L 6 VG 3480/23 ZVW

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 14 VG 1806/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 3480/23 ZVW
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 10. Februar 2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in allen Instanzen nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) i. V. m. dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) nach einem Grad der Schädigung (GdS) von 80 für den Zeitraum vom 1. März 2016 bis zum 30. Dezember 2017 und nach einem GdS von 50 ab dem 1. Januar 2018 aufgrund eines von der Klägerin behaupteten mehrjährigen sexuellen Missbrauchs im Alter von zwei/drei Jahren bis zum 17. Lebensjahr durch ihren Vater wie mehrere erwachsene Männer umstritten.

Die 1969 geborene Klägerin ist als Einzelkind aufgewachsen, beide Elternteile waren berufstätig. Mit 16/17 Jahren begann sie regelmäßig THC/Kokain zu konsumieren. Nach dem Abitur ist sie mit 19 Jahren von zu Hause ausgezogen und hat eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin absolviert. Ihre erste nicht eheliche Tochter (geb. 1998) aus einer früheren Kurzzeitbeziehung hat sie allein großgezogen. Während ihrer ersten Schwangerschaft war sie abstinent, kam dann im Rahmen ihrer ersten beruflichen Stelle wieder an Drogen und dealte, um diese zu finanzieren. Ihr späterer Ehemann, mit dem sie eine weitere Tochter bekam, verlangte 1999 als Bedingung für eine Partnerschaft das Einstellen ihres Drogenkonsums. Im Alter von 15 Jahren wurde ihre zweite Tochter auf deren Initiative durch das Jugendamt in Obhut genommen, ihr das Sorgerecht aberkannt und diese in eine Pflegefamilie gebracht. Zwischenzeitlich ist die Klägerin Großmutter. Sie bezieht seit 2015 Rente wegen voller Erwerbsminderung und ist daneben zu 20 % geringfügig in einer Tagesklinik an drei Tagen in der Woche zu je drei Stunden (Stressbewältigungsgruppe, Nordic-Walking-Gruppe) beschäftigt und ehrenamtlich als Notfallseelsorgerin tätig (vgl. Bericht der S1 Klinik R1, Angaben der Klägerin im Erörterungstermin am 10. Juli 2019, Gutachten der R2 und S2). Seit 2019 ist sie geschieden und hat im September 2023 erneut geheiratet, ihr Ehemann ist Altersrentner (vgl. Anamnese S2).

Bei der Klägerin ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 seit dem 1. Januar 2012 festgestellt (Bescheid des Landratsamtes B1 vom 11. Januar 2016, maßgebliche Funktionsbeeinträchtigungen: seelische Störung, Posttraumatische Belastungsstörung <PTBS> und funktionelle Organbeschwerden).

Am 23. März 2016 beantragte sie beim Landratsamt B1 aufgrund einer komplexen Traumafolgestörung (PTBS) und einer Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG i. V. m. dem BVG. Sie führte aus, diese Gesundheitsstörungen seien auf sexuellen Missbrauch 1965 in A1 zurückzuführen. Ihr zwischenzeitlich verstorbener Vater K1 habe sie seit ihrer Kindheit sexuell missbraucht. Ihr sei erinnerlich, dass es zur analen Penetration im Alter von circa drei Jahren gekommen sei. Der Missbrauch habe schon früher begonnen. Er sei oft durch drei Männer erfolgt, einer davon sei ihr Vater gewesen, an die Namen der anderen Männer könne sie sich nicht erinnern. Mit ihrem 17. Lebensjahr habe der Missbrauch geendet, er sei stets anal gewesen. Ihr Vater habe immer gesagt, wenn sie ihrer Mutter etwas davon erzähle, werde er sie töten. Das habe sie geglaubt, weil ihr Vater eine Waffe besessen habe. Es tue ihr leid, dass sie immer noch nicht detailliert über diese Ereignisse schreiben könne, inzwischen könne sie besser darüber reden. Die Taten lösten noch Entsetzen bei ihr aus, aber sie wisse, was geschehen sei.

Das Landratsamt B1 leitete den Antrag an das zum damaligen Zeitpunkt zuständige Zentrum B2 Familie und Soziales, Region U1, Versorgungsamt (Versorgungsamt) weiter. 

Diesem gegenüber gab die Klägerin an, von 1966 bis 1970 den Katholischen Kindergarten A1 und von 1970 bis 1983 das K2 -Gymnasium A1 besucht zu haben. Als Hausarzt habe sie vermutlich ein M3 in A1 und als O1 in M1 behandelt. Der Mutterpass und die Schulzeugnisse seien verschwunden, ein Vorsorgeheft habe es nie gegeben. Alles sei so lange her und die Erinnerungen fragmentarisch, da sie unter einer DIS leide.

Das Versorgungsamt zog bei der Krankenkasse der Klägerin das Mitglieds- und Vorerkrankungsverzeichnis bei; diesbezüglich wird auf die Verwaltungsakte verwiesen.

Die Fachklinik für Neurologie D1 legte den Bericht über den erstmaligen stationären Aufenthalt der Klägerin vom 5. bis zum 6. August 2015 vor, aus dem sich die Hauptdiagnose unspezifische Läsionen im Cerebrum, DD: postischämisch-embolischer Genese (vor allem im Hirnstamm) nach langjährigem Drogenkonsum, DD: zusätzliche supratentorielle Marklagerläsionen, entzündliche Genese nicht auszuschließen, und die Nebendiagnosen arterielle Hypertonie, Hyperlipidämie, Nikotinkonsum, Vitamin B12-Mangel, Folsäure-Mangel, komplexe Traumafolgestörung (Erstdiagnose 2011), DIS (Erstdiagnose 2011), Zustand nach (Z. n.) langjährigem Drogenkonsum sowie Z. n. Tonsillektomie in der Kindheit ergaben. Im psychischen Befund sei sie wach, bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten orientiert gewesen. Sie habe von einem vor einem Monat fehlgeschlagenen Suizidversuch berichtet, die Waffe habe nicht ausgelöst, aktuell sei sie sicher und glaubwürdig von suizidalen Gedanken distanziert gewesen.

Aus dem zur Vorlage gekommenen Bericht der S1 Klinik, Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie R1, über die erstmalige stationäre Behandlung der Klägerin vom 23. Juli bis zum 13. September 2013 ließen sich die Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, einer Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst), einer PTBS, einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (impulsiver Typ), eines Verdachts auf (V. a.) eine DIS sowie einer Polytoxikomanie, derzeit abstinent, entnehmen. Die Klägerin habe angegeben, seit etwa einem Jahr Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen zu bemerken, dies sei ihr insbesondere bei ihrer Tätigkeit zu 35 % als Heilerziehungspflegerin aufgefallen. Es falle ihr schwer, den Haushalt zu führen, sie brauche für alles länger. Aufgrund von Appetitlosigkeit habe sie in den letzten zwei Jahren etwa 30 kg abgenommen, ihre Stimmung sei schlecht, ihr Schlaf trotz Alpträumen passabel. Zeitweilig habe sie lebensmüde Gedanken, im September 2011 habe sie einen Suizidversuch unternommen, ihr Schwager habe sie davon abgehalten. Manchmal schlage sie sich selbst um sich zu spüren, es sei aber auch schon zu fremdaggressiven Ausbrüchen gegenüber ihrer 14-jährigen Tochter gekommen. Auch ihre Tochter leide unter psychischen Problemen, sie verletzte sich selbst, ihre schulischen Leistungen seien abgesunken und die Versetzung gefährdet, ein Familienhelfer des Jugendamts sei eingeschaltet. Bereits im April 2003 habe sie nach dem Tod ihres Vaters an innerer Stabilität verloren und begonnen zusammen mit ihrem Ehemann Alkohol zu konsumieren, im September 2010 habe sie wegen ihres hohen Blutdrucks den Konsum eingestellt. Auslöser der aktuellen Krise sei ein aggressiver Impulsdurchbruch ihres Ehemanns am 3. Januar 2011 gewesen, der sie in alkoholisiertem Zustand geschlagen habe. Hierdurch sei es zu einer Reaktualisierung früherer Traumata, insbesondere des sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater gekommen. Seitdem leide sie unter Flashbacks, Panikattacken und Stimmungsschwankungen. Seit eineinhalb Jahren werde sie ambulant psychotherapeutisch behandelt, es seien bereits mehrere stationäre Aufenthalte in der Psychiatrie erfolgt.

Sie habe zu ihrem Werdegang berichtet, dass sie als Einzelkind aufgewachsen sei, ihre inzwischen 89-jährige Mutter sei von Beruf Damenschneiderin, ihr Vater Handelsvertreter gewesen, so hätten sich ihre Mutter und ihr Vater auch kennengelernt. Damals sei ihr Vater bereits verheiratet gewesen, die Ehe sei nie gelöst worden. Ihr Vater habe sie etwa ab ihrem zweiten oder dritten Lebensjahr sexuell missbraucht, erste Erinnerungen habe sie daran seit ihrem vierten Lebensjahr. Er sei dabei immer alkoholisiert gewesen. Der Missbrauch habe erst aufgehört, als sie ihn mit 16 Jahren fast totgeschlagen habe. Als Handelsvertreter habe er sie jahrelang während der Schulferien auf Handelsreisen mitgenommen. Nach dem Abitur sei sie mit 19 Jahren von zu Hause ausgezogen und habe eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin absolviert. Ihr früherer Partner, der ein Alkoholproblem gehabt habe, habe sie einmal in alkoholisiertem Zustand zusammengeschlagen. Ihre erste, zwischenzeitlich 24-jährige Tochter habe sie allein großgezogen, trotz ihres Drogenkonsums habe sie immer funktioniert. Als sie 1999 ihren jetzigen Ehemann kennengelernt habe, habe dieser als Bedingung für eine Partnerschaft das Einstellen des Drogenkonsums verlangt, seitdem sei sie abstinent. Sie rauche derzeit 10 bis 15 Zigaretten pro Tag, früher seien es wesentlich mehr gewesen, Alkohol trinke sie nicht mehr. Mit 16/17 Jahren habe sie begonnen THC zu konsumieren, sei während ihrer ersten Schwangerschaft abstinent gewesen, sei dann im Rahmen ihrer ersten beruflichen Stelle an Drogen gekommen und habe gedealt, um diese zu finanzieren. In dieser Zeit habe sie zwei bis drei Joints pro Tag und Kokain, aber kein Heroin konsumiert. Mit 17 Jahren habe sie erstmals versucht, sich in der Badewanne zu ertränken, und sei wieder in der Psychiatrie aufgewacht. Im August 2012 habe sie sich von einer Brücke stürzen wollen, habe dann aber Angst bekommen. Vor einem Jahr habe sie Tavor eingenommen, es sei aber nichts Ernsthaftes passiert. Sie verfüge über verschiedene Persönlichkeiten, fünf Personen seien ihr bekannt, drei Männer und zwei Frauen im Alter von vier bis 28 Jahren, die meisten beschützten sie, es gebe aber auch einen aggressiven Anteil, so habe sie 1984 im Rahmen ihrer Drogensucht ein Auto abgefackelt.

Im Verlauf des stationären Aufenthalts sei es der Klägerin schrittweise gelungen sich zu öffnen, es sei jedoch aufgrund der komplexen Psychopathologie nicht möglich gewesen, in eine intensivere Trauma-Exposition einzusteigen. Einige traumatische Ereignisse, wie dass sie von ihrem Vater im Alter von vier Jahren blutig geschlagen worden sei, hätten dennoch bearbeitet werden können.

Der weitere Bericht der S1 Klinik R1 über die zweite stationäre Behandlung der Klägerin vom 10. März bis zum 9. Mai 2014 führte als Diagnosen neben den bekannten eine PTBS im Sinne einer komplexen Traumafolgestörung, eine DIS sowie eine essentielle Hypertonie ohne Angabe einer hypertensiven Krise auf. Die Klägerin könne sich nicht mehr spüren und habe deshalb keine Angaben zu ihrem Befinden machen können. Bilder traumatischer Ereignisse seien permanent vorhanden und quälten sie. Vor dem Hintergrund der Inobhutnahme ihrer 15 Jahre alten Tochter durch das Jugendamt und der Aberkennung des Sorgerechts, die Tochter lebe zwischenzeitlich in einer Pflegefamilie, sei es zur erneuten schweren psychischen Dekompensation gekommen. Die biographische Anamnese, insbesondere der Missbrauch der Klägerin durch ihren Vater, ist wortgleich mit dem Bericht während des ersten stationären Aufenthalts gewesen.

