Im Rahmen von § 76 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB IV ist eine sich am Begriff der Unbilligkeit orientierende Ermessensentscheidung zu treffen. Bei Zahlungsunfähigkeit zum Zeitpunkt des Antrags auf Erlass von Säumniszuschlägen, kann aus sachlichen Billigkeitsgründen der hälftige Erlass geboten sein.
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 22. Juli 2021 sowie der Bescheid der Beklagten vom 3. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Januar 2021 werden aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Erlass von Säumniszuschlägen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zur Hälfte zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um den Erlass von Säumniszuschlägen auf Rentenversicherungsbeiträge für die selbständige Tätigkeit des Klägers.
Der am ... 1957 geborene Kläger nahm zum 1. März 1991 das Gewerbe „Verkauf von Angelgeräten und Zubehör, erlaubnisfreien Schusswaffen laut Waffengesetz mit - PTB - und - F - Zeichen“ in B. auf (Gewerbeanmeldung vom 12. November 1990). Seit dem 1. Juli 2023 bezieht er Regelaltersrente (Rentenbescheid vom 18. Juli 2023).
Mit Bescheid vom 22. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Oktober 2006 stellte die Beklagte für die selbständige Tätigkeit des Klägers die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 229a Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) fest. Da der Kläger am 31. Dezember 1991 im Beitrittsgebiet versicherungspflichtig gewesen sei und ein Befreiungsantrag nicht vorläge, seien die Voraussetzungen der Versicherungspflicht ab dem 1. Januar 1992 gegeben. Die Beiträge seien monatlich spätestens bis zum drittletzten Bankarbeitstag des Kalendermonats zu zahlen. Für Beiträge, die nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstags gezahlt worden seien, werde für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag in Höhe von eins vom Hundert des rückständigen Betrags erhoben (§ 24 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung [SGB IV]). Für die Zeit vom 1. März 1991 bis zum 30. November 2000 könnten keine Beiträge mehr erhoben werden, da der Anspruch auf diese bereits verjährt sei. Der Bescheid enthält im Übrigen die Berechnung der Höhe der (einkommensgerechten) Beiträge für den Zeitraum vom 1. Dezember 2000 bis zum 31. März 2006 und weist eine Forderung in Höhe von insgesamt 16.170,72 € aus. Gegen diesen Veranlagungsbescheid erhob der Kläger keine Klage.
Da über das Vermögen des Klägers mit Eröffnungsbeschluss des Amtsgerichts S. vom 19. März 2004 das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt wurde, meldete die Beklagte am 5. April 2006 eine Beitragsforderung in Höhe von 8.550,79 € für die Beiträge im Zeitraum vom 1. Dezember 2000 bis zum 18. März 2004 beim Insolvenzverwalter zur Tabelle an. Mit Beschluss des Amtsgerichts S. vom 3. September 2010 wurde dem Kläger Restschuldbefreiung erteilt.
Mit Bescheid vom 9. November 2007 änderte die Beklagte die Beitragsforderung ab dem 1. Juli 2006 ab und forderte einkommensgerechte Beiträge für die Zeit vom 19. März 2004 bis zum 30. November 2007 in Höhe von insgesamt 14.274,62 € (einschließlich Säumniszuschläge von 3 €). In der Folgezeit erhob die Beklagte jeweils einkommensgerechte Beiträge und Beitragsnachforderungen (auf der Grundlage der jeweils vorliegenden Steuerbescheide) sowie Säumniszuschläge. Der Kläger wandte sich teilweise gegen die Beitragsnachforderungen. Zahlungen hierauf leistete er zunächst nicht.
Mit Bescheid vom 12. Januar 2009 gewährte die Beklagte dem Kläger Ratenzahlungen zum Ausgleich der rückständigen Forderungen ab Januar 2009 in Höhe von monatlich 302,58 € (laufender Pflichtbeitrag plus 100 € zur Tilgung des Rückstands). Ausweislich der beigefügten Forderungsaufstellung ergab sich eine aktuelle Gesamtforderung von 18.338,10 € (einschließlich 1.284 € Säumniszuschläge).
Am 3. September 2009 beantragte der Kläger die Rücknahme des Veranlagungsbescheids vom 22. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Oktober 2006 im Zugunstenverfahren. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 28. Dezember 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. März 2010 ab. Es bestehe kein Anspruch auf Rücknahme, da der Veranlagungsbescheid rechtmäßig sei. Die dagegen gerichtete Klage vor dem (ehemaligen) Sozialgericht Stendal, später Magdeburg blieb erfolglos (S 2 R 180/10, später S 42 R 90180/10; Gerichtsbescheid vom 6. November 2015). Die anschließend vor dem Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt fristgerecht eingelegte Berufung (3 R 529/15) nahm der Kläger am 24. Mai 2017 zurück.
