger angegeben, circa 5000 Schritte am Tag zurückzulegen. Er könne zwei Etagen am Stück besteigen. Er könne so gut wie nichts machen, sei vorzeitig erschöpft. Einen Nervenarzt habe er bislang nicht aufgesucht, Depressionen bestünden keine. Er vermute, dass seine Herzkraft vermindert sei, er sei in Etappen mit dem PKW nach H1 gefahren.

Der Kläger habe sich in einem guten Allgemeinzustand und übergewichtigen Ernährungszustand (Body-Mass-Index [BMI] 40,3) befunden. Es zeige sich keine Ruhedysponoe, die physikalische Untersuchung des Herzens und der Lungen sei unauffällig. Das EKG in Ruhe zeige einen Sinusryhthmus, die Fahrradergometrie sei nach 2 Minuten bei 100 Watt wegen der Angabe von Erschöpfung abgebrochen worden. Während und unmittelbar nach Beendigung sowie fünf Minuten nach Beendigung der Belastung bestünden keine Endstreckenveränderungen und keine Rhythmusstörungen. Der Blutdruck habe unter blutdrucksenkender Medikation im Normbereich gelegen.

Im Labor habe sich der Pumpfunktionsparameter BNP mit 21,7 pg/ml (Norm: <100) normal gezeigt, sodass eine Herzleistungsminderung nicht objektiviert werden könne. Dementsprechend habe das Belastungs-EKG mit 100 Watt durchgeführt werden können, ohne dass eine Koronarinsuffizienz aufgetreten sei. Die leichte Erhöhung des Kreatinin-Wertes könne auf eine verminderte Flüssigkeitszufuhr zurückgeführt werden.

Der Glukosewert sei unter medikamentöser Behandlung mit Metformin und Jardiance leicht erhöht. Die Herzerkrankung sei mit einem Teil-GdB von 20 zu bewerten, ebenso das Schlafapnoe-Syndrom. Relevante Phasen von Tagesmüdigkeit seien nicht vorgetragen worden, eine erneute Vorstellung im Schlaflabor sei geplant. Der Diabetes werde nicht nur mit Metformin, sondern auch mit Jardiance behandelt. Hinweise auf eine diabetische Nierenschädigung lägen zur Zeit nicht vor. Es könne ein Teil-GdB von 10 anerkannt werden. Der Gesamt-GdB sei auf 30 einzuschätzen.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 3. Juli 2023 abgewiesen. Im Funktionssystem „Herz und Kreislauf“ sei ein Teil-GdB von 20 gegeben, da die bei dem Kläger bestehende koronare 3-Gefäßerkrankung als leicht einzuordnen sei, wie S1 dargelegt habe. Der Einwand des Klägers, dass S1 nur das Ergebnis des Belastungs-EKG herangezogen habe, gehe fehl. Wenn dies zuträfe, hätte er nicht einmal eine Leistungsbeeinträchtigung bei mittelschwerer Belastung annehmen dürfen. Die Blutdruckwerte hätten im Normalbereich gelegen und rechtfertigen keine Erhöhung des Teil-GdB. Im Funktionssystem „Atmung“ betrage der Teil-GdB 20. Da der Kläger neben mit Metformin auch mit Empagliflozin (Jardiance) behandelt werde, welches Hypoglykämien auslösen können, sei ein Teil-GdB von 10 angemessen, aber auch ausreichend. Für die Adipositas sei kein weiterer Teil-GdB festzustellen. Die Einschränkungen im kardialen und pulmonalen Bereich seien bereits berücksichtigt.

Am 2. August 2023 hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht B1 (LSG) eingelegt. Das Funktionssystem „Herz und Kreislauf“ müsse mit einem Teil-GdB von 30 bewertet werden, der Teil-GdB von 10 im Funktionssystem „Innere Sekretion und Stoffwechsel“ entspreche nicht den Bewertungsvorgaben und müsse 20 betragen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 3. Juli 2023 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter Abänderung des Bescheides vom 18. Oktober 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2022 einen Grad der Behinderung von 50 seit dem 18. März 2021, hilfsweise seit dem 3. März 2022, festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Er verweist auf die angefochtene Entscheidung. S1 habe schlüssig dargelegt, dass ein Teil-GdB von 20 für die Herzerkrankung weiter angemessen sei. Der Bewertung des Schlafapnoe-Syndroms mit 20 sei zu folgen, der Diabetes mit keinem Teil-GdB zu bewerten. Die Medikamente Metformin und Jardiance seien Tabletten und kein Insulin, sodass hieraus kein Teil-GdB folge. Die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft komme keinesfalls in Betracht.

