L 1 U 1474/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 7 U 852/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 1474/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 3. Mai 2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger begehrt die Anerkennung der Berufskrankheit Nr. 2108 BKV („bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule [LWS] durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten […]“) der Anlage 1 zur BKV; künftig BK 2108.)

Der 1971 geborenen Kläger war von Ende 1990 bis Mai 1993 bei verschiedenen Firmen als Maschinenführer und angelernter Arbeiter tätig, wobei nach eigenen Angaben jeweils keine besonderen Belastungen der Wirbelsäule anfielen. Von Juni 1993 bis August 2003 war der Kläger arbeitslos. Seit 1. September 2003 ist der Kläger bei der Fa. S1 GmbH, einem KFZ-Zulieferbetrieb für PKW-Außenspiegel, beschäftigt. Zunächst, bis März 2008 war er als Bestückter (Auf- und Abhänger leichter Kunststoffteile für KFZ-Außenspiegel) an der Lackieranlage tätig. Von April 2008 bis Oktober 2019 war er dann als Farbmischer und Anlagenversorger an der Lackieranlage tätig. Hierbei fielen Hebevorgänge von Lackgebinden an, die ein Gewicht von 25kg haben. Im Oktober 2019 wurde der Kläger dann aus gesundheitlichen Gründen als Produktionshelfer in den Bereich Kunststofffertigung umgesetzt, wo wieder nur leichte Kunststoffteile der KFZ-Außenspiegel auf Spritzgussmaschinen gefertigt wurden.

Nach einer Kernspintomografie der Lendenwirbelsäule vom 23. Juni 2016 berichtete der R1 K1 über mehrsegmentale Protrusionen im Bereich L3/L4 bis L5/S1. Ein großvolumiger Prolaps, eine Spinalkanalstenose relevanten Ausmaßes finde sich aber nicht. Es sei zudem eine beginnende Osteochondrose (= verschleißbedingte Veränderung der Bandscheibe und der angrenzenden Knochen) festzustellen, insbesondere bei L5/S1.

Mit Arztbrief vom 13. März 2017 beschrieb K2 einen großen Bandscheibenvorfall L5/S1 mediolateral links sowie ein L5/S1-Syndrom links.

Im Rahmen einer Reha-Behandlung erfolgte vom 11. Juni 2018 bis 6. Juli 2018 in der Klinik H1, M1, eine Rehabilitationsbehandlung bei großem Bandscheibenvorfall L5/S1 medial lateral links betont.

Eine Kernspintomographie der Lendenwirbelsäule vom 26. Oktober 2018 (Radiologisches Zentrum M2) zeigte eine weitere geringfügige Befundaggravation des mehrfach sequestrierenden Bandscheibenvorfalls L5/S1 mit zunehmend linksseitiger S1-Irritation und eine Osteochon­drose mit geringer Spondylose und beginnender Spondylarthrose L4/5 und L5/S1.

In einer Kernspintomographie vom 26. Oktober 2018 stellt Herr K1 fest, die untere BWS und die obere LWS ließen sich durchwegs regelmäßig erkennen. In L5/S1 bestehe ein massiver, deutlich sequestrierender Diskusbefund links betont.

Am 12. November 2018 erfolgte bei nach kaudal sequestriertem Massenprolaps L5/S1 links mit neurologischen Ausfällen in der M3-Klinik O1 eine mikrochirurgische Dekompression und Sequester-Exstirpation.

Die Kernspintomographie der Lendenwirbelsäule vom 13. September 2019 zeigte nachvollziehbare Protrusionen L4/5 und L5/S1 sowie postoperativ eine peridural narbige Fibrose (Radiologisches Zentrum M2).

Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 18. November 2019 die Anerkennung einer BK 2108. In einem Vordruck der Beklagten gab er an, er habe seit 2016 ständige Rückenschmerzen.