Am 16. Oktober 2017 stellte der Kläger einen Antrag auf Erlass von Säumniszuschlägen und Zinszahlungen für den Fall, dass die ebenfalls beantragte Ratenzahlung zusammen mit der laufenden Beitragszahlung regelmäßig erbracht werden würde.
Mit Bescheid vom 15. Dezember 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. Mai 2020 stellte die Beklagte rückständige Pflichtbeiträge im Zeitraum vom 1. Oktober 2008 bis zum 30. November 2017 einschließlich der Säumniszuschläge für die Beitragsrückstände für die Zeit vom 1. Februar 2005 bis zum 30. November 2017 und Stundungszinsen in Höhe von insgesamt 21.022,05 € fest. Hinsichtlich der Höhe der einzelnen Forderungen wird auf Blatt 1061 ff. der Verwaltungsakte Band V der Beklagten verwiesen. Die Säumniszuschläge seien nach § 24 Abs. 1 SGB IV zu erheben.
Mit Bescheid vom 31. Januar 2018 bewilligte die Beklagte dem Kläger Ratenzahlungen zum Ausgleich der rückständigen Forderungen ab dem 1. Februar 2018 in Höhe von monatlich 460,71 € (laufender Pflichtbeitrag plus 250 € zur Tilgung des Rückstands). Ausweislich der beigefügten Forderungsaufstellung ergab sich eine aktuelle Gesamtforderung von 28.293,02 € (einschließlich Säumniszuschläge).
Mit Bescheid vom 3. Juli 2020 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Erlass der mit Bescheid vom 15. Dezember 2017 erhobenen Säumniszuschläge in Höhe von 10.767,50 € ab. Die Prüfung habe ergeben, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Einziehung des überzahlten Betrags mit dem Gesetzeszweck nicht mehr zu vereinbaren wäre. Damit lägen keine sachlichen Gründe für den Erlass vor. Die Entscheidung sei nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Das Interesse der Versichertengemeinschaft, den Rückforderungsanspruch nur bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen zu erlassen, überwiege gegenüber dem Interesse des Klägers. Da die Beklagte Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben habe, sei es nicht sachgerecht, von der Erhebung abzusehen.
Dagegen erhob der Kläger am 7. August 2020 Widerspruch mit der Begründung, es lägen persönliche und sachliche Unbilligkeitsgründe für den Erlass von Zinsen und Säumniszuschlägen vor. Während sein seit knapp drei Jahrzehnten betriebener Angelshop anfangs eine hinreichende Einkommensgrundlage gebildet habe, sei mittlerweile ein massiver Umsatzeinbruch mit erheblichem Gewinnrückgang zu verzeichnen. Er leide bis heute unter der verpassten Möglichkeit der Befreiung von der Versicherungspflicht. Er sei verheiratet und das Einkommen müsse für zwei Personen auskömmlich sein. Die aktuell von ihm geleisteten Zahlungen führten zu einer Existenzgefährdung. Er sei daran gehindert, notwendige Instandsetzungen und Reparaturen am Hausgrundstück mit Ladenbetrieb und Wohnung zu veranlassen. Die Länge der Rechtsmittelverfahren könne ihm nicht angelastet werden und stelle eine besondere Härte dar. Bei kürzerer Bearbeitungszeit bis zur Entscheidung über das Rechtsmittel wären geringere Zinsen und Säumniszuschläge angefallen. Auch habe er bereits während des laufenden Verfahrens ausdrücklich angeboten, neben der laufenden Beitragszahlung eine Tilgung von Rückständen im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten vorzunehmen. Ein Verzögern seinerseits habe somit nicht stattgefunden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 2021 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Ein Anspruch auf Erlass der Säumniszuschläge bestehe nicht. Bei der Beurteilung der Möglichkeiten eines Erlasses seien persönliche und sachliche Beurteilungsgrundlagen von Bedeutung. Eine Gefährdung des notwendigen Lebensunterhalts bestehe, wenn der Schuldner für sich und gegebenenfalls für seine Familie keine ausreichenden Mittel zur Nahrung, Wohnung, Kleidung, ärztliche Behandlung etc. zur Verfügung habe. Solange die Möglichkeit bestehe, die Schulden gegebenenfalls auch erst zu einem späteren Zeitpunkt und oder nur langfristig und ratenweise tilgen zu können, bestehe kein Grund für einen Erlass. Die seit Jahren bestehende Versicherungspflicht und damit Zahlungspflicht von Beiträgen sei gerichtlich bestätigt worden. Der Kläger habe während der Rechtsmittelverfahren jederzeit die Möglichkeit gehabt, die Forderung anzuerkennen und in Raten abzuzahlen. Durch seine Zahlungsbestimmung seien gerade die ältesten Forderungen nicht getilgt worden, sodass darauf Säumniszuschläge in größerem Umfang zu erheben gewesen seien. Auf eine Anpassung bzw. Erhöhung der aktuellen Raten, welche üblicherweise bei sehr langer Laufzeit der Tilgung vorgenommen werde, sei unter Berücksichtigung seiner wirtschaftlichen Situation verzichtet worden. Allein die pünktliche Zahlung der Raten sei kein Grund für den Erlass der Säumniszuschläge oder Zinsen.