Z1, Praxis für Psychotherapie und Psychoanalyse, berichtete, dass sie die Klägerin seit dem 3. Juli 2014 wöchentlich unter der Diagnose DIS behandle. Bis 2012 habe diese an einer Amnesie bezüglich der massiven Misshandlung durch ihren Vater und die beiden Mittäter, die während der Misshandlungen jeweils alkoholisiert gewesen seien, gelitten. 2012 sei es zu einer Retraumatisierung gekommen, als ihr Ehemann sie in schwer alkoholisiertem Zustand überwältigt und geschlagen habe. Diese erneute Auslieferungssituation habe in der Folge zu Flashbacks, Alpträumen sowie zu Teilerinnerungen an die früheren Traumatisierungen geführt. Die Klägerin sei mit sehr vielen Erinnerungen an die bereits sehr früh in ihrer Kindheit stattgefundenen schweren Misshandlungen konfrontiert gewesen, ebenso auch mit dem Vorhandensein von Täterintrojekten.  

Aus dem Bericht der S1 Klinik D2 über die stationäre Behandlung der Klägerin am 27. Januar 2014 ließen sich die Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, einer PTBS, einer benignen essentiellen Hypertonie ohne Angabe einer hypertensiven Krise wie eine Verhaltensstörung durch Tabak/Abhängigkeitssyndrom entnehmen. Die Klägerin sei notfallmäßig von der Polizei gebracht worden, nachdem sie Suizidabsichten geäußert habe. Als ihr vom Jugendamt der Kontakt zu ihrer Tochter verweigert worden sei, habe sie den Mitarbeitern gegenüber Selbstmordabsichten geäußert und sei dann zu einem Aussichtspunkt auf einem Berg in der Nähe gefahren. Telefonisch habe sie ihren Ehemann gefragt, ob es noch einen Grund zum Leben gebe, was dieser bejaht habe. Nach ihrer Rückkehr nach Hause sei dann die Polizei eingetroffen, die wohl vom Jugendamt alarmiert worden sei. Die Klägerin habe angegeben, bis zum Alter von 16 Jahren von ihrem Vater vergewaltigt worden zu sein. Er sei im Außendienst tätig gewesen, habe sie in seinem Auto mitgenommen und „dann sei es passiert“. Die Klägerin habe sich hieran nicht mehr erinnern können, erst als sie 2011 von ihrem alkoholisierten Ehemann geschlagen worden sei, seien die Erinnerungen wieder aufgetreten. Ihr Vater sei 2003 im Krankenhaus im Alter von 86 Jahren verstorben, ihre Mutter sei 90 Jahre alt und wisse vom Missbrauch nichts.

Der L1 teilte die Dauerdiagnosen einer arteriellen Hypertonie, eines Asthma bronchiale, eines Uterus myomatosus, einer allergischen Rhinitis, einer Hypercholesterinämie, einer rezidivierenden depressiven Störung, einer emotional instabilen Persönlichkeit vom impulsiven Typ, einer Panikstörung, einer PTBS und postischämischen Cenrebrum-Läsionen mit. Ergänzend legte er weitere medizinische Unterlagen vor, unter anderem den Bericht der S1 Kliniken R1 über zwei ambulante Behandlungen in Urlaubsvertretung im August 2015, wonach sich die Konzentration und Ausdauer der Klägerin seit dem letzten stationären Aufenthalt deutlich gebessert gezeigt und sie weniger unter Erinnerungsbildern früherer Traumatisierungen gelitten habe. Sie sei merklich ruhiger gewesen, habe wieder essen können, die inneren Stimmen unter Kontrolle gehabt und sei distanziert von suizidalen Handlungsimpulsen gewesen.

Die Klägerin gab im Weiteren an, dass die Täter alle tot seien, die Zeugen ebenfalls.

Das Versorgungsamt zog von der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV) weitere medizinische Unterlagen bei. Neben bereits aktenkundigen Unterlagen legte die DRV das Gutachten des S3 aufgrund der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 8. Oktober 2014 vor, aus dem sich neben den Diagnosen einer PTBS im Sinne einer komplexen Traumafolgestörung, einer emotional instabilen Persönlichkeit vom impulsiven Typ und einer DIS ein arbeitstägliches Leistungsvermögen von unter drei Stunden für den von ihr zuletzt ausgeübten Beruf als Heilerziehungspflegerin und von drei bis unter sechs Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ergab. Die Klägerin habe ausgeführt, ihr Ehemann sei Alkoholiker, auch ihr eigener Missbrauch durch ihren Vater habe mit Alkohol zu tun. Ihr Ehemann habe sie geschlagen, dann seien die ganzen Bilder wieder hochgekommen, bis zu diesem Zeitpunkt habe sie die Erinnerungen einigermaßen im Griff gehabt. Sie schneide sich selten selbst und wenn dann nur oberflächlich, aber sie schlage ihren Kopf an die Wand und reiße sich ihre Haare aus, das mache sie mindestens seit ihrer Pubertät. Die Befragung hinsichtlich der traumatischen Ereignisse, insbesondere der Missbrauchserlebnisse, habe wegen einer beginnenden emotionalen Erregung unterbleiben müssen.

Durch Bescheid vom 18. August 2016 lehnte das Versorgungsamt den Antrag auf Beschädigtenversorgung mit der Begründung ab, ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff sei nicht nachgewiesen. Der Vollbeweis für die geltend gemachten Vorfälle sei nicht gelungen, es lägen nur die Angaben der Klägerin vor, die zum Beweis allein nicht ausreichten. Eine Befragung der Beschuldigten sei nicht mehr möglich, Zeugen seien keine vorhanden. Unabhängig von der Frage des Vorliegens eines unverschuldeten Beweisnotstands genügten die Angaben der Klägerin auch nicht einer Glaubhaftmachung. Die Aussagequalität sei zu gering, die Angaben sehr detailarm. Sie beschreibe selbst, dass sie dissoziiere und etwaige Erinnerungen zu den von ihr vorgebrachten Geschehnissen erst 2011 oder 2012 zu Tage getreten seien. Sie habe zwar von Übergriffen berichtet, jedoch könnten den Schilderungen keine detaillierten Angaben entnommen werden, die den Anforderungen einer Glaubhaftmachung im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung genügten. Abschließend sei zu betonen, dass keinesfalls Anhaltspunkte für eine willentliche Falschaussage bestünden.

Mit dem deswegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden zu sein und hierdurch eine gesundheitliche Schädigung erlitten zu haben. Ihr Vater P1 habe sie ab circa ihrem zweiten bis dritten Lebensjahr sexuell missbraucht. Er sei freier Handelsvertreter gewesen und habe sie oft auf seinen Reisen mitgenommen, bei diesen Reisen sei es dann zu sexuellen Übergriffen gekommen. Ab circa ihrem siebten Lebensjahr hätten die sexuellen Übergriffe abgenommen, da sie aufgrund ihrer Schulpflicht ihren Vater nicht mehr so oft auf dessen Reisen habe begleiten können. Ihr Vater sei auch Mitglied eines Gesangs-Doppelquartetts gewesen, auch bei solchen Reisen habe er sie mitgenommen und es sei zu sexuellen Übergriffen nicht nur durch ihn, sondern auch durch zwei weitere Mitglieder des Gesangs-Doppelquartetts gekommen. Der Missbrauch habe erst aufgehört, als sie ihren Vater im Alter von 16 Jahren hiermit konfrontiert habe, dabei sei es zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen, bei der sie ihren Vater auch geschlagen habe. Nach dem Abitur sei sie von zu Hause ausgezogen. Aufgrund des sexuellen Missbrauchs leide sie unter einer PTBS im Sinne einer komplexen Traumafolgestörung, einer DIS und weiteren psychischen Beeinträchtigungen. Diesbezügliche Arztberichte lägen vor. Die Voraussetzungen einer Glaubhaftmachung seien erfüllt.

Das Zentrum B2 Familie und Soziales Landesversorgungsamt (Beklagter) wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 2017 zurück. Der geltend gemachte Tathergang sei nicht nachgewiesen. Es gebe nur eine äußerst rudimentäre und sehr allgemein gehaltene Sachverhaltsschilderung, die auch nicht konsistent sei, insbesondere die angegebenen Zeiträume betreffend. Zum anderen fehle es an jeglichem objektiven Beweismittel, auf das die Angaben gestützt werden könnten. Ein Nachweis sei auch nicht dadurch möglich, dass die Klägerin unter psychischen Störungen leide, die rein theoretisch durch einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit verursacht worden sein könnten. Es könne nicht allein aufgrund einer Diagnose auf ein bestimmtes Geschehen geschlossen werden, ein solches Vorgehen wäre ein Zirkelschluss. Auch lägen die Voraussetzungen einer Glaubhaftmachung nicht vor. Es bestehe keine unverschuldete Beweisnot, weil die Klägerin erst über dreißig Jahre nach dem Ende des behaupteten Missbrauchs einen Antrag auf Beschädigtenversorgung gestellt habe. Bei einer früheren Antragstellung und/oder der Erstattung einer Strafanzeige z. B. unmittelbar nach dem Auszug aus dem Elternhaus wären noch andere Beweismittel (Zeugen) vorhanden gewesen, dann hätten auch gegen die beiden Mitglieder des Gesangs-Doppelquartetts strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet werden können. Allerdings läge aufgrund der nur völlig undetaillierten Sachverhaltsschilderung und der guten Möglichkeit, dass es sich um Scheinerinnerungen der Klägerin handele, keine Glaubhaftmachung vor. Dies bedeute nicht, dass der Klägerin eine Lüge unterstellt werde. Im Recht der Sozialen Entschädigung gebe es aber keinen Grundsatz „im Zweifel für den Antragsteller“. In rechtlicher Hinsicht komme hinzu, dass zumindest der weit überwiegende Teil der Taten vor Mai 1976 stattgefunden haben solle, so dass die Härtefallregelung des § 10a OEG zur Anwendung gelange. Für vor dem 16. Mai 1976 erfolgte Taten könnten Leistungen nach dem OEG aber nur dann gewährt werden, wenn allein wegen der dadurch erlittenen gesundheitlichen Schädigung ein GdS von mindestens 50 begründet werde, was nach den erhobenen medizinischen Befunden nicht darstellbar sei. 

Mit der am 12. Juni 2017 beim Sozialgericht Ulm (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin zuletzt die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG nach einem GdS von wenigstens 50 ab dem 23. März 2016 verfolgt.

Zur Klagebegründung hat sie ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren bekräftigt und im Weiteren ausgeführt, dass die Voraussetzungen einer Glaubhaftmachung gegeben seien, eine unverschuldete Beweisnot liege vor. Eine frühere Antragstellung oder die Erstattung einer Strafanzeige sei ihr aufgrund der familiären Verstrickung und ihrer gesundheitlichen Situation nicht möglich gewesen. Ergänzend hat sie bereits aktenkundige Berichte der S1 Klinik vorgelegt.

Die damaligen Prozessbevollmächtigten der Klägerin haben zwei E-Mails der Klägerin zur Gerichtsakte gereicht, in denen diese die Ereignisse geschildert hat.