Auf Nachfrage der Beklagten teilte G1 am 13. Februar 2020 mit, im MRT vom Dezember 2016 zeige sich ein Massenprolaps L5/S1. Es handelt sich hierbei um eine gesicherte Bandscheibenschädigung. In den Segmenten L3/4 und L4/L5 zeigten sich lediglich kleinere Bandscheibenprotrusionen. Seines Erachtens liege die Konstellation B2 vor. Es empfehle sich die berufliche Belastung festzustellen

Die Firma M4 machte am 20. März 2020 Angaben zu gesundheitsgefährdenden Einwirkungen im Tätigkeitsbereich des Klägers.

In der Stellungnahme Arbeitsplatzexposition vom 11. Mai 2020 führte der Präventionsdienst der Beklagten aus, als belastungsrelevante Tätigkeit komme nur die Beschäftigung als Lackierer/Farbmischer bei der Firma S1 GmbH in A1 vom 1. April 2008 bis zum 20. Oktober 2019 in Betracht. Hier sei eine Belastungsdosis von 6,1 MNh (Mega Newton Stunden) anzunehmen.

Mit Schreiben vom 27. Mai 2020 führte der Prozessbevollmächtigte des Klägers aus, die Ausführungen zur Exposition seien unzutreffend. Bei der Tätigkeit des Klägers liege eine höchstgradige körperliche Belastung mit Spitzenwerten und körperlicher Überbeanspruchung vor. Mitübersandt wurde eine Stellungnahme des Sicherheitsbeauftragten O2 vom 4. April 2018 zur Bereitstellung der Farben im Farblager Lack 1 und 2, wonach eine hohe Belastung bestand und eine körperliche Überbeanspruchung wahrscheinlich sei.

Mit ergänzender Stellungnahme vom 2. Juni 2020 korrigierte der Präventionsdienst der Beklagten seine Einschätzung auf dieser Basis dahingehend, dass für den Zeitraum vom 1. April 2008 bis zum 20. Oktober 2019 eine Teildosis mit entsprechender Gesamtdosis von 13,7 MNh für die Beschäftigung bei der Firma S1 GmbH vorliege. Bei der Berechnung der Gesamtbelastungsdosis ging der Präventionsdienst von 250 Hebevorgänge pro Schicht aus.

Auf dieser Basis holte die Beklagte ein Gutachten beim W1 ein. Dieser führte am 10. November 2020 aus, bereits in der Kernspintomographie vom 23. Juni 2016 sei ein ausgeprägter lumbaler Bandscheibenvorfall L5/S1 dargestellt, der später operiert worden sei. Von daher stelle sich bezüglich der Kausalität die Frage, ob bereits zu diesem Zeitpunkt der hälftige Orientierungswert für Männer von 12,5 MNh erreicht bzw. überschritten worden sei. Unter der Voraussetzung des Erreichens des hälftigen Dosis-Orientierungswertes entsprechend dem Mainz-Dortmunder-Dosismodells (MDD) bereits zum 23. Juni 2016, sei die berufliche Einwirkung mit Wahrscheinlichkeit als wesentliche Ursache für die Entstehung oder Verschlimmerung der bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule anzusehen. Andernfalls wäre der Befund als schicksalhaft zu werten. Da die bisherige Belastungsberechnung den Zeitraum bis 20. Oktober 2019 umfasse, empfahl er eine aktualisierte Belastungsberechnung.

Mit ergänzender Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition vom 16. November 2020 schätzte der Präventionsdienst der Beklagten für den Zeitraum vom 1. April 2008 bis zum 23. Juni 2016 die Teildosis und daraus resultierende Gesamtdosis mit 9,8 MNh ein.

In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 23. November 2020 führte der W1 aus, Grundvoraussetzung für die Anerkennung der BK sei einerseits eine nachgewiesene bandscheibenbedingte Erkrankung und andererseits eine ausreichende berufliche Belastung. Wenn entsprechend der Neuberechnung eine ausreichende berufliche Belastung nicht vorliege, seien die Voraussetzungen zur Anerkennung einer BK 2108 nicht erfüllt.

Mit Bescheid vom 9. Dezember 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. März 2021 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer BK 2108 ab.