Dagegen hat der Kläger am 1. März 2021 Klage beim Sozialgericht Magdeburg erhoben und vorgetragen, die Beklagte habe sich mehr als zehn Jahre Zeit gelassen, ihm gegenüber ihre Ansprüche bekannt zu geben. Aufgrund der Länge der sich anschließenden gerichtlichen Verfahren sei er von der Höhe der rückständigen Beiträge überrascht worden. Er habe bereits Mühe, die entstandenen Beitragsrückstände zu tilgen. Zusätzlich werde er mit den Säumniszuschlägen belastet, die er erkennbar aufgrund seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse bis zum Erreichen des Rentenalters und für mehr als ein Jahrzehnt danach nicht werde tilgen können. Bei einer zu erwartenden Rente von ca. 600 € und den zu erbringenden Tilgungsleistungen sei er auf staatliche Hilfen wie Leistungen der Grundsicherung angewiesen. Insgesamt sei aus seiner Sicht sowohl ein Fall der persönlichen als auch der sachlichen Unbilligkeit gegeben.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 22. Juli 2021 abgewiesen. Die Voraussetzungen für den Erlass der Säumniszuschläge lägen mangels persönlicher oder sachlicher Unbilligkeit nicht vor. Aufgrund der gesetzlichen Pfändungsvorschriften und der Möglichkeit der Gewährung von Leistungen zur Grundsicherung sei das Existenzminimum des Klägers gesichert. Auch ergäben sich aus dem Vorbringen des Klägers keine Gesichtspunkte für die Annahme einer unbilligen Härte.
Gegen den ihm am 26. Juli 2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 23. August 2021 Berufung beim LSG Sachsen-Anhalt eingelegt und zur Begründung vorgetragen, aufgrund seines Alters und der Höhe der Beiträge im Verhältnis zu seinem Einkommen liege bereits persönliche Unbilligkeit vor. Auch werde auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur gesetzlichen Zinshöhe verwiesen, welches die Geltendmachung von jährlichen Zinsen in Höhe von sechs vom Hundert als Festzinssatz in Ansehung des mehr als zehn Jahre andauernden Niedrigzinsniveaus als nicht mehr hinnehmbar bezeichnet habe. Die verspätete Bescheidung zur Versicherungspflicht (knapp zehn Jahre nach Aufnahme der Tätigkeit) falle ausschließlich in den Sphärenkreis der Beklagten. Es könne nicht sein, dass er Billigkeitserwägungen dadurch verwirkt haben solle, dass er gerichtlichen Rechtsschutz ersucht habe.
Der Kläger beantragt (schriftsätzlich),
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 22. Juli 2021 sowie der Bescheid der Beklagten vom 3. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Januar 2021 aufzuheben und die Beklagte verurteilen, ihm die Säumniszuschläge in Höhe von 10.767,50 € zu erlassen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Im Erörterungstermin am 3. März 2023 hat die Berichterstatterin auf die gemeinsamen Verlautbarungen der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung vom 9. November 1994 hingewiesen.
Am 9. März 2023 hat der Kläger eine Betriebswirtschaftliche Auswertung (BWA) seines Angel- und Waffenshops für den Zeitraum von Januar bis Oktober 2017 vorgelegt. Hierzu wird auf Blatt 147 ff. der Gerichtsakte verwiesen.