In der E-Mail vom 27. Januar 2018 hat die Klägerin ausgeführt, sie habe die sexuellen Übergriffe mit ihrer Therapeutin besprochen und bemerkt, wie sehr es sie auch heute noch belaste, über die Taten zu berichten. Ein Vorfall habe sich in der Küche zugetragen, in der S4 in A1. Die Küche sei nur von einer Neonröhre an der Decke beleuchtet gewesen. Ihre Mutter sei an diesem Tag nicht zu Hause gewesen, sie wisse nicht mehr, wo diese gewesen sei. Ihr Erzeuger habe an diesem Tag von zwei Freunden, B3 und H1, Besuch gehabt. Es müsse Sommer gewesen sein, sie sei nur mit einer Unterhose und einem Unterhemd bekleidet gewesen, die beiden Männer hätten ebenso Sommerkleidung getragen, ihr Erzeuger eine kurze Hose und ein weißes Unterhemd. Der Mann mit Namen A2 habe eine Kamera dabei gehabt. Die beiden Männer hätten sich ins Wohnzimmer gesetzt, ihr Erzeuger habe dort mehrere Gläser und Weinflaschen auf den Tisch gestellt. Sie habe im Wohnzimmer gespielt, die Männer hätten begonnen Wein zu trinken und sie dann dazu geholt. Sie habe das schon gekannt, sie hätten Schokolade für sie mitgebracht und sie sei von Schoß zu Schoß gereicht worden. Ein Mann habe ihr Wein zu trinken geben, sie habe das als großes Abenteuer mit Erwachsenen empfunden, der andere Mann habe in der Zwischenzeit in der Küche seine Kamera aufgebaut. Sie sei etwas müde geworden, die Männer hätten sie ausgezogen und behauptet, dass sie sie waschen und ins Bett bringen wollten. Ihr Erzeuger habe sie in die Küche getragen, wo die Spüle gewesen sei, ein Bad habe es in dieser Wohnung nicht gegeben. Er habe sie überall berührt und nackt auf den Küchentisch gelegt, sie erinnere sich noch an die Position und Form der Neonröhre über ihr, darauf habe sie sich konzentriert. Die Männer seien zwischenzeitlich auch alle nackt gewesen, hätten begonnen sie zu waschen und mit einer Creme überall, auch zwischen den Beinen, einzureiben. Sie habe begonnen leise zu weinen und habe vom Tisch runterwollen. Ein Mann habe sie fest- und ihr den Mund zugehalten. Die Männer hätten abwechselnd onaniert, ihren erstarrten Körper vom Tisch gehoben und sie an ihre Geschlechtsteile gedrückt, ihr Erzeuger habe versucht, ihr seinen Penis in den Mund zu stecken. Sie hätten alle in ihr Gesicht ejakuliert, sie mit Sperma eingerieben und es ihr in den Mund gerieben. Sie sei erstarrt gewesen und hätte alles über sich ergehen lassen. Es sei zu einer versuchten analen Penetration gekommen, hierüber könne sie jedoch heute nichts berichten, weil sie heute wisse, dass in ihrem Kopf ein Abspaltungsmechanismus stattgefunden habe. Sie wisse nur noch, dass sie am Ende gebadet worden sei, die Badewanne habe ebenfalls in der Küche gestanden. Dann habe man ihr einen Schlafanzug angezogen und sie ins Bett gelegt. Solche Vorfälle habe es häufiger gegeben. Ihre Therapeutin sei der Meinung, dass sie das Erzählen über diese Vorfälle sehr triggere, auch die Ablehnung des Staates nage sehr an ihr. Sie sei bereit, solche Dinge in einem Glaubhaftigkeitsgutachten zu schildern. Für diese paar Zeilen habe sie mehr als eine Woche benötigt, sie habe sich krankschreiben lassen müssen, um sie überhaupt formulieren zu können.

In einer weiteren E-Mail vom 31. Januar 2018 hat die Klägerin ausgeführt, sie erinnere sich daran, dass sie ihren Erzeuger ab ihrem Schulalter auf seinen Verkaufsreisen begleitet habe. In seinen Mittagspausen habe sie seinen Penis in den Mund nehmen müssen, sie erinnere sich noch heute an den Geschmack seines Spermas, auch er habe immer eklig gerochen. Er habe sie gezwungen, ihr gedroht und erklärt, dass dies alle lieben Kinder machten. Was das mit ihr mache, wenn sie gezwungen werde sich zu erinnern, arbeite sie derzeit mit ihrer Therapeutin auf. Ihr Hausarzt habe sie krankgeschrieben, sie habe entsetzliche Alpträume und könne kaum essen. 

Hinsichtlich einer Vernehmung ihrer Mutter als Zeugin hat die Klägerin mitgeteilt, diese sei 94 Jahre alt und beginnend dement, ein Gerichtsverfahren werde sie überfordern.

Darüber hinaus hat sie angegeben, bei Antragstellung seien ihr die Namen B3 und H1 nicht erinnerlich gewesen, erst im Lauf der weiteren Therapie und Aufarbeitung des Erlebten seien ihr diese Namen wieder ins Gedächtnis gekommen.

Die Klägerin hat die Entbindung der sie behandelnden Z1, Praxis für Psychotherapie und Psychoanalyse, von der ärztlichen Schweigepflicht widerrufen.

Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 10. Juli 2019 hat die Klägerin angegeben, die Entbindungserklärung von der ärztlichen Schweigepflicht gegenüber Z1 widerrufen zu haben, weil diese, wenn sie vor Gericht habe erscheinen müssen, die Therapie habe beenden wollen.

Als erste Erinnerungssequenz bezüglich des Missbrauchs könne sie sich an die Küche, in der damals von ihnen bewohnten Wohnung erinnern, es habe kein Tageslicht gegeben, die Leuchtstoffröhre habe die ganze Zeit gebrannt. In der Küche hätten ein Tisch, ein Holzbadeofen, Stühle, ein Küchenschrank und neben dem Holzbadeofen eine Badewanne gestanden. Sie sei mit ihrem Erzeuger allein zu Hause gewesen, warum wisse sie nicht mehr. Es sei warm gewesen, sie habe nur eine Unterhose sowie ein Unterhemd und keine Schuhe getragen. Sie sei bei ihrem Erzeuger auf dem Schoß gesessen, dieser habe ihr das Unterhemd ausgezogen; dann habe er sie vom Schoß heruntergelassen und gesagt, dass alles ein Spiel sei. Anschließend habe er sie auf den Tisch gelegt. Er habe begonnen sie einzucremen und ihr hierbei die Unterhose ausgezogen. Dann habe er gesagt, sie solle sich umdrehen, also mit dem Kopf nach unten auf den Tisch legen. Er habe sie auf dem Tisch zu sich gezogen und mit dem Finger anal penetriert. Sie habe das nicht mehr lustig gefunden, weil es ihr wehgetan habe. An das Jahr dieses Vorfalls könne sie sich nicht mehr erinnern; ihre Therapeutin habe ihr gesagt, dass erste Erinnerungen mit circa drei Jahren einsetzten, es könne demnach 1965, aber auch 1966 oder 1967 gewesen sein. Nach vielen Jahren der Therapie wisse sie auch, dass es durch ihren Vater auch zur Penetration mit dem Penis gekommen sei. Wenn sie an den Vorfall denke oder Erinnerungen daran hervorrufe, könne sie zwischenzeitlich das Geschehen wie von oben sehen. Sie sehe dann ein etwa drei Jahre altes Mädchen. Es sei öfter vorgekommen, dass sie mit ihrem Erzeuger allein zu Hause gewesen sei. Ihre Mutter sei Damenschneiderin gewesen und habe grundsätzlich von zu Hause gearbeitet, sei aber auch bei Kunden zur Anprobe gewesen.

Als 2011 die Erinnerung an diesen Vorfall wiedergekommen sei, habe sie mit ihrer Mutter hierüber sprechen wollen. Diese habe aber gesagt, dass sie alles nur geträumt habe. Daraufhin habe sie erwidert, dass ihre Mutter selbst vor ihrem Erzeuger Angst gehabt habe, worauf diese zugegeben habe, dass sie Angst gehabt hätte und froh gewesen sei, dass ihr Erzeuger von ihr sexuell nichts mehr gewollt habe. Erst mit circa acht Jahren habe sie erfahren, dass ihr Erzeuger mit einer anderen Frau verheiratet gewesen sei.

Auf Frage der Beklagtenvertreterin, ob die Mutter der Klägerin blutige Unterhosen gefunden habe, habe die Klägerin geantwortet, dass sie das nicht wisse. Sie wisse, dass es, als sie älter gewesen sei, blutige Unterhosen gegeben habe. Ihre Mutter habe ihr aber keine Fragen gestellt, eingenässt habe sie sich nicht. Seit 2013 habe sie über den Missbrauch mit ihrer Therapeutin gesprochen. Auch mit einem guten Freund, K3, habe sie darüber geredet, dieser habe sie teilweise durch ganz tiefe Täler begleitet.

Der geschilderte Vorfall habe sich in A1 zugetragen. Ihr Erzeuger habe überwiegend in ihrem Haushalt gelebt. Sie sei sein einziges Kind gewesen, es sei schlimm für ihn gewesen, dass sie ein Mädchen gewesen sei. Durch ihn sei immer eine anale Penetration erfolgt. Er sei Handelsvertreter für Grabdekoration und deshalb oft von Montag bis Freitag nicht da gewesen. Zum ersten Mal habe er sie auf seine Reisen mitgenommen, als sie im Kindergarten gewesen sei, später in der Schulzeit während den Ferien. Die Reisen seien mit Übernachtung gewesen. Im Alter von sechs Jahren habe ihr Erzeuger ihr gedroht, er habe ihr seine Waffe gezeigt und gesagt, er töte ihre Mutter, wenn sie nicht auf seine Reisen mitkomme. Während der Fahrt habe er ihr oft zwischen die Beine oder an den Busen gefasst. Ganz selten hätten die Übergriffe zu Hause stattgefunden. Während einer Reise, im Alter von neun oder zehn Jahren, hätten sie in einem Gastzimmer übernachtet. Sie habe gekniet und ihr Vater sei auf einem Stuhl gesessen. Ihr Vater habe sie an ihren damals langen Haaren gepackt und ihr seinen Penis so heftig in den Rachen gerammt, dass sie habe würgen müssen. Dann habe er ihren Kopf weggezogen, sie geschlagen und dann weitergemacht.

Im Alter von 16 Jahren sei es zu einem Streit mit ihrem Vater gekommen, sie habe gesagt, dass sie das nicht mehr wolle und er sie in Ruhe lassen solle, dann habe sie auf ihn eingeschlagen. Er sei daraufhin mit dem Sofa umgefallen, ihre Mutter sei ihm zur Hilfe geeilt und habe gesagt, sie solle aufhören, sie werde ihn umbringen. Sie habe erwidert, dass es ihr egal sei, wenn sie das Arschloch umbringe. Nach diesem Vorfall sei es zu keinen Übergriffen mehr gekommen. Sie glaube, sie habe ihrem Vater ein paar Tage später gesagt, dass, wenn er nicht aufhöre, sie sich ihrem Deutsch- und Geschichtslehrer, zu dem sie ein gutes Verhältnis gehabt habe, anvertrauen werde. Damals habe sie Abitur gemacht. Tatsächlich habe sie ihrem Lehrer aber nichts gesagt, weil die Übergriffe aufgehört hätten.

Hinsichtlich der Frage nach Krankheiten oder Krankenhausaufenthalten habe die Klägerin angegeben, in der zweiten Klasse wegen der Entfernung der Mandeln ein paar Tage im Krankenhaus gewesen zu sein, damals habe sie aber niemandem etwas vom Missbrauch erzählt. Als sie 17 oder 18 Jahre alt gewesen sei, habe sie versucht, sich in der Badewanne zu ertränken, daraufhin sei sie in eine psychiatrische Klinik nach T1 gekommen, auch dort habe sie niemandem etwas von dem Missbrauch erzählt. Sie habe immer versucht, ein normales Leben zu führen, habe das Abitur und eine Ausbildung gemacht. Seit ihrem 15. oder 16. Lebensjahr habe sie gekifft und bis 1999 Drogen konsumiert; habe aber stets ihrem Beruf nachgehen und auch ihre große Tochter, bis diese neun Jahre alt gewesen sei, erziehen können. Sie habe immer gewusst, dass sie Dämonen im Kopf habe, habe aber „Schiss“ vor einer Auseinandersetzung mit diesen gehabt. Zum ersten Mal habe sie 2013 während des stationären Aufenthalts über den Missbrauch gesprochen.

Irgendwann habe sie sich, z. B. in bestimmten Foren, mit anderen Missbrauchsopfern ausgetauscht, dort sei auch über das OEG gesprochen worden. Dann habe sie einen Antrag nach dem OEG gestellt. Als sie etwa 14 oder 15 Jahre alt gewesen sei, sei ihr klar geworden, dass sie ein Opfer sei. Sie habe aber nie eine Strafanzeige gestellt, es sei ihr nicht in den Sinn gekommen. Als der Missbrauch aufgehört habe, habe sie sich gefreut und versucht, die Vorfälle zu verdrängen.