Hiergegen hat der Kläger am 24. März 2021 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, die von der Beklagten vorgelegte Exposition sei nicht anzuerkennen, nachdem sie die tatsächlich stattgehabten laufenden Belastungen während der Schichten mit Hebetätigkeit von mindestens 25 Kilogramm schweren Gefäßen nicht beachtet und die dort behauptete Rotation (im Sinne eines Wechsels) der Mitarbeiter bei dieser Tätigkeit nicht stattgefunden habe.

Mit Gerichtsbescheid vom 3. Mai 2023 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe das Vorliegen der sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen einer BK 2108 nicht nachweisen können. Unter Berücksichtigung und Würdigung der von der Beklagten angestellten nicht zu beanstandenden präventionsdienstlichen Einschätzungen habe der Kläger zwar bezogen auf die Gesamtdauer seines Erwerbslebens die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes von 12,5 MNh für die Gesamtbelastungsdosis mit 13,7 MNh zwar überschritten. Zum maßgeblichen Stichtag, der in der Kernspintomografie der Lendenwirbelsäule vom 23. Juni 2016 beschriebenen Erkrankung, sei die erforderliche hälftige Mindestbelastungsdosis mit einer Gesamtdosis von 9,8 MNh aber noch nicht erreicht.

Hiergegen hat der Kläger am 22. Mai 2023 die vorliegende Berufung eingelegt. Er hat geltend gemacht, es überzeuge nicht, dass als maßgeblicher Stichtag der 23. Juni 2016 angenommen werde. Bis zum 26. Oktober 2018 sei es zu Verschlechterungen im Befund gekommen. Nach den Konsensempfehlungen komme es für die Beurteilung der Nativröntgenbilder auf den Zeitpunkt der Aufgabe der belastenden Tätigkeit an. Daher sei die Gesamtbelastungsdosis anhand des Zeitraums vom 1. April 2008 bis zur Arbeitsunfähigkeit ab 15. Oktober 2018 zu berechnen. Ferner überzeuge nicht, dass bei der Berechnung der Gesamtbelastungsdosis lediglich von 250 Hebevorgängen pro Arbeitstag ausgegangen wurde. Es sei von mindestens 302 Hebe- und Umsetzungsvorgängen auszugehen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 3. Mai 2023 sowie den Bescheid vom 9. Dezember 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. März 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Wirbelsäulenerkrankung des Klägers als Berufskrankheit gemäß Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Die Beklagte hält das Urteil des SG für zutreffend und hat darauf verwiesen.

Der Berichterstatter hat den Sach- und Streitstand am 16. Oktober 2023 mit den Beteiligter erörtert. Befragt nach den Einwendungen gegen die Beurteilung des Präventionsdienstes hat der damalige Prozessbevollmächtigte des Klägers ausgeführt, aus Sicht des Klägers habe die Mitarbeiterrotation, d.h. der Mitarbeiterwechsel bei den Hebearbeiten, in Realität nicht so oft stattgefunden, wie es der Präventionsdienst annehme. Richtigerweise sei von den 302 Hebevorgängen auszugehen. Zudem sei nicht der erste gesicherte Krankheitsbefund vom Juni 2016 maßgeblich, sondern es sei auch zu berücksichtigen, dass die Krankheit progredient verlaufen sei, weshalb (bei der Berechnung des Präventionsdienstes) auf den Beginn der Arbeitsunfähigkeit im Oktober 2018 abzustellen sei.

Der Senat hat hieraufhin schriftliche Zeugenaussagen bei den Zeugen O3 (Fachkraft für Arbeitssicherheit „Sicherheitsmeister") und M5 (Betriebsratsvorsitzende, S1 GmbH) eingeholt. Diese haben bestätigt, dass es nur einen geringen Mitarbeiterwechsel bei den Hebevorgängen gab. Der Zeuge O4 hat 304 Hebevorgängen pro Schicht angenommen. Wegen der Details der Aussagen wird auf Bl. 100-101 und 106-107 der Gerichtsakte verwiesen.

Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme des Präventionsdienstes unter Berücksichtigung dieser Zeugenaussagen angefordert und auch um eine Berechnung gebeten, alternativ bei Eintritt des Leistungsfalls einerseits im Juni 2016 und andererseits im September 2018. Der Präventionsdienst hat am 19. Dezember 2023 erneut eine Stellungnahme abgegeben und ausgeführt, für den Zeitraum vom 1. April 2008 bis 23. Juni 2016 ergebe sich bei 304 Hebevorgängen à 25 kg eine Gesamtbelastungsdosis von 10,86 MNh. Für den Zeitraum vom 1. April 2008 bis 30. September 2018 ergebe sich bei 304 Hebevorgängen à 25 kg eine Gesamtbelastungsdosis von 13,86 MNh. Wegen der Details der Berechnung wird auf Bl. 109 ff. der Gerichtsakte verwiesen.

Die Beklagte hat unter Berücksichtigung diese Stellungnahme daran festgehalten, dass zum maßgeblichen Stichtag (Kernspintomographie der Lendenwirbelsäule vom 23. Juni 2016) die Erkrankung bereits vorgelegen habe und zu diesem Zeitpunkt die erforderliche hälftige Mindestbelastungsdosis noch nicht erreicht gewesen sei.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat zuletzt  mit Schreiben vom 15. April 2024 vorgetragen, entgegen der Annahme der Beklagten sei der relevante Zeitpunkt für die Bewertung des Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht der Juni 2016, sondern zumindest der 30. September 2018, eher sogar Ende September 2019, da der Kläger bis zu diesem Zeitpunkt, d.h. bis zum Zeitpunkt der internen Umsetzung ab Oktober 2019 weiter das „Heben bzw. Tragen schwerer Lasten bzw. langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung“ habe ausüben müssen.
Es werde bestritten, dass der Beginn der Berufskrankheit bereits zum 23. Juni 2016, d.h. zum Zeitpunkt der MRT-Aufnahme, anzunehmen sei.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die umfassende Sachverhaltsdarstellung im erstinstanzlichen Urteil, die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie auf die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft und zulässig, aber in der Sache nicht begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 9. Dezember 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. März 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 SGG). Eine berufsbedingte Bandscheibenerkrankung der LWS im Sinne der BK 2108 kann beim Kläger zur Überzeugung des Senats (§ 128 SGG) nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht festgestellt werden. Vorliegend besteht kein Anspruch des Klägers auf behördliche Feststellung einer BK 2108.

Rechtsgrundlage für die Feststellung einer Berufskrankheit ist § 9 Abs. 1 SGB VII in der ab dem 1. Januar 2021 geltenden Fassung. Danach sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte in Folge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII n. F. wird die Bundesregierung ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind. Die weitere in § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII in der bis zum 31. Dezember 2020 geltenden Fassung (a. F.) normierte Einschränkung, dass auch bestimmt werden kann, dass Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, ist ab dem 1. Januar 2021 entfallen. Zugleich hat der Verordnungsgeber zum 1. Januar 2021 den Unterlassungszwang aus allen Berufskrankheiten-Tatbeständen gestrichen, somit auch aus dem Tatbestand der BK 2108.

Nach der ebenfalls zum 1. Januar 2021 in Kraft getretenen neuen gesetzlichen Rückwirkungsregelung in § 9 Abs. 2a Nr. 1 SGB VII n. F. sind Krankheiten in den Fällen des § 9 Abs. 1 SGB VII n. F., die bei Versicherten vor der Bezeichnung als Berufskrankheiten bereits entstanden waren, rückwirkend frühestens zu dem Zeitpunkt als Berufskrankheit anzuerkennen, in dem die Bezeichnung in Kraft getreten ist. Es handelt sich um eine zukunftsgerichtete tatbestandliche Rückanknüpfung beziehungsweise „unechte“ Rückwirkung, wonach die mit dem Wegfall des Unterlassungszwangs verbundenen Anerkennungserleichterungen für bereits vor dem 1. Januar 2021 Erkrankte gelten (vergleiche Römer/Keller, Neues vom Gesetzgeber im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung, SGb 2020, 651, [655]). Bis zum 31. Dezember 2020 war der Tatbestand der BK 2108 wie folgt umschrieben: „Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.“ Die Voraussetzung, wonach die bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben müssen, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, ist mit Wirkung zum 1. Januar 2021 entfallen (vgl. Art. 24 Nr. 3 Buchst. a, Art. 28 Abs. 6 des 7. SGB-IV-ÄndG). Zeitgleich ist der Tatbestand der Berufskrankheit Nr. 2108 um eine weitere Voraussetzung, wonach die bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Lendenwirbelsäule) geführt haben müssen, erweitert worden (vgl. Art. 24 Nr. 3 Buchst. c, Art. 28 Abs. 6 des 7. SGB-IV-ÄndG).