Mit Schreiben vom 26. Juni 2023 hat die Beklagte eine interne Stellungnahme vorgelegt, nach der sie trotz Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit zum Zeitpunkt der Erlassentscheidung den gerichtlich vorgeschlagenen hälftigen Erlass der Säumniszuschläge ablehne, da sich der Vorgang in einer Stundung (Ratenzahlung) befinde. Nach der Richtlinie ihres Vorstands 02/2006 sei ein Erlass von Ansprüchen nur dann möglich, wenn eine Stundung oder Niederschlagung nicht in Betracht komme. Hinsichtlich der entsprechenden Entscheidungsverfügung wird auf Blatt 166 in Verbindung mit Blatt 159 der Gerichtsakte verwiesen.
Mit Schreiben vom 5., 6. und 7. Dezember 2023 haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin anstelle des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten ergänzend verwiesen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte nach §§ 155 Abs. 3, 4 und 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im Einverständnis der Beteiligten durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht gemäß § 151 Abs. 1 SGG eingelegt worden.
Die Berufung ist auch statthaft nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Der maßgebliche Beschwerdewert von 750 € ist überschritten, denn es ist der Erlass von Säumniszuschlägen in Höhe von 10.767,50 € streitgegenständlich.
Da der Kläger sinngemäß geltend macht, das Ermessen sei auf Null reduziert, ist die Anfechtungsklage die richtige Klageart.
Die Berufung ist auch insoweit begründet, als die Beklagte verpflichtet wird, über den Antrag des Klägers auf Erlass von Säumniszuschlägen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden. Insoweit ist der angegriffene Bescheid der Beklagten rechtswidrig und verletzt den Kläger im Sinne der §§ 153 Abs. 1, 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Entsprechend waren der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 22. Juli 2021 sowie der Bescheid der Beklagten vom 3. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Januar 2021 aufzuheben. Soweit der Kläger die Verurteilung der Beklagten zum Erlass der Säumniszuschläge aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null begehrt, ist die Berufung unbegründet.
Nach § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV darf ein Versicherungsträger Ansprüche nur erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Diese Vorschrift wurde in Anlehnung an § 227 Abgabenordnung (AO) geschaffen. Aufgrund der vom Gesetzgeber angestrebten Gleichbehandlung des Erlasses von Forderungen im Steuer- und im Beitragsrecht, sind die zu § 227 AO im Steuerrecht entwickelten Grundsätze zu beachten.
Die Entscheidung über den Erlass ist eine Ermessensentscheidung, bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den weiten unbestimmten (Rechts-)Begriff der Unbilligkeit bestimmt werden. Entsprechend ist im Rahmen des § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV eine sich am Begriff der Unbilligkeit orientierende Ermessensentscheidung zu treffen (BSG, Urteil vom 4. März 1999, B 11/10 AL 5/98 R, juris Rn. 19 m. w. N.). Ist die Durchsetzung der Säumniszuschläge unbillig, ist kein Raum für eine weitere Ermessensausübung.
Ob das Ermessen zutreffend ausgeübt wurde, unterliegt im gerichtlichen Verfahren nur eingeschränkter Überprüfung. Eine Ermessensentscheidung ist als solche nur rechtswidrig, wenn der Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung fehlerfreien Ermessens verletzt ist. Das Gericht darf nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltung setzen, sondern nur prüfen, ob der Träger sein Ermessen überhaupt ausgeübt, er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder ob er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. Januar 2019, L 3 R 59/15, juris Rn. 21).
Ein Ermessensnichtgebrauch, bei dem überhaupt keine Ermessenserwägungen angestellt werden und so gehandelt wird, als ob eine gebundene Entscheidung zu treffen ist, ist vorliegend nicht festzustellen. Die Beklagte hat erkannt, dass ihr Ermessen zusteht und sie hat auch davon Gebrauch gemacht.
Als Ermessensfehler liegt hier nach Auffassung des Senats eine dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechende Ermessensausübung vor. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt zum einen vor, wenn die Behörde ein unsachliches Motiv oder einen sachfremden Zweck verfolgt (Ermessensmissbrauch). Zum anderen liegt ein Fehlgebrauch als Abwägungsdefizit vor, wenn sie nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach der Lage des Falls zu berücksichtigen sind, in die Entscheidungsfindung einbezogen hat. Der Fehlgebrauch kann zudem als Abwägungsdisproportionalität vorliegen, wenn die Behörde die abzuwägenden Gesichtspunkte rechtlich fehlerhaft gewichtet hat.