Im Alter von sieben oder acht Jahren hätten sie ihr Erzeuger und zwei weitere Männer im Auto mitgenommen, sie seien nach W1 gefahren. Der Vorfall habe sich in einem Hobbyraum im Keller, mit Holz getäfelten Wänden, in dessen Mitte ein Tisch und in dessen Ecke ein Sofa gestanden habe, ereignet. Ihr Erzeuger habe ihr befohlen, Wein zu trinken oder Süßigkeiten zu essen. Dann habe er ihr gesagt, sie solle sich ausziehen, es würden Filmaufnahmen gemacht, sie werde jetzt ein Star. Einer der Männer habe das, was dann passiert sei, aufgenommen. Sie habe sich auf den Tisch stellen und sich umdrehen müssen. Ihr Erzeuger und die zwei anderen Männer hätten sich dann ausgezogen und begonnen, sie zu streicheln und zu küssen. Sie habe angefangen zu heulen, worauf die Aufnahmen unterbrochen worden seien, ihr Vater habe sie angebrüllt, sie solle lachen. Ihr Erzeuger habe zu einem der Männer gesagt, er solle sie auf das Sofa legen, dann könne er sie …, sie wisse nicht mehr welches Wort er benutzt habe. Dann sei passiert, was sie schon gekannt habe, sie sei auch von diesem Mann anal penetriert worden, zuvor sei sie zwischen den Beinen eingecremt worden. Die Creme sei auch im Afterbereich aufgetragen worden, hierbei sei eine Penetration mit den Fingern erfolgt. Zunächst habe das der eine Mann gemacht, dann ihr Vater. Bei ihrem Vater habe sie ihren Kopf ausgeschaltet und sich in einen anderen Raum begeben. Ihre nächste Erinnerung sei, dass der Mann, der die Aufnahmen gemacht habe, sie wieder angezogen habe. Als sie mit ihrem Vater nach Hause gekommen sei, habe dieser auf Nachfrage ihrer Mutter gesagt, dass die Probe toll gewesen sei. Bei der Auseinandersetzung im Jahr 2013 mit dem Missbrauch habe sie ein Foto der Gesangsgruppe ihres Vaters gefunden, darauf habe sie einen der Männer, B3, das sei der gewesen, der damals die Aufnahmen gemacht habe, wiedererkannt. Die Klägervertreterin habe daraufhin die Klägerin gefragt, ob sie sicher sei, dass sie sich im Jahr 2013 beim Anschauen des Fotos an den Namen erinnert habe. Die Klägerin habe ihr davon erzählt, das könne aber nicht 2013 gewesen sei, weil sie damals noch nicht mit dem Fall beschäftigt gewesen sei. Die Klägerin habe erwidert, das Bild hänge nach wie vor bei ihrer Mutter an der Wand.

Die Klägerin habe von einem weiteren Ereignis im Alter von 13 oder 14 Jahren berichtet. Sie habe damals zusammen mit ihrer Mutter und den anderen Frauen der Sänger ihren Vater mit dessen Gesangsgruppe auf einer Reise nach W2 begleitet. Bei einem Besuch der Oper habe sie nicht mitgehen wollen, worauf auch ihr Erzeuger im Hotel geblieben sei. Als ihr Erzeuger in ihr Zimmer gekommen sei, habe er sie mit einem roten Seil an den Händen gefesselt, ihre Unterhose runtergerissen und sie im Stehen anal penetriert. Währenddessen habe er gesagt, es störe ihn, dass sie eine Frau sei. Dann sei ihre Erinnerung weg. Sie wisse erst wieder, dass sie angezogen in ihrem Bett gelegen habe, ihre Handgelenke seien etwas aufgeschürft, das Seil nicht mehr da gewesen.

Auf Nachfrage der Beklagtenvertreterin hat die Klägerin ausgeführt, die Reisen ihres Erzeugers seien mal eine Woche lang, mal aber auch nur einen einzelnen Tag gewesen, in der Regel mit Übernachtung. Wenn sie mit ihrem Vater übernachtet habe, sei es zu 98 bis 99 % zu einem Übergriff gekommen. Mit 13 oder 14 Jahren habe sie aufgehört, ihren Erzeuger auf seinen Reisen zu begleiten und habe die Ferien mit ihren Freunden verbracht.

Eine Anfrage des SG beim Einwohnermeldeamt hat ergeben, dass B3 am 15. Oktober 2001 in B5 verstorben ist. Ein H1 hat nicht identifiziert werden können.

Der Beklagte hat mitgeteilt, dass sich nach der Neufassung des § 4 Abs. 1 OEG die Zuständigkeit geändert habe und ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes eingetreten sei.

Das SG hat dann das Gutachten der R2 aufgrund der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 4. Juli 2020 erhoben. Diese ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin unter einer PTBS, einer DIS und einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig remittiert, leide. Diese Gesundheitsstörungen seien mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in ihrer Gesamtheit durch die körperliche und sexuelle Gewalt im Zeitraum von 1967 bis 1977 entstanden. Der Gesamt-GdS betrage von 2016 bis 2017 80 (PTBS Einzel-GdS 50, DIS Einzel-GdS 70, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert Einzel-GdS 30) und von 2018 bis 2020 50 (PTBS Einzel-GdS 30, DIS Einzel-GdS 50, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert Einzel-GdS 10). Der Symptomverlauf sei störungsbedingt schwankend, es bestünden wesentliche Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit.

Die Klägerin habe ausgeführt, sie glaube, dass ihr Vater „verkappt schwul“ gewesen sei, weil er sie nur anal penetriert habe. Auch habe er es schrecklich gefunden, als sie in der Pubertät Brüste bekommen habe und sie aufgefordert diese abzubinden. Auf seinen Reisen habe er sie stets als seinen Sohn ausgegeben, sie habe die Haare kurz tragen müssen. Neben der sexuellen habe es auch körperliche Gewalt gegeben, wie etwa Schläge mit dem Teppichklopfer. Während ihrer Schulzeit habe sie sich „auffällig“ verhalten, habe etwa selbständig den Unterricht verlassen oder im 15. Lebensjahr einem Lehrer die Krawatte abgeschnitten. Wegen dieses Verhaltens sei ihre Mutter zu einem Elterngespräch geladen worden, habe diesen Termin aber nicht wahrgenommen. Getragen habe sie zerrissene Jeans, Männerhemden, eine Lederjacke und Boots. Sie sei ein spiritueller Mensch, sei in der kirchlichen Jugendarbeit aktiv gewesen, habe mit 12 Jahren mit Erst- und Zweitklässlern gearbeitet, mit 16 Jahren eine Teestube gegründet, bei der Bibelarbeit mitgewirkt und Freizeiten betreut, so habe sie auch teilweise ihren Vater nicht bei dessen beruflichen Reisen begleiten müssen. Neben Krafttraining habe sie Badminton betrieben, sei Joggen gegangen und habe Tischtennis gespielt. Mit 16 Jahren habe sie mit ihrem ersten Freund geknutscht, dieser habe aus Glaubensgründen keinen Sex vor der Ehe haben wollen, die Beziehung habe ein Jahr gedauert. Mit 17 Jahren habe sie ihren Vater zusammengeschlagen, sie habe ihn durch die Wohnung geschleift, ihre Mutter habe nicht eingegriffen. Kurz darauf sei es zu einem ersten Suizidversuch gekommen. Die Schule habe sie mit dem Abitur (Notendurchschnitt 2,3) abgeschlossen und schließlich eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin absolviert. Während dieser Zeit habe sie Alkohol und Drogen konsumiert. Auch habe sie während der Ausbildung ihren ersten Partner kennengelernt und erstmals nach dem Missbrauch Sexualität erlebt, wobei sie nichts empfunden habe. Von ihrem damaligen Partner sei sie mehrfach geschlagen worden. 1988 sei ihre erste Tochter zur Welt gekommen, sie sei neun Jahre alleinerziehend gewesen und habe dann ihren späteren Mann kennengelernt. Eineinhalb Jahre danach sei ihre zweite Tochter geboren. Später habe sie ihre Eltern in ihre Nähe geholt, um diese besser unterstützen zu können, sie habe ihren Vater versorgt, wobei sie gemerkt habe, dass sie diesen „untenrum“ nicht habe waschen dürfen. Als sich am 3. Januar 2011 ihr Mann bei einem Streit auf sie gekniet und sie geschlagen habe, seien erstmals eindeutige Flashbacks bezüglich der erlittenen sexuellen Gewalt in ihrer Kindheit und Jugend aufgetreten. Um 2011 habe sie sich körperlich schwer vernachlässigt, habe 50 Zigaretten pro Tag geraucht, zu den zwei Flaschen Wein pro Tag noch Whiskey konsumiert und sich ungesund ernährt. 2015/2016 sei es zu stationären Aufenthalten in der S1 Klinik gekommen, währenddessen habe sich ihre jüngste Tochter in die Obhut des Jugendamts begeben und sei in eine Pflegefamilie gekommen, zwischenzeitlich studiere diese Erziehungswissenschaften. 2016 habe sie sich von ihrem Ehemann getrennt, die Scheidung sei 2019 gewesen, seit 4 Jahren lebe sie nun allein und beschäftige sich zusammen mit Z1, jedoch auch allein, viel mit ihrem Trauma. Über den Integrationsfachdienst habe sie 2016 ihre berufliche Tätigkeit wieder aufgenommen und arbeite in der Tagesklinik in R3 an drei Tagen in der Woche für jeweils drei Stunden in einer Stressbewältigungs- und Stabilisierungsgruppe. Seit 2015 beziehe sie eine Erwerbsunfähigkeitsrente, die nun um drei Jahre verlängert worden sei. Von dem OEG-Verfahren wünsche sie sich Anerkennung und die Gewährung weiterer Therapiestunden, das Kassenkontingent sei erschöpft.

Im Rahmen der ambulanten gutachterlichen Untersuchung habe die Klägerin exemplarisch über zwei Ereignisse unter einer bestimmten Konzentration mit geschlossenen Augen berichtet:

Sie sehe sich als Vierjährige in der Küche, weil ein warmer Tag sei, sei sie nur mit einer Unterhose und einem Unterhemd bekleidet. Die Mutter sei nicht da, der Vater habe Besuch von zwei Freunden. Der Raum habe ein Fenster zur Wand des Nachbarhauses und sei deshalb nicht einsehbar, sei mit einem Tisch, Stühlen und einer Neonröhre über dem Tisch eingerichtet. Die Männer und ihr Vater hätten Wein getrunken, ihr hätten sie Eierlikör mit Orangensaft zu trinken gegeben. Der Vater habe sie auf seinen Schoß gezogen und ihr das Unterhemd ausgezogen, weil es warm sei. Einer der Männer habe Fotos gemacht, ihr Vater habe ihr hinten in die Unterhose gefasst. Dann habe sie sich für eine kurze Lücke nicht mehr erinnern können; sie sehe sich dann wieder auf dem Tisch liegen, alle drei Männer fassten sie an und rieben sie mit Creme ein. Sie spüre eine Hand in sich, Finger im Mund, eine Hand in der Scheide. Alle Männer seien nackt, ihr Vater habe sie auf dem Tisch umgedreht, es sei ihr ein Finger in den After gesteckt worden. Einer der Männer habe onaniert, ihr Vater habe ihre Öffnungen gedehnt und sie dann penetriert, was furchtbar wehgetan habe. Die anderen seien fasziniert gewesen, ihr Vater habe gesagt, er sei bald fertig und gefragt, wer auch noch wolle. Sie habe geblutet. Es sei wieder eine Lücke in ihrer Erinnerung. Sie sitze auf dem Schoß ihres Vaters, auf dem Tisch stehe eine Schüssel mit Wasser, ihr Vater habe gesagt, dass sie das verdient habe, sie sei eine schlechte Tochter. Sie solle niemand davon erzählen, sonst bringe er ihre Mutter um. Die Männer hätten sie dann gewaschen und ins Bett gelegt. Diese Erinnerung sei auch im Laufe der Therapie und Bearbeitung stabil geblieben.