Der Senat hat dem Kläger für die Stellung eines Antrages nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine Frist bis 24. November 2023 gesetzt. Eine Antragstellung ist nicht erfolgt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.



Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.


Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 3. Juli 2023, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) auf Feststellung eines höheren GdB unter Abänderung des Bescheides vom 18. Oktober 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 31. August 2022 abgewiesen worden ist. Soweit der Kläger im Antragsverfahren noch die rückwirkende Feststellung – auf den 1. Januar 2014 und damit auf einen Zeitpunkt vor Antragstellung (vgl. § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) – beansprucht hat, hat er hieran bereits im Widerspruchsverfahren nicht festgehalten (vgl. die Widerspruchsbegründung, Blatt 111 der Verwaltungsakte), sodass der Beklagte hierüber schon im Widerspruchsbescheid nicht mehr zu entscheiden hatte. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Kommentar zum SGG, 14. Aufl. 2023, § 54 Rz. 34), ohne eine solche derjenige der Entscheidung.

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 18. Oktober 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Auch zur Überzeugung des Senats kann dieser die höhere Erstfeststellung des GdB mit mehr als 30 nicht beanspruchen, sodass das SG die Klage zu Recht abgewiesen hat.

Der Anspruch richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Teil- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (BSGE 82, 176 [177 f.]). Der Teil-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Teil-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.

In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht zur Überzeugung des Senats fest
, dass der GdB mit 30 zutreffend festgestellt ist.

Die vorwiegenden Funktionseinschränkungen des Klägers liegen im Funktionssystem „Herz und Kreislauf“, das entgegen der versorgungsärztlichen Einschätzung nur mit einem Teil-GdB von maximal 20 zu bewerten ist, wie auch der Sachverständige S1 dargelegt hat.

Nach den VG, Teil B, Nr. 9.1.1 ist eine Einschränkung der Herzleistung ohne wesentliche Leistungsbeeinträchtigung und ohne Einschränkung bei der Ergometerbelastung mit einem GdB von 0 bis 10 zu bewerten (Nr.1) und eine Leistungsminderung bei mittelschwerer Belastung mit Beschwerden und dem Auftreten pathologischer Messdaten bei der Ergometerbelastung mit 75 Watt (wenigstens 2 Minuten) mit einem GdB von 20 bis 40 (Nr. 2).

Hiervon ausgehend entnimmt der Senat dem Befundbericht der U2, dass der Kläger 2015 einen ersten Hinterwandinfarkt erlitten hat und es im Mai 2021 zu einem weiteren subakuten Hinterwandinfarkt gekommen ist, sodass zwei Stents eingesetzt wurden (vgl. Entlassungsbericht der S2-Kliniken). Nach dem ersten Infarkt bestand im Belastungs-EKG eine Belastbarkeit zwischen 75 und 175 Watt (vgl. den Befundbericht der U2). Dem Entlassungsbericht nach dem zweiten Infarkt über die stationäre Behandlung vom 19. Mai bis 16. Juni 2021 ist zu entnehmen, dass eine Ergometerbelastung bis 100 Watt möglich gewesen ist, eine nur auf 75 Watt limitierte Belastungsfähigkeit hat daher nicht bestanden. Weiterhin ist der Abbruch wegen muskulärer Erschöpfung erfolgt, ischämietypische Endstreckenveränderungen und Rhythmusstörungen bestanden nicht, sodass keine pathologischen Messdaten im Sinne der VG objektiviert sind.
Nichts anderes folgt aus dem Sachverständigengutachten des S1, bei dem der Kläger auf dem Ergometer ebenfalls bis 100 Watt belastbar gewesen ist, der Abbruch wiederum wegen Erschöpfung erfolgte und sich ebenso keine pathologischen Messwerte erheben ließen. Ergänzend hat der Sachverständige überzeugend dargelegt, dass sich im Labor der Pumpfunktionsparameter BNP normal gezeigt hat, sodass sich auch laborchemisch keine Hinweise auf eine Herzleistungsminderung ergeben.

Ein Teil-GdB von 20 stellt sich unter Berücksichtigung der erhobenen Funktionswerte somit bereits als Maximalbewertung dar. Eine Höherbewertung des Funktionssystems aufgrund des beschriebenen Bluthochdrucks kommt nicht in Betracht.

Nach den VG, Teil B, Nr. 9.3 führt erst eine mittelschwere Form des Bluthochdrucks mit Organbeteiligung leichten bis mittleren Grades sowie einem diastolischen Blutdruck von mehrfach über 100 mmHg trotz Behandlung je nach Leistungsbeeinträchtigung zu einem GdB von 20 bis 40.