Seit dem 1. Januar 2021 wird der Tatbestand der Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV wie folgt umschrieben: „Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Lendenwirbelsäule) geführt haben“ (vgl. zum Ganzen: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27. April 2022 - L 3 U 4097/20 -, juris Rn. 33ff.). Diese Änderung der Rechtslage zum 1. Januar 2021 hat jedoch auf den vorliegenden Fall keine Auswirkungen. Denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme besteht beim Kläger bereits keine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch das durch die versicherte Tätigkeit veranlasste Heben und Tragen schwerer Lasten verursacht worden ist.

Der Kläger unterlag während seiner versicherten Tätigkeiten in der Zeit vom 1. April 2008 bis 30. September 2018 einer Gesamtbelastungsdosis von 13,86 MNh (letzte Stellungnahme des  Präventionsdienstes vom 19. Dezember 2023), die nach der Rechtsprechung des BSG unter modifizierter Anwendung des Mainz-Dortmunder-Dosismodells (MDD) grundsätzlich geeignet sind, bandscheibenbedingte Schäden der Wirbelsäule zu verursachen (zur Bestimmung des Ausmaßes der beruflichen Einwirkungen bei der BK 2108 vgl. BSG, Urteil vom 30. Oktober 2007 - B 2 U 4/06 R -, BSGE 99, 162-170, SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 5, Rn. 18). Diese Belastungen erfolgten - wie der Tatbestand der BK 2108 BKV voraussetzt - auch langjährig, nämlich von April 2008 bis September 2018 und damit etwas mehr als 10 Jahre. Langjährig bedeutet, dass im Regelfall zehn Berufsjahre als im Durchschnitt untere Grenze der belastenden Tätigkeit zu fordern sind (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfalls und Berufskrankheit, Ziffer 8.3.5.6.4.2, S. 521, m.w.N.).

Der Kläger gehört auch zum versicherten Personenkreis und bei ihm liegt auch eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vor. Nach den überzeugenden Ausführungen des
W1 besteht beim Kläger „ohne jeden Zweifel eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule“. Nachdem die bandscheibenbedingte Erkrankung die Segmente L4/5 und L5/S1 betrifft und eine Begleitspondylose nachweisbar ist, hat er nachvollziehbar die medizinischen Voraussetzungen für eine Konstellation B1 angenommen (vgl.  sog. Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung; Trauma und Berufskrankheit 2005 S. 211 bis 252).


W1 hat jedoch gleichfalls zutreffend erkannt, dass die Annahme einer Berufskrankheit auch eine plausible zeitliche Korrelation zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung voraussetzt und die ausreichende Exposition der Erkrankung vorausgehen muss (explizit als Beispiel genannt in Konsensempfehlungen, a.a.O., S. 217). Hieran fehlt es vorliegend.

Für die Anerkennung einer Berufskrankheit ist neben der Kausalität zwischen der versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen (Einwirkungskausalität) ein Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen und der Erkrankung erforderlich. Für die Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV bedeutet dies, dass die Erkrankung des Klägers an der Lendenwirbelsäule durch langjähriges schweres Heben und Tragen beziehungsweise Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit verursacht worden sein muss. Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung gilt im Berufskrankheitenrecht - wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung - die Theorie der wesentlichen Bedingung, die zunächst auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht, nach der jedes Ereignis (jede Bedingung) die Ursache eines Erfolgs ist, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non).

Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Verrichtung, die Einwirkungen und die Krankheit im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG, Urteil vom 4. Juli 2013 - B 2 U 11/12 R -, Rn. 12 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 15. September 2011 -  B 2 U 25/10 R -; BSG, Urteil vom 15. September 2011 - B 2 U 22/10 R -; BSG, Urteil vom 2. April 2009 - B 2 U 30/07 R -; BSG, Urteil vom 2. April 2009 - B 2 U 9/08 R -, alle nach juris).