Nach einer Pause habe die Klägerin noch von einem zweiten Ereignis berichten wollen, damit die Dimension des Missbrauchs noch klarer werde. Mit 11 Jahren sei sie recht früh in die Pubertät gekommen, ihre Brüste seien gewachsen. Ihr Vater habe sie in den Pfingstferien auf eine Geschäftsreise mitgenommen. Beim Betreten eines Gasthofs habe ihr Vater gesagt, dass sie sein Sohn sei, aufgrund ihrer kurzen Haare und des noch kleinen Busens habe man sie für einen Jungen gehalten. Nach dem Essen habe ihr Vater sie im Zimmer aufgefordert, sich auszuziehen und sich zu waschen. Sie habe sich aufs Bett legen müssen, auf den Bauch, ihr Vater habe gesagt, ihre Brust sei widerlich. Ihr Vater habe sich auf sie gelegt und begonnen, sie zu würgen. Dann habe er ihren Po mit etwas Kaltem eingeschmiert, ihre Beine auseinandergedrückt und sein Glied in ihren After gesteckt. Sie habe geschrien, er habe sie immer wieder gewürgt. Nachdem ihr Vater gekommen sei, habe er gesagt, sie sei ekelig und dass er sich einen Sohn gewünscht habe, sie solle sich das nächste Mal die Brüste abbinden. Nach einiger Zeit habe sie sich an den After gefasst und festgestellt, dass sie geblutet habe. Wenn sie mit ihrem Vater auf Reisen gewesen sei, habe er sie mehrfach in der Woche anal penetriert, sie habe gehofft, dass er mal abwechseln würde, sie habe ja „zwei Löcher“. Auf den Reisen habe ihr Vater immer seine Pistole mit sich geführt und diese auf den Nachtisch gelegt, sie habe Angst gehabt, dass er sie „abknalle“.

Später als sie im Alter von circa 16 Jahren nicht mehr so willig gewesen sei und sich gewehrt habe, habe er sie mit der Waffe bedroht. Ihrer Mutter habe sie es nicht sagen können, da er sie sonst umgebracht hätte. Vom 4. bis 17. Lebensjahr habe die sexuelle Gewalt regelmäßig circa zehn- bis zwölfmal jährlich stattgefunden, nach ihrem 17. Lebensjahr habe sie die beiden Mittäter nie mehr gesehen. Durch Gewalt habe es auch Verletzungen außerhalb des Genitalbereichs gegeben, so sei z. B. auch ihr rechter Ringfinger gebrochen worden. Die sexuelle Gewalt habe teils nur durch ihren Vater, vor allem auf dessen beruflichen Reisen, teilweise auch zusammen mit den Mittätern zu Hause oder auf Reisen des Gesangsquartetts stattgefunden.

Der Beklagte ist der Ansicht gewesen, dass auch unter Berücksichtigung des Gutachtens der R2 die von der Klägerin geltend gemachten schädigenden Ereignisse weiterhin nicht im Vollbeweis nachgewiesen seien. Auch seien sie nicht wenigstens glaubhaft gemacht, die bloße Möglichkeit sei nicht ausreichend. Erhebliche Zweifel ergäben sich bereits daraus, dass die Klägerin im Jahr 2011 bemerkt haben wolle, dass mit ihr etwas nicht stimme. Erst im Rahmen einer trauma-fokussierten Psychotherapie beginnend 2014 seien wenig detailreiche Erinnerungen beschrieben und ein Missbrauch durch ihren Vater und zwei weitere Männer ab dem dritten Lebensjahr – mehr als 40 Jahre nach dem Missbrauch – angegeben worden. Die Möglichkeit eines sog. False Memory Syndroms könne nicht ausgeschlossen werden, durch die jahrelange trauma-fokussierte Psychotherapie bestehe zumindest die Möglichkeit, dass die fraglichen Gewalterlebnisse durch nachträgliche Bewertungen überlagert worden seien und deshalb eine Vermischung von real Erlebtem und Phantasie unbewusst erfolgt sei. Um als erlebnisbegründend angesehen werden zu können, hätten die von der Klägerin vorgebrachten Situationsschilderungen konsistent und konstant wiedergegeben werden müssen, diese Anforderungen seien nicht erfüllt. Nicht unberücksichtigt bleiben könne auch der jahrelange Drogenmissbrauch. Soweit die Gutachterin dies als Bewältigungsstrategie werte und hieraus auf das Vorliegen der schädigenden Ereignisse schließe, sei dies nicht zulässig.

Das SG hat durch Urteil aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10. Februar 2021 den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 18. August 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Mai 2017 verurteilt, der Klägerin Beschädigtenversorgung für die Zeit vom 1. März 2016 bis zum 30. Dezember 2017 nach einem GdS von 80 und ab dem 1. Januar 2018 nach einem GdS von 50 zu gewähren. Die Beweiserleichterung der Glaubhaftmachung komme zugunsten der Klägerin zur Anwendung. Es könne ihr nicht zum Vorwurf gemacht werden, keine Strafanzeige gestellt zu haben. Der Täter habe nach ihren Angaben eine Waffe besessen und gedroht, ihre Mutter zu töten, falls sie sich dieser anvertraue. Mit Erreichen der Volljährigkeit seien erhebliche gesundheitliche Probleme wie Suizidversuche, Drogen- und Alkoholkonsum aufgetreten. Die erlittene sexuelle Gewalt sei von der Klägerin verdrängt worden und die Erinnerungen hieran seien erst nach einem körperlichen Übergriff durch ihren damaligen Ehemann wieder aufgetreten.

Die Angaben der Klägerin zu den schädigenden Vorgängen seien glaubhaft. Bei einer DIS bestehe sowohl die Möglichkeit, dass bis dahin abgespaltene Erinnerungen an traumatische Vorfälle in der Therapie aufgedeckt würden (echte wiederentdeckte Erinnerung), als auch die, dass die aufgetretenen Sinneseindrücke Folge von Gedächtnistäuschung oder Suggestion („False Memory") seien. Gewisse Hinweise auf eine echte Erinnerung gäben Schilderungen, die über einen längeren Zeitraum konstant blieben, während unzutreffende Erinnerungen über Ereignisse, die sich nicht ereignet hätten, dazu neigten, im Laufe der Jahre eher auszuufern. Die diesbezüglichen Schilderungen der Klägerin gegenüber ihren Behandlern seit ihrem stationären Aufenthalt 2013 seien im Wesentlichen konstant und hinreichend detailliert. So sei der Missbrauch durch den Vater stets in Form analer Penetration erfolgt, die Klägerin habe auch Angaben zur Umgebung machen können und z. B. den Raum beschreiben. Zwar wichen teilweise die Altersangaben etwas voneinander ab, dies erscheine jedoch aufgrund der wiederholten Übergriffe während des Zeitraums von 1967 bis 1977 nachvollziehbar. Die Klägerin befinde sich seit 2013 in engmaschiger therapeutischer Behandlung, wo eine Aufarbeitung der Erlebnisse erfolge; die geschilderten Vorgänge des sexuellen Missbrauchs seien daher im Verlauf – auch des Gerichtsverfahrens – zunehmend konkreter geworden, was die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nicht ausschließe.

Als gesundheitliche Schädigungen habe die Klägerin infolge der Taten die von der Gutachterin diagnostizierte PTBS, DIS und rezidivierende depressive Störung erlitten, die kausal auf die Gewalttaten zurückzuführen seien. Diese habe den Gesamt-GdS für den Zeitraum von 2016 bis 2017 mit 80 und für 2018 bis 2020 mit 50 bewertet. Die depressive Störung sei zum Untersuchungszeitpunkt remittiert gewesen, weshalb der diesbezügliche Einzel-GdS von der Gutachterin ab 2018 mit 10 (vorher 30) angesetzt worden sei. Der Symptomverlauf sei der Gutachterin zufolge störungsbedingt schwankend, es bestünden wesentliche Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Die Kammer schließe sich dieser Einschätzung vollumfänglich an.

Der Gutachterin folgend seien die Gesundheitsstörungen auf die körperliche und sexuelle Gewalt in ihrer Gesamtheit zurückzuführen, eine Auftrennung in einzelne Tatkomplexe sei daher nicht möglich. Es sei von einem fortgesetzten Missbrauch ohne die Einschränkung des § 10a OEG auszugehen. Die Höhe der Beschädigtenrente ergebe sich aus § 31 BVG.
Am 9. Juni 2021 hat der Beklagte gegen das ihm am 28. Mai 2021 zugestellte Urteil des SG Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt (L 6 VG 1979/21).

Auf Anfrage des vormaligen Berichterstatters hat die Klägerin mitgeteilt, dass ihres Wissens nach einer der Mittäter, H1, in W1 gewohnt habe. Mangels eines der Klägerin erinnerlichen Geburtsdatum des H1 hat eine Anfrage beim Einwohnermeldeamt jedoch nicht erfolgreich durchgeführt werden können.

Auf Anregung der Klägerin ist B6, S1 Klinik R1, als sachverständige Zeugin schriftlich befragt worden. Demnach sei die Klägerin 2013 und 2014 zur stationären Behandlung in der S1 Klink gewesen, seit 2015 erscheine sie unregelmäßig in der psychiatrischen Institutsambulanz, wenn ihre niedergelassene Therapeutin sich im Urlaub befinde. Als Diagnosen seien eine Depression und eine PTBS gestellt, eine Suchterkrankung sei nur einmalig 2013 diagnostiziert worden und habe im weiteren Verlauf keine Rolle mehr gespielt. Die komplexe PTBS mit dissoziativen Störungen bzw. einer multiplen Persönlichkeitsstörung sei mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einen sexuellen Missbrauch zurückzuführen. Eine multiple Persönlichkeit entstehe nur bei exzessivem Missbrauch. Ergänzend hat B6 ihrer sachverständigen Zeugenaussage den Behandlungsbericht vom 2. November 2021 (PTBS, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode) und die bereits aktenkundigen Berichte über die stationären Aufenthalte vorgelegt. Der Behandlungsbericht vom 2. November 2021 hat einen Verlaufsbericht enthalten, wonach die Klägerin unter anderem den Verdacht auf rituelle Gewalt (16. August 2016) und die Reprogrammierung durch einen Kult (12. Oktober 2017) angemerkt habe. 2021 habe sie Angst geäußert, dass sie von der Polizei wegen der Ausgangssperre während der Pandemie erwischt werde, wenn sie zu ihrem Ritualplatz gehe.     

Der Beklagte hat zur Berufungsbegründung ausgeführt, er könne sich mit dem Urteil des SG bereits deshalb nicht einverstanden erklären, weil das SG im Urteilstenor keine anzuerkennenden Schädigungsfolgen genannt habe und dies mit der Unzulässigkeit einer Elementenfeststellungsklage nicht zu vereinbaren sei. Darüber hinaus sei ein sexueller Missbrauch der Klägerin in ihrer Kindheit und Jugend weiterhin nicht ausreichend nachgewiesen. Wie bereits das SG festgestellt habe, sei die Sachverhaltsschilderung im Verlauf, auch des Gerichtsverfahrens, zunehmend konkreter geworden, was gegen einen Erlebnisbezug spreche.