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist für die Frage, ob Säumniszuschläge zu erlassen sind, weil sie ihren Sinn nicht mehr erfüllen, auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Erlass abzustellen (BSG, Urteil vom 18. Mai 2000, B 11 AL 105/99 R, juris Rn. 24 unter Bezugnahme auf Bundesfinanzhof [BFH], Urteil vom 8. März 1990, IV R 34/89). Unter Anwendung der vorgenannten Grundsätze ist ein Erlass von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen geboten, wenn ihre Einbeziehung im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Säumniszuschläge, nicht zu rechtfertigen ist, obwohl der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Erhebung der Säumniszuschläge aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft. In den gemeinsamen Verlautbarungen der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung vom 9. November 1994 zur Erhebung von Säumniszuschlägen sind Fallkonstellationen formuliert, unter denen der Erlass von Säumniszuschlägen insbesondere wegen Unbilligkeit in Betracht kommen kann. Danach kann bei Zahlungsunfähigkeit die Hälfte der Säumniszuschläge erlassen werden, da deren Druckfunktion in Leere geht (so auch LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. Dezember 2018, L 5 KR 110/18, juris Rn. 17 i. V. m. Rn. 6; Boetticher in Schlegel/Voelzke, Juris-Praxiskommentar zum SGB IV, 4. Auflage, Stand 1. August 2021, § 76 Rn. 41). Dies entspricht auch der Rechtsprechung des BFH, nach der der insoweit entfallende Zweck "Druckmittel" durch den Erlass der Hälfte der verwirkten Säumniszuschläge ermessensgerecht berücksichtigt wird. Demgegenüber bleibt die Funktion der Säumniszuschläge als Gegenleistung für die verspätete Zahlung fälliger Steuern und als Aufwendungssatz für die Verwaltung unberührt, sodass die Ablehnung eines weitergehenden Erlasses nicht ermessenswidrig ist (BFH, Urteil vom 18. April 1996, V R 55/95, juris). Der Anwendung dieser Rechtsprechung hat sich das BSG angeschlossen und für Säumniszuschläge, die nach Konkurseröffnung entstanden sind, einen teilweisen Erlass aufgrund des Wegfalls der Druckfunktion als rechtmäßig angesehen (BSG, Urteil vom 4. März 1999, B 11/10 AL 5/98 R, juris Rn. 20).
Zahlungsunfähigkeit im oben genannten Sinne liegt nach Auffassung des Senats vor, wenn feststeht, dass der Schuldner seine wesentlichen und fälligen Verpflichtungen in den nächsten drei bis sechs Monaten nicht begleichen können wird. Ausweislich der vom Kläger vorgelegten BWA seines Angel- und Waffenshops für den Zeitraum von Januar bis Oktober 2017 erzielte er zu diesem Zeitpunkt Einkommen in Höhe von monatlich 651,70 €. Der gemeinsame Haushalt erzielte ein Gesamteinkommen von monatlich 1.056,51 €, wovon nach Abzug der Ausgaben ein Betrag in Höhe von 81,44 € verblieb. Damit konnte der Kläger seine wesentlichen und fälligen Verpflichtungen in den nächsten drei bis sechs Monaten nicht begleichen. Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig (vgl. vorgelegte interne Stellungnahme der Beklagten, Blatt 165 der Gerichtsakte).
Diesen Gesichtspunkt hat die Beklagte fehlerhaft in ihre Ermessenausübung nicht eingestellt, obwohl dies nach dem Zweck des Gesetzes geboten gewesen wäre. Vielmehr hat sie ihre Ermessensentscheidung allein damit begründet, dass dem Kläger bereits eine Stundung bzw. Ratenzahlung der Beitragsnachforderung eingeräumt worden sei.
Die Beklagte wird in diesem Sinne erneut zu prüfen haben, ob ein Wegfall der Druckfunktion durch die Zahlungsunfähigkeit des Klägers vorlag und ihm deshalb in Anwendung der oben genannten Grundsätze die Hälfte der Säumniszuschläge erlassen werden kann.
Entgegen der Ansicht des Klägers muss das zur Zeit der Verwaltungsentscheidung marktübliche Zinsniveau keine Berücksichtigung finden; denn wie aus der Standardisierung des Schadensausgleichs ersichtlich ist, sollen die Behörden bei der Erhebung von Säumniszuschlägen und damit auch bei deren Erlass wegen Unbilligkeit von einer derartigen Prüfung entlastet werden (vgl. BSG, Urteil vom 4. März 1999, B 11/10 AL 5/98 R, juris Rn. 21).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.
Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.