Demgegenüber hat der Sachverständige S1 erhoben, dass der Blutdruck des Klägers unter medikamentöser Behandlung im Normbereich gelegen hat. Soweit in der Vergangenheit eine stationäre Behandlung wegen hypertensiver Entgleisung dokumentiert ist (vgl. Entlassungsbrief der S2 -Klinik), ergibt sich aus dem Bericht, dass diese auf ein Absetzen der Medikation zurückzuführen gewesen ist und eine Besserung unter wiederangesetzter Therapie eintrat. Es wird somit deutlich, dass der Bluthochdruck medikamentös erfolgreich behandelt werden kann und dieser daher nicht GdB-relevant ist.

Im Funktionssystem „Atmung“ beträgt der Teil-GdB 20, nachdem ein Schlaf-Apnoe-Syndrom mit Notwendigkeit einer kontinuierlichen nasalen Überdruckbeatmung beschrieben ist (vgl. VG, Teil B, Nr. 8.7). Eine in diesem Funktionssystem zu berücksichtigende Einschränkung der Lungenfunktion (vgl. VG, Teil B, Nr. 8.3) ist hingegen nicht objektiviert. Nach dem Entlassungsbericht der S2-Klinik zeigte sich in der Bodyplethsmographie ein FEV1-Wert von 108 % und damit ein Normalbefund. Abweichendes hat auch der Sachverständige S1 nicht befundet.

Letztlich wird ein Teil-GdB von 20 im Funktionssystem „Stoffwechsel und innere Sekretion“ nicht erreicht.

Nach den VG, Teil B, Nr. 15.1 erleiden die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdB rechtfertigt. Dieser beträgt 0.

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung, sodass der GdB 20 beträgt.

Ausgehend von diesen Maßstäben hat der Sachverständige S1, für den Senat überzeugend, dargelegt, dass der Kläger nicht nur mit Metformin, sondern auch mit Jardiance behandelt wird. Er hat somit eine Therapie beschrieben, durch die eine Hypoglykämie ausgelöst werden kann, wie das SG bereits im Einzelnen ausgeführt hat. Entgegen der Darlegungen des Beklagten kann der Senat den VG, Teil B, Nr. 15.1 keine Beschränkung auf eine Insulin-Therapie entnehmen, sodass die Therapie mit Tabletten einem Teil-GdB von 20 alleine nicht entgegensteht. Dass der Sachverständige S1 dennoch nur von einem Teil-GdB von 10 ausgegangen ist, widerspricht den Bewertungsvorgaben der VG, entgegen der Auffassung des Klägers, deshalb nicht, weil er durch die Therapie bedingte Einschnitte in der Lebensführung nicht erhoben hat, solche für einen GdB von 20 aber vorausgesetzt werden. Vielmehr hat er den Glukosewert unter Therapie als nur leicht erhöht befundet und damit eine gut einstellbare Stoffwechsellage.

Letztlich besteht kein Teil-GdB im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ (vgl. VG, Teil B, Nr. 3.7), nachdem der Kläger gegenüber dem Sachverständigen S1 weder entsprechende Einschränkungen noch Behandlungen angegeben hat. Dementsprechend hat das S3-Gesundheitszentrum den Kläger psychisch als zu allen Qualitäten orientiert, bei unbeeinträchtigter Aufmerksamkeit beschrieben. Das Aktivitätsniveau, die Psychomotorik und die Affektivität waren normal. Ein pathologischer Befund, der über die üblichen seelischen Begleiterscheinungen hinausgeht, die von den Teil-GdB im Funktionssystem bereits erfasst sind (vgl. VG, Teil A, Nr. 2 i), ist somit nicht beschrieben worden. Dass der Kläger gegenüber dem Psychologen von nachvollziehbaren psychischen Belastungen aufgrund seiner Erkrankung berichtet hat, rechtfertigt eine gesonderte Bewertung daher nicht, denn dadurch wird kein Krankheitswert und damit nicht die erforderliche Funktionseinschränkung begründet.

Aus den Teil-GdB von maximal 20 im Funktionssystem „Herz und Kreislauf“ und 20 im Funktionssystem „Atmung“ lässt sich ein höherer Gesamt-GdB als 30 nicht bilden.

Einen Antrag nach § 109 SGG hat der Kläger nicht gestellt, sodass hierüber nicht zu entscheiden war.

Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.


 

Rechtskraft
Aus
Saved