Zudem fehle es nach der Rechtsprechung in einem Altersbereich von unter vier Jahren an der Aussagetüchtigkeit. Eine weitere Konkretisierung der Taten sei erst im Klageverfahren erfolgt, wobei die Klägerin angegeben habe, mit ihrer Schulpflichtigkeit hätten die sexuellen Übergriffe abgenommen, weil sie ihren Vater nicht mehr so häufig auf dessen Reisen begleitet habe. Im Erörterungstermin am 10. Juli 2019 seien diese Angaben jedoch wieder dahingehend relativiert worden, dass ihr Vater sie dann in den Ferien auf seine Reisen mitgenommen habe. Die von der Klägerin vorgetragenen Erinnerungen seit 2011 stünden im Gegensatz zu ihrem Vortrag im Erörterungstermin, dass ihr bereits im Alter von 14 oder 15 Jahren bewusst gewesen sei, ein Opfer zu sein. Die Annahme einer Beweisnot der Klägerin durch das SG wegen der Drohung deren Vaters und ihrer gesundheitlichen Situation sei nicht überzeugend. Zwischen dem Antrag 2016 und dem letzten Übergriff im 17. Lebensjahr, damit 1980, lägen fast 30 Jahre, in denen es der Klägerin möglich gewesen sei, sich beruflich und sozial zu integrieren. Es sei nicht auszuschließen, dass die Erinnerungen der Klägerin therapieinduziert seien, zumal sie berichtet habe, sich mit Betroffenen in Internet-Foren ausgetauscht zu haben. So habe die Klägerin bei Antragstellung noch angegeben, sich nicht an die Namen der Mittäter erinnern zu können, auch habe sie ausgeführt, nach vielen Jahren der Therapie nun zu wissen, dass es durch ihren Vater auch zur Penetration mit dem Penis gekommen sei und das Geschehene inzwischen auch „wie von oben“ sehen zu können. Bei der Untersuchung durch R2 habe sie darüber hinaus erstmals neben den sexuellen Übergriffen auch körperliche Gewalt durch ihren Vater vorgebracht. Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs habe die Klägerin gegenüber der Gutachterin lediglich einen Vorfall als Vierjährige und einen als Elfjährige geschildert. Die sexuelle Gewalt solle aber vom vierten bis zum 17. Lebensjahr regelmäßig circa zehn- bis zwölfmal pro Jahr stattgefunden haben. Das Gutachten der R2 sei schon deswegen nicht überzeugend, weil als Brückensymptome für die erst 2020 festgestellte PTBS, DIS und rezidivierende depressive Störung lediglich die schon vor 2011 von der Klägerin angegebenen Alpträume genannt würden.

Zu berücksichtigen sei zudem auch der jahrelange Gebrauch von Drogen (THC, Kokain) und Alkohol. Dies werde von R2 zwar im Zusammenhang mit der Amnesie als Bewältigungsstrategie gewertet und daraus auf das Vorliegen eines schädigenden Ereignisses geschlossen, eine rückwärtsgerichtete Kausalität sei jedoch ausgeschlossen. Die sachverständige Zeugenaussage der B7 führe zu keiner abweichenden Beurteilung. Die hieraus ersichtlichen Aspekte der rituellen Gewalt und der Verfolgung durch einen Kult habe die Klägerin bislang im Verfahren nicht angegeben. Der Beklagte halte deshalb daran fest, dass nicht auszuschließen sei, dass die zunehmenden Erinnerungen das Ergebnis der seit mindestens 2013 durchgeführten multimodalen tiefenpsychologisch orientierten Therapie seien.

Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 15. September 2022 hat der Senat das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 10. Februar 2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Gegen die Nichtzulassung der Revision hat die Klägerin Beschwerde beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegt, das mit Beschluss vom 26. Oktober 2023 das Urteil wegen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen hat (B 9 V 34/22 B).

Das Verfahren wird unter dem Aktenzeichen L 6 VG 3480/23 ZVW fortgeführt.
Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 10. Februar 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

            die Berufung des Beklagten zurückzuweisen,
hilfsweise, die Klägerin nach § 109 SGG bei F1 begutachten zu lassen.

Sie verweist auf die angefochtene Entscheidung, das Gutachten der R2 und die sachverständige Zeugenaussage der B7.

Zur weiteren Sachaufklärung hat der Senat das neurologisch-psychiatrische Sachverständigengutachten des S2 beauftragt.

Die Klägerin hat eingewandt, dass dem Sachverständigen die Anknüpfungstatsachen mitzuteilen seien, die er seiner Begutachtung zu Grunde zu legen habe. Diese seien der Beweisanordnung nicht zu entnehmen. Mit der gewählten Fragestellung werde die Ermittlung der nichtmedizinischen Feststellungen auf den Sachverständigen übertragen. Träfe er entsprechende Feststellungen, überschritte er damit seinen Kompetenzbereich. Die Schilderungen der Missbrauchshandlungen ergäben sich aus der Akte, sie seien im Berufungsurteil wiedergegeben. Die Entwicklung der Klägerin werde üblicherweise in der Anamnese des Gutachtens dargelegt, es sei nicht erkennbar, welches Beweisthema verfolgt werde. Es werde dem Sachverständigen die Ermittlung von Anknüpfungstatsachen übertragen, die Therapien seien bereits aktenkundig. Weshalb Schilderungen ggf. nicht in den Berichten enthalten seien, könnten nur die Behandler beantworten. Eine aussagepsychologische Ausbildung habe der Sachverständige S2 nicht. Der aussagepsychologische Sachverständige könne keine Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts machen. Die Aussagetüchtigkeit sei zunächst von Psychologen zu beantworten, nur in Ausnahmefällen komme die Hinzuziehung eines Psychiaters in Betracht. Der Sachverständige S2 sei Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Er habe sich ausweislich seiner Homepage in Verkehrs- und Suchtmedizin qualifiziert. Diese Qualifikationen kämen nicht zum Tragen, sodass auch unter diesem Gesichtspunkt Bedenken bestünden.

In seinem Sachverständigengutachten aufgrund ambulanter Untersuchung vom 1. Februar 2024 hat S2 ausgeführt, dass die Klägerin beschrieben habe, dass sie ab dem zweiten Lebensjahr bereits im Kindergarten gewesen sei. Sie sei als Einzelkind aufgewachsen. Die Einschulung sei mit sechs Jahren erfolgt, sie habe die Grundschule besucht, danach das Gymnasium. Als „Arbeiterkind“ habe sie sich bei den vielen „Akademikerkindern“ in der Klasse ausgegrenzt gefühlt. Sie habe das Abitur mit 2,4 abgeschlossen und habe anschließend 1987 die Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin durchlaufen. Sie habe über 30 Jahre in der Psychiatrie gearbeitet, Erwerbsminderungsrente beziehe sie seit 2014. Derzeit arbeite sie an drei Tagen die Woche drei Stunden in der Tagesklinik in R3. Sie habe den Führerschein mit 19 Jahren erworben und fahre Auto.

Auf die Frage nach Therapien habe die Klägerin angegeben, dass die erste Behandlung 2013 gewesen sei, damals gleich stationär. Sie habe zu diesem Zeitpunkt nicht mehr arbeiten und nicht mehr schlafen können. Sie sei damals mit F2 verheiratet gewesen. Dieser habe sich 2011 „im Suff“ auf sie gelegt, sie geschlagen und gewürgt. Sie habe geschrien, ihre Kindern hätten ihn von ihr runtergezogen. In dieser Nacht seien alle Erinnerungen, die sie bis dahin „weggedrückt“ gehabt habe, wieder hochgekommen und hätten auf sie eingewirkt. Sie habe Alpträume und Panikattacken bekommen.

Sie meine, mit 16 Jahren in der Jugendpsychiatrie gewesen zu sein, sie habe von einer Brücke springen wollen. Sie sei ein paar Tage stationär gewesen, über die Missbrauchserlebnisse habe sie dort nicht berichtet.

Auf Nachfrage habe die Klägerin angegeben, dass sie immer gewusst habe, dass es Vorfälle gegeben, sich aber geweigert habe, sich damit näher auseinanderzusetzen. Sie habe stattdessen Alkohol und Drogen konsumiert. Wie die Angabe in das Gutachten gekommen sei, dass sie ihren Vater gepflegt habe und diesen im Genitalbereich gewaschen habe, wisse sie nicht. Das stimme nicht.

Am 16. September 2023 habe sie erneut geheiratet, ihr Ehemann sei Altersrentner. Sie lebten in einem 2-Personen-Haushalt, der Haushalt werde gemeinsam versorgt. Sie stünden zwischen 7.00 Uhr und 8.00 Uhr auf und frühstückten. Ihr Mann sei Künstler, male in seinem Atelier, das sich in der Wohnung befinde. Sie beschäftige sich im Haushalt, lese, gehe vielleicht spazieren. Von 13.00 Uhr bis 16.00 Uhr arbeite sei, dann gebe es Abendessen. Man spiele gerne Spiele wie Skip-Bo oder Scrabble.

2023 sei eine Reise zu ihrer jüngeren Tochter nach T2 unternommen worden, die dort studiere. Es habe länger kein Kontakt zu ihr bestanden, wegen Auseinandersetzungen mit dem Ex-Mann der Klägerin. Befragt nach Hobbies habe die Klägerin angegeben, gerne zu lesen, Spaziergänge und Wanderungen zu unternehmen. Sie höre gerne Musik, besuche Kunstausstellungen und fahre circa einmal im Jahr in den O2, wo sie aufgewachsen sei. Sie besuche auf Empfehlung ihrer Therapeutin auch die Stätten, wo sie missbraucht worden sei. 2023 sei sie bei der Ruine Gotthardt gewesen und habe festgestellt, dass sie das nicht mehr triggere. Seit 2015 gehe sie einmal die Woche zu den Anonymen Alkoholikern, sei Gruppensprecherin. Sie habe einen kleinen Freundeskreis.

Befragt zu den Vorfällen habe sie angegeben, sich an ein Ereignis genau erinnern zu können. Sie sei drei oder vier gewesen. Sie sei mit ihrem Vater alleine gewesen, warum ihre Mutter nicht da gewesen sei, wisse sie nicht. Es sei noch ein Mann, der B3, dabei gewesen. Der habe eine Kamera dabei gehabt, ob er nur Fotos oder auch Filme gemacht habe, wisse sie nicht. Es sei ein warmer Tag gewesen, die Wohnung ein „ärmliches Loch“. In der Küche habe immer eine Leuchtstoffröhre an der Decke gebrannt. Die beiden Männer hätten geraucht und Alkohol getrunken, man habe ihr auch einen Likör zu trinken gegeben.

Ihr Vater habe gesagt, dass es viel zu heiß sei und man habe sich ausgezogen. Die beiden Männer hätten begonnen sie einzucremen, auch zwischen den Beinen und am Po. Ihr Vater sei schließlich nackt gewesen. Die restlichen Erinnerungen seien „nicht so einfach zu holen“. Es sei zu Penetrationen gekommen, zumindest zu Versuchen, anal. Auf Frage, wie häufig die Vorfälle gewesen seien, habe die Klägerin angegeben, dass dies nicht so einfach zu sagen sei, sie denke ungefähr einmal im Monat. Das habe an den Umständen gelegen, ihre Mutter sei meist zuhause gewesen und dann habe der Vater keine Gelegenheit gehabt.

Ihr Vater habe aber Touren als Handelsvertreter unternommen, anfangs sei sie da gerne mitgefahren. Wahrscheinlich, weil sie damals Gegenden gesehen habe, die andere Kinder gar nicht kennengelernt hätten. Anfangs sei sie freiwillig mitgefahren, später habe ihr Vater sie gezwungen. Z.B. habe er ihr einen Revolver oder eine kleinere Waffe gezeigt und gesagt, wenn sie nicht mitkomme, werde er ihre Mutter umbringen. Die Waffe habe sie später gefunden, als ihr Vater ins Altersheim gekommen sei. Es sei eine Schreckschusspistole gewesen, damals als 10-jährige habe sie die für echt gehalten.

Zu den Beschwerden habe die Klägerin angegeben, dass sie immer wieder träume, etwa einmal die Woche. Sie träume davon, missbraucht zu werden, von den damaligen Erlebnissen. Sie habe deswegen auch schon ihren jetzigen Mann nachts geschlagen, weil sie ihn für einen Aggressor gehalten habe.

Sie habe Angst, könne nicht sagen wovor. Es sei einfach das Gefühl, dass der Boden unter ihr weggehe. Das trete etwa zwei- bis dreimal im Monat auf und sei nicht an konkrete Situationen gebunden. Herzklopfen und Schweißausbruch seien auch dabei. Mittlerweile wisse sie, dass das eine Panikattacke sei. Manchmal werde ihr auch schwindelig. Außerdem leide sie an einer Essstörung, derzeit sei sie zu dick.

Sie habe immer wieder Erinnerungs-Flashbacks, die einfach vor dem Auge aufblitzten. Sie sehe z.B. ihren Vater, wie er sie missbrauche oder sie sehe seinen Kumpel, der das fotografiere. Das sehe sie aus der Perspektive des damaligen Kindes, also der Ich-Perspektive. Sie habe Konzentrationsstörungen, manchmal dissoziiere sie. Sie selber merke dies gar nicht, sondern die Umwelt registriere, dass sie geistesabwesend sei. In der Therapie sei es so gewesen, dass die Therapeutin sie habe schütteln bzw. laut ansprechen müssen.