Unter Beachtung dieser rechtlichen Ausgangslage vermag der Senat keinen hinreichend wahrscheinlichen Kausalzusammenhang zwischen den beruflichen Einwirklungen und den Schäden der LWS festzustellen.

Die Bestimmung der für die Verursachung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS erforderlichen Belastungsdosis erfolgt anhand des Mainz-Dortmunder-Dosismodells (MDD). Hierbei handelt es sich um eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung, um die im Text der BK nach Nr. 2108 der Anl. 1 zur BKV mit den unbestimmten Rechtsbegriffen „langjähriges“ Heben und Tragen „schwerer“ Lasten oder „langjährige“ Tätigkeit in „extremer Rumpfbeugehaltung“ nur ungenau und allenfalls nur richtungsweisend umschriebenen Einwirkungen zu konkretisieren (BSG, Urteile vom 6. September 2018 - B 2 U 13/17 R -, Rn. 16, und - B 2 U 10/17 R -, Rn. 19, 18. November 2008 - B 2 U 14/07 R -, Rn. 25, und vom 30. Oktober 2007 - B 2 U 4/06 R -, Rn. 18, 22; jeweils in juris). Allerdings legt das MDD selbst für die Belastung durch Heben und Tragen keine Mindestwerte fest, die erreicht werden müssen, damit von einem erhöhten Risiko von Bandscheibenschäden durch die berufliche Tätigkeit ausgegangen werden kann. Die aufgrund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis, stellen keine Grenz-, sondern Orientierungswerte oder -vorschläge dar (Merkblatt BK 2108, BArbBl. 2006, Heft 10, S. 30 ff.). Orientierungswerte sind andererseits keine unverbindlichen Größen, die beliebig unterschritten werden können. Ihre Funktion besteht in dem hier relevanten Zusammenhang darin, zumindest die Größenordnung festzulegen, ab der wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten als potentiell gesundheitsschädlich einzustufen sind. Die Mindestbelastungswerte müssen naturgemäß niedriger angesetzt werden, weil sie ihrer Funktion als Ausschlusskriterium auch noch in besonders gelagerten Fällen, etwa beim Zusammenwirken des Hebens und Tragens mit anderen schädlichen Einwirkungen, gerecht werden müssen. Werden die Orientierungswerte jedoch so deutlich unterschritten, dass das durch sie beschriebene Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der BK 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang im Einzelfall bedarf (vgl. zu alledem: BSG, - B 2 U 4/06 R -, a.a.O., Rn. 18, 19, und - B 2 U 14/07 R -, a.a.O., Rn. 26, 27).

Das BSG hat im Hinblick auf die Erkenntnisse aus der „Deutschen Wirbelsäulenstudie“ (DWS I; siehe Abschlussbericht, veröffentlicht im Internet unter www.dguv.de/inhalt/leistungen/versschutz/bk/wirbelsaeule/index.html) Modifizierungen zur Anwendung des MDD für notwendig erachtet. Danach ist die dem MDD zugrundeliegende Mindestdruckkraft pro Arbeitsvorgang bei Männern nunmehr mit dem Wert 2.700 Newton (N) pro Arbeitsvorgang einzusetzen. Auf eine Mindesttagesdosis ist nach dem Ergebnis der DWS I zu verzichten. Alle Hebe- und Tragebelastungen, die die aufgezeigte Mindestbelastung von 2.700 N bei Männern erreichen, sind entsprechend dem quadratischen Ansatz (Kraft mal Kraft mal Zeit) zu berechnen und aufzuaddieren. Der untere Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der LWS ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, ist zumindest bei Männern auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 MNh, also auf 12,5 MNh, herabzusetzen (BSG, Urteile - B 2 U 4/06 R -, a.a.O., Rn. 25, und - B 2 U 14/07 R -, a.a.O., Rn. 28 bis 31, jeweils m.w.N.).