Auf weitere Nachfrage habe die Klägerin bestätigt, dass sie weiterhin mehrere Persönlichkeiten in sich berge, derzeit seien es etwa 30 oder 40. Diese hätten verschiedene Lebensalter, vom Babyalter bis zu ihrem jetzigen Alter, es sei aber niemand dabei, der biologisch älter sei als sie. Es seien Männer und Frauen dabei, diese hätten aber kein eigenes Leben und keine eigene Biographie. Es handele sich um Beschützer, wenn es ihr schlecht gehe. Ihrer Therapeutin sei aufgefallen, dass sie manchmal in unterschiedlichen Dialekten rede, in unterschiedlichen Sprachen allerdings nicht. Auf die Frage, mit welcher Persönlichkeit er – der Sachverständige – es gerade zu tun habe, habe die Klägerin angegeben, dass sie immer sie selbst sei, die anderen Persönlichkeiten seien im Hintergrund und hörten einfach zu.

Körperliche Beschwerden habe sie nicht, die Sinnesorgane funktionierten normal. Zum Thema Sexualität habe die Klägerin ausdrücklich erklärt, keine Probleme zu haben, darüber zu reden. Mit der Sexualität habe sie immer wieder Schwierigkeiten, sie könne bis heute niemandem „einen blasen“. Ihren ersten vaginalen Geschlechtsverkehr habe sie mit ihrem Vater im Alter von circa acht Jahren gehab. Den ersten selbstbestimmten mit 20. Intime Beziehungen zu Frauen habe sie nicht gehabt, sie habe es versucht, aber es habe nicht funktioniert. Das geschlechtliche Begehren sei erhalten, wenn auch selten. Sie übe mit ihrem jetzigen Partner vaginalen Verkehr aus.

Im Alter zwischen 20 und 30 Jahren habe sie sich oberflächlich geschnitten. Eine Angst, von realen Bezugspersonen verlassen zu werden, habe sie nie gehabt. Mit Alkohol habe sie spät begonnen, mit 35 Jahren. Sie habe stets kontrolliert getrunken, einen Filmriss habe sie nie gehabt. Sie sei alkoholisiert Auto gefahren, aber nie erwischt worden. Die Trinkmenge sei im Laufe der Zeit mehr geworden, einen Kontrollverlust habe es keinen gegeben. Nach einer Blutdruckkrise habe sie mit dem Alkohol aufgehört und eine Entzugsbehandlung gemacht.

Mit Cannabis habe sie mit 14 Jahren begonnen und dies bis zum Alter von 35 Jahren konsumiert, als sie mit ihrer zweiten Tochter schwanger gewesen sei. Mit Kokain habe sie in der Ausbildung begonnen, Herion nicht verwendet.

Die Klägerin befinde sich in gutem Allgemein- und adipösen Ernährungszustand. Der Gang sei mit offenen Augen sicher, der Seiltänzergang leicht unsicher. Der Einbeinstand sei beidseits nicht möglich, der Stehversuch nach Romberg sicher, der Unterberger Tretversuch breitbasig ohne Drehtendenz.

Psychisch sei die Klägerin bewusstseinsklar und allseits orientiert. Sie nehme ungezwungen Kontakt auf, berichte von sich aus ausführlich. Der Vortrag werde von lebhafter Gestik begleitet. Das Diktat sei aufmerksam verfolgt, gelegentlich ergänzt bzw. berichtigt worden. Die Realitätsprüfung und die Intentionalität seien intakt, formale oder inhaltliche Denkstörungen bestünden keine. Das biographische Gedächtnis sei leicht beeinträchtigt. Der Antrieb sei ungestört ohne Zeichen einer vorzeitigen Ermüdung. Merkfähigkeit und Konzentration seien regelrecht, die Fragen würden prompt beantwortet, bei der körperlichen Untersuchung habe eine gute Umsetzung der verbalen Aufforderungen bestanden. Die Stimmungslage sei ausgeglichen, immer wieder zeige sich die Klägerin regelrecht heiter. Das affektive Schwingungsvermögen erweise sich bei der Besprechung unterschiedlicher Themen als regelrecht.

Über die Biographie und die sexuellen Übergriffe berichte sie spontan, ausführlich und detailreich. Es ergäben sich keine Hinweise auf eine psychische Traumafolgestörung. Es bestehe kein Vermeidungsverhalten, es komme nicht zu Intrusionen, auch nicht zu Flashbacks, dissoziativen Zuständen oder zu körperlichen wie psychischen Reaktionen.

Soweit die Befürchtung geäußert worden sei, dass bei einem männlichen Begutachter keine Äußerung zu den Taten erfolgen könne, habe sich dies nicht bestätigt. Die Klägerin habe sich ausführlich ohne Auffälligkeiten im Sinne einer emotionalen Erregung, ohne psychische Auffälligkeiten zu den Geschehnissen geäußert. Dass die Exploration durch männliche Sachverständige zu anderen Ergebnissen führe als durch weibliche, sei in der wissenschaftlichen Literatur bisher nicht beschrieben. Die körperliche Untersuchung sei ohne jegliche Auffälligkeiten verlaufen.

Die testpsychologische Zusatzuntersuchung durch L2 habe eine prämorbide verbale Intelligenz an der oberen Normgrenze ergeben. Die aktuelle Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistung sei normentsprechend, ebenso die Fähigkeit zu visuell-räumlicher Konstruktion einer komplexen Figur. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses sowie die Merkfähigkeit für visuell-räumliches Material sei jeweils deutlich reduziert. Im Bereich der Persönlichkeitsdiagnostik ergäben sich keine erhöhten Skalen, allerdings habe sich die Klägerin als wenig ehrgeizig und selbsthauptend beschrieben. In einer Validierungsskala für die Angaben von psychischen Beschwerden sei eine unkritische Bejahung von Beschwerden aufgefallen, so dass die Angaben mit einer Wahrscheinlichkeit von 88 % nicht als authentisch zu bewerten seien.

Zur Aktenlage sei auszuführen, dass der Bericht der Psychosomatischen Klinik R1 (Aufenthalt 10. März bis 9. Mai 2014) wenig aufschlussreich sei, weil vor allem ein psychopathologischer Befund fehle. Es ermangele an einer systematischen Anamneseerhebung, Differenzialdiagnosen würden nicht erörtert, der Drogenkonsum werde nicht exploriert. Entsprechendes gelte für den Bericht der Psychosomatischen Klinik S5 (Untersuchung 27. Januar 2014).

In der nichtöffentlichen Sitzung beim SG seien die Szenen sehr detailliert beschrieben, einschließlich wörtlicher Zitate, welche Personen welche Äußerungen getätigt hätten. Dies sei in Anbetracht des verstrichenen Zeitraums sehr ungewöhnlich. Dies gelte auch für die Angaben in der E-Mail an die Rechtsanwältin. Es bestehe eine Detailfülle, offensichtlich liege kein Vermeidungsverhalten vor, nämlich sich mit den Vorfällen zu befassen. Es sei zu keinen Intrusionen, keinen Flashbacks und keinen dissoziativen Störungen gekommen. Es sei offensichtlich, dass die Kernsymptome einer PTBS nicht vorgelegen hätten.

Das Sachverständigengutachten vom 2. September 2020 sei nicht schlüssig. Die Klägerin habe eingehend über die traumatisierenden Ereignisse berichten können, ohne dass Symptome einer PTBS aufgetreten seien. Die gutachterliche Bewertung gründe ausschließlich auf der Beschwerdeschilderung, wobei deren mögliche Verzerrungen der Beschwerdeschilderung, bewusst oder unbewusst, weder erfasst noch bedacht worden seien. Keine der Diagnosen werde begründet, in Anbetracht der dokumentierten Befunde sei keine Diagnose nachzuvollziehen. Zum Ursachenzusammenhang enthalte das Sachverständigengutachten keine Ausführungen. Es seien keine Funktionsbeeinträchtigungen nachgewiesen, der GdS sei offensichtlich allein aus der Diagnose hergeleitet.

Die Frage nach der Aussagetüchtigkeit verstehe er dahingehend, dass die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage zu bewerten sei. Bei der Klägerin bestünden Einschränkungen durch eine mittelschwer ausgeprägte kognitive Störung. Es seien bereits 2015 Veränderungen des Hirngewebes festgestellt worden, eine traumatische Ursache sei radiologisch ausgeschlossen worden. Mit einem zwischenzeitlichen Fortschreiten sei zu rechnen, ein Bezug zu den behaupteten Missbrauchserlebnissen lasse sich nicht herstellen.

Die kognitiven Defizite beeinträchtigten die Fähigkeit, biografische Erlebnisse annähernd korrekt wiederzugeben ganz wesentlich. Weitere Bedenken hinsichtlich der Glaubhaftigkeit ergäben sich aus den Auffälligkeiten in den Beschwerdevalidierungsverfahren.

Das Erinnerungsvermögen und damit die Aussagetüchtigkeit könne durch psychische Erkrankungen beeinträchtigt werden, weiter könne die Gedächtnisbildung durch Substanzkonsum, durch die Einnahme bestimmter Medikamente verändert werden. Für eine Persönlichkeitsstörung hätten keine hinreichenden Befunde bestanden.

Grundsätzlich zu bedenken sei die mögliche Beeinflussung der Aussage durch Scheinerinnerungen. Die Möglichkeit, dass Aussagen durch Scheinerinnerungen beeinträchtigt seien, bestehe auch bei psychisch gesunden Menschen. Ein aussagepsychologisches Gutachten könne er nicht erstellen, es sei aber vorliegend entbehrlich, da zunächst zu prüfen sei, welche Gesundheitsstörungen überhaupt vorlägen. Erst in der Kausalitätsprüfung könne ein aussagepsychologisches Gutachten Erkenntnisse darüber liefern, ob ein hinreichender Realitätsbezug bestehe.

Es spreche vieles dafür, dass die Erinnerungen der Klägerin als Scheinerinnerungen zu klassifizieren seien. Das menschliche Gedächtnis speichere Erinnerungen nicht wie ein Videorekorder, sondern Erinnerungen würden grundsätzlich rekonstruiert. Bei jedem Aufruf werde die Erinnerung unweigerlich modifiziert und mit neuen Gedächtnisinhalten verknüpft. Daher sei es bei jedermann möglich, dass im Laufe der Zeit Fehlerinnerungen entstünden. Die bei der Klägerin bestehenden Störungen der Hirnfunktion erhöhten die Wahrscheinlichkeit von Fehlerinnerungen.

Es erscheine äußerst unwahrscheinlich, dass Missbrauchserlebnisse einschließlich gewalttätiger Handlungen über so lange Zeit, wie von der Klägerin geltend gemacht, auch unmittelbar nach den Erlebnissen ohne psychische Reaktion blieben und keine Funktionsstörungen im Sinne eines objektiv beobachtbaren Primärschadens hervorriefen.

Nach Darstellung der Klägerin sei sie in der Jugend sehr aktiv und sozial engagiert gewesen. Sie habe die Schule und die spätere Berufsausbildung ohne jegliche Auffälligkeiten bewältigt. Ihre sexuelle und partnerschaftliche Entwicklung habe sie als normal beschrieben. Ihre erste Berufstätigkeit habe sie mit geistig behinderten Männern verrichtet, auch dies sei ungewöhnlich, wenn die Klägerin in der von ihr geschilderten Weise von Männern missbraucht worden sei. Dass sie Ereignisse im dritten oder sogar im zweiten Lebensjahr erinnere, sei nach den Ergebnissen der Gedächtnisforschung nahezu ausgeschlossen.

In welcher Lebensphase die Erinnerungen der Klägerin an die Vorfälle tatsächlich aufgetreten seien, sei nicht klar zu erkennen. Aus den ersten Berichten gehe hervor, dass solche Erinnerungen erstmals 2011 gebildet worden seien, bei der damaligen Psychotherapeutin habe die Klägerin angegeben, bis 2011 eine Amnesie gehabt zu haben. Aktuell seien die Angaben dazu weniger klar.