Als maßgeblicher Zeitpunkt für die Betrachtung des Vorliegens des unteren Grenzwertes, ist auf das nachgewiesene Auftreten der bandscheibenbedingten Erkrankung im Juni 2016 abzustellen. Nur unter der Voraussetzung, dass eine ausreichende Exposition der Erkrankung nachweisbar vorausgeht, kann überhaupt eine plausible zeitliche Korrelation zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung bestehen (s.o., Verweis auf das Beispiel in den Konsensempfehlungen, a.a.O., S. 217). Der Senat folgt hierbei den zutreffenden und überzeugenden Ausführungen des W1, wonach am 23. Juni 2016 - nachweisbar durch die zu diesem Zeitpunkt erstellte Kernspintomographie der Lendenwirbelsäule - bereits ein großer Bandscheibenvorfall vorlag und damit eine „bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule“ im Sinne der BK 2108 BKV bestand. Demnach waren die für die Anerkennung einer BK 2108 erforderlichen medizinischen Voraussetzungen spätestens zum 23. Juni 2016 erfüllt. Zu diesem Zeitpunkt bestand jedoch nach der überzeugenden Berechnung des Präventionsdienstes für den Zeitraum vom 1. April 2008 bis 23. Juni 2016 bei zu Grundlegung der maximalen Anzahl von 304 Hebevorgängen à 25kg lediglich eine Gesamtbelastungsdosis von 10,86 MNh, der die untere Grenze des Orientierungswertes von 12,5 MNh deutlich unterschreitet. Dies schließt wie dargelegt eine berufliche Verursachung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS von vorneherein aus, ohne das weitere medizinische Ermittlungen erforderlich sind.

Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers ist es hingegen nicht möglich, berufliche bedingte Einwirkungen, die sich erst nach dem Auftreten der bandscheibenbedingten Erkrankung in der Zeit von Juli 2016 bis September 2018 ereignet haben, bei der Kausalitätsbewertung als ausschlaggebenden als Kausalfaktor mit zu berücksichtigen. Maßgeblich sind vielmehr die Einwirkungen der versicherten beruflichen Tätigkeit vor bzw. bis zum Auftreten der bandscheibenbedingten Erkrankung (wie hier: Thüringer LSG, Urteil vom 19. Dezember 2023 - L 1 U 1364/17 -, Rn. 61, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7. Februar 2023 - L 3 U 166/19 -, Rn. 58, juris). Von der Beklagten und den Gerichten ist im Rahmen der Prüfung eines Anspruchs auf Anerkennung der BK 2108 BKV die Frage nach der Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen schädigenden Einwirkungen und bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS zu prüfen. Es bedarf insoweit einer plausiblen zeitlichen Korrelation zwischen der beruflichen Belastung und der Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS. Besteht eine Erkrankung der LWS jedoch bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem eine berufliche Verursachung einer bandscheibenbedingten Erkrankung auf Grund der verhältnismäßig geringen Einwirkungen definitiv ausscheidet, kann die berufliche Einwirkung denknotwenig nicht die Ursache der Erkrankung gewesen sein.

Auf Basis des Gutachtens des W1 vermag der Senat auch keine richtungsweisende Verschlimmerung durch die (noch nach Manifestierung der Krankheit) erfolgten beruflichen Einwirkungen festzustellen. Eine richtungsgebende Verschlimmerung liegt (nur dann) vor, wenn der ganze Ablauf des Leides offensichtlich nachhaltig beschleunigt und gefördert wurde und einen anderen, schwereren Verlauf genommen hat (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 39). W1 hat hingegen nachvollziehbar dargelegt, dass bereits der in der Kernspintomographie am 23. Juni 2016 dargestellte, ausgeprägte lumbale Bandscheibenvorfall L5/S1, Grundlage der der späteren Operation im November 2018 war und es im postoperativen Verlauf zu einer erheblichen Verschlechterung des Zustandes kam, so dass für die Feststellung einer richtungsgebenden Verschlimmerung in Folge der beruflichen Einwirkungen keine belastbaren Anhaltspunkte bestehen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 SGG nicht vorliegen.


 

Rechtskraft
Aus
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