Weitere Ermittlungen seien nicht zielführend, da auch die rückblickenden Erinnerungen an das erstmalige Erinnern der angegebenen Ereignisse denselben physiologischen Prozessen mit Veränderung der Gedächtnisinhalte unterworden seien, wie die Erinnerungen an die Ereignisse selbst. Auch nach den Berichten der stationären psychotherapeutischen Behandlungen 2013 und 2014 seien die Erinnerungen wohl erstmals 2011 wieder aufgetaucht und seien anschließend weiter ausgebaut und detailreicher geworden. Die ungewöhnliche Detailfülle, mit welcher die Klägerin die Szene heute beschreibe, spreche ebenfalls dafür, dass die Erinnerungen aufgrund wiederholten Aufrufs und Gedankenarbeit beträchtlich ausgestaltet worden seien. Üblicherweise würden zentrale Details vor allem traumatischer Ereignisse gut erinnert, die Kontextbedingungen aber kaum. Nach der Gedächtnisforschung bestehe ein deutliches Gefälle, nämlich ein gesteigertes Erinnerungsvermögen bei emotional erlebten und unangenehmen Erlebnissen, wohingegen Kontextinformationen schlechter erinnert würden als emotional neutrale.

Der Bericht der psychotherapeutischen Klinik aus 2021 spreche dafür, dass es im Rahmen der Therapien zu einer weiteren Ausgestaltung gekommen sei. Aktuell schildere sie Erinnerungen an Ereignisse der frühen Kindheit, im Alter von drei bis acht Jahren, wobei die Klägerin angeblich sogar die wörtliche Rede der Beteiligten, die Beleuchtung, die Fertigstellung des Raumes und die Art der Speisen und Getränke erinnere. Nach den Ergebnissen der Gedächtnisforschung seien dergleichen Gedächtnisleistungen als äußerst unwahrscheinlich einzustufen, vielmehr handele es sich um assoziative Erinnerungen.

Über sogenannte Wiedererlangung von Erinnerungen bestehe eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur. Danach sei ein solches Wiedererlangen insbesondere für traumatische Ereignisse empirisch nicht belegt. Es existierten prospektive Studien, keine einzige habe beobachten können, dass traumatische Erlebnisse „vergessen“ und zum späteren Zeitpunkt wieder erinnert würden. Bemerkenswert sei, dass die „Erschaffung“ multipler Persönlichkeiten als Phänomen von Scheinerinnerungen bewertet werde.

2- bis 3-jährige könnten über sofort Erlebtes berichten, daneben bestehe wissenschaftlicher Konsens, dass die Fähigkeit, länger zurückliegende biographische Erinnerungen willentlich abzurufen, erst ab dem 5. oder 6. Lebensjahr einsetze. Dies sei wiederum interindividuell variabel. Neuropsychologisch sei die Fähigkeit, willentlich zu erinnern, an die Entwicklung des präfontalen Kortex gebunden, dessen Reifung nochmals wesentlich später einsetze und zu einem Meta-Gedächtnis führe, nämlich einer Erinnerung, aus welcher Quelle die Gedächtnisinhalte stammten, das erst ab der Pubertät regelrecht funktioniere.

Die Frage, ob die geschilderten Ereignisse mit begründbarer Wahrscheinlichkeit als realistisch zu erachten seien, könne er nicht beantworten.

Diagnostisch liege nach DSM-V eine neurokognitive Störung mittelschwerer Ausprägung vor. Eine PTBS sei deshalb nahezu ausgeschlossen, weil kein Vermeidungsverhalten bestanden habe und kein für die Diagnose einer PTBS wesentliches Symptom. Denkbar sei zwar, dass früher eine PTBS bestanden habe, jedoch ließen sich der Akte keine Brückensymptome und auch keine Befunde entnehmen, die die Diagnose einer PTBS belegten. Die beschriebenen Störungen der Impulskontrolle und die selbstschädigenden Handlungen trügen nicht zu der Diagnose der PTBS bei.

Rückblickend seien die Eingangskriterien für Persönlichkeitsstörungen nicht erfüllt. Die Entwicklung in Kindheit und Jugend sei ungestört verlaufen. Die Klägerin sei sozial aktiv gewesen, habe über einen Freundeskreis verfügt, habe das Abitur erreicht und eine Berufsausbildung abgeschlossen. Es werde eine normale sexuelle und partnerschaftliche Entwicklung berichtet. Um eine Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren müsse jedoch spätestens in der Adoleszenz eine sämtliche Lebensbereiche betreffende und überdauernde abnorme Erlebens- und Verhaltensweise vorliegen, die zu beträchtlichen zwischenmenschlichen Konflikten eben in recht unterschiedlichen Lebenssituationen führe. Ob zeitweilig eine Substanzkonsumstörung vorgelegen habe, lasse sich der Akte nicht eindeutig entnehmen.

Die diagnostischen Kriterien für eine dissoziative Identitätsstörung seien auf Befundebene nicht erfüllt. Bei der psychiatrischen Untersuchung habe sich über die neurokognitive Störung hinaus keine psychopathologisch bedingte Funktionsstörung ergeben. Sämtliche körperliche Auffälligkeiten wie Bluthochdruck, Adipositas, leichte Ataxie und leichte neurokognitive Störungen seien durch organische Faktoren bedingt und kämen als Symptome kindlicher Missbrauchserlebnisse nicht in Betracht. Da bei der Klägerin keine Gesundheitsstörung vorliege, die als Folge sexueller Missbrauchserlebnisse in Betracht kommt, sei ein aussagepsychologisches Gutachten entbehrlich.

Im Laufe der Zeit bildeten die meisten Menschen Narrative über ihr Leben aus, mit denen sie sich selbst und anderen erklärten, warum ihr Leben so und nicht anders verlaufen sei. Die Aufklärung des Realitätsgehalts des persönlichen Narrativs der Klägerin erscheine hier ohne Konsequenz. Die Ausbildung des hier geschilderten konkreten Narrativ sei offensichtlich bei der Klägerin durch fehlgeleitete Therapien gefördert worden. Der Klägerin könne nicht unterstellt werden, die Geschehnisse absichtlich konstruiert zu haben. Befragt nach den subjektiven Zielen des Rechtsstreits habe die Klägerin mitgeteilt, eine Bestätigung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben erreichen zu wollen. Als Verhaltensauffälligkeit sei daher von einer sogenannten Rentenneurose auszugehen. Ein GdS seitens des psychiatrischen Fachgebiets sei nicht zu benennen und zeitlich nicht zu staffeln.

Das Sachverständigengutachten ist am 12./13. Februar 2024 an die Beteiligten übersandt, gleichzeitig ist der Bevollmächtigten der Klägerin Akteneinsicht gewährt worden (Eingang der Papierakten am 22. Februar 2024).

Zu dem Sachverständigengutachten hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 15. April 2024 geltend gemacht, dass der Sachverständige kein Aussagepsychologe sei und selbst ausführe, kein aussagepsychologisches Gutachten erstellen zu können. Trotzdem lege er dar, dass sich bei der Klägerin Einschränkungen durch eine mittelschwer ausgeprägte neurokognitive Störung zeigten. Diese Diagnose gründe er auf den Nachweis wesentlicher kognitiver Beeinträchtigungen in verschiedenen Domänen, wobei diese Beeinträchtigungen nicht nur vorübergehend und nicht auf gegenwärtigen Substanzkonsum zurückzuführen seien. Ebenfalls seien sie nicht Symptom einer anderen psychischen Erkrankung.

An welcher Stelle der Sachverständige andere psychische Erkrankungen geprüft habe, die dieses Ergebnis rechtfertigten, sei nicht ersichtlich. Der Rückschluss, dass die Klägerin über ihre Biographie und insbesondere über die sexuellen Übergriffe spontan, ausführlich und detailreich berichtet habe und sich dabei keine Hinweise für eine Traumafolgestörung ergeben hätten, sei nicht nachvollziehbar.

Nach der Leitlinie PTBS sei für eine Gesamtdiagnostik nicht nur auf das Explorationsgespräch abzustellen, sondern darüber hinaus unter anderem auf die Aus- und Nachwirkungen des Traumas auf die aktuelle Lebenssituation, komorbide Symptome und Beeinträchtigungen der Aktivität und Teilhabe sowie die allgemeine Lebenssituation. Dies fehle im Gutachten völlig.

Es werde nicht in die Betrachtung einbezogen, dass unter „Beschwerden“ angegeben worden sei, dass sie von Träumen berichte, in denen sie ihren Mann schlage, in der Annahme, er sei ein Aggressor. Sie berichte von Ängsten, die mit Herzrasen und Schweißausbrüchen einhergingen. Ferner leide sie an einer Essstörung, Erinnerungs-Flashbacks, Konzentrationsstörungen und Dissoziationen. In der Vergangenheit habe es Alkoholmissbrauch und Drogenkonsum gegeben.

Ausgeschlossen habe der Sachverständige dann, dass die bestehenden testpsychologisch festgestellten kognitiven Defizite Ausdruck negativer Antwortverzerrung seien, was durch leistungsvalidierende Verfahren erfolgt sei. Auf welches Testergebnis er sich beziehe, sei nicht ersichtlich. Das Ergebnis des Selbstbeschreibungsfragebogens sei anhand einer Validierungsskala abgelesen worden, es sei somit keine Bewertung durch den Sachverständigen erfolgt. Nach einer Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen genüge dieser Test mit seiner mathematisch-schablonenhaften Auswertung nicht den wissenschaftlichen Anforderungen. Die Feststellung wesentlicher kognitiver Defizite entnehme der Sachverständige den Ergebnissen eines Tests zum Arbeitsgedächtnis. Als Ursache benenne er eine 2015 festgestellte Veränderung des Hirngewebes. Dass der Schaden fortgeschritten sei, sei nur eine Befürchtung, aber keine belastbare Erkenntnis.

Als Folge der Missbrauchserlebnisse ordne der Sachverständige die damaligen Feststellungen nicht ein, ein entsprechender Zusammenhang sei von der Klägerin auch nicht vorgetragen worden. Die dann benannten Inkonsistenzen seien nicht nachvollziehbar, der Sachverständige benenne nicht konkret, worin diese bestehen sollten. Zu den Angaben gegenüber R2 ergäben sich keine Abweichungen. Die Differenzen in den Daten seien nicht relevant.

Der Sachverständige benenne zwar eine neurokognitive Störung nach DSM V, kodiere sie aber nicht, was nach ständiger Rechtsprechung jedoch erforderlich sei. Eine PTBS sehe der Sachverständige nicht, er beziehe sich erneut fehlerhaft ausschließlich auf die Exploration, die selbstschädigenden Handlungen und den Drogenkonsum sehe er entgegen einer Vielzahl wissenschaftlicher Studien auch der Leitlinie PBTS nicht als von der PTBS umfasst, sondern als Störung der Impulskontrolle. In der Leitlinie werde hingegen ausgeführt, dass bei den meisten Patienten mit PTBS weitere psychische Symptome vorlägen.

S2 bezeichne das Sachverständigengutachten der R2 als unschlüssig, weil er fehlerhaft ausschließlich auf die Begutachtungssituation abstelle, in der keine Symptome einer PTBS aufgetreten seien. Dass ein Patient mit PBTS in jeder Sekunde seines Lebens die Symptome aufweisen müsse, sei wissenschaftlich nicht haltbar. Wenn der Sachverständige ausführe, dass das Sachverständigengutachten der R2 keine Ausführungen zum Ursachenzusammenhang enthalte, verkenne er die Rechtsprechung des BSG. Danach verdichte sich die Möglichkeit zu einer bestärkten Wahrscheinlichkeit, wenn Tatsachen vorlägen, die nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit bzw. nach den medizinischen Erkenntnissen geeignet seien, einen Ursachenzusammenhang zwischen einem belastenden Ereignis und dem Auftreten einer psychischen Erkrankung zu begründen. Dies sei anzunehmen, wenn eine in den Anhaltspunkten aufgeführte seelische Erkrankung im Anschluss an den Übergriff auftrete. Die Ausführungen in Ziffer 71 der Anhaltspunkte hätten weiterhin Gültigkeit und Zweifel am Ursachenzusammenhang seien nach der Rechtsprechung nicht mehr zu diskutieren, wenn der Sachverhalt zu einer Fallgruppe gehöre, die dort als anerkennungspflichtig geregelt sei.

Ein Ursachenzusammenhang sei daher vorliegend nicht mehr zu diskutieren gewesen. Einvernehmen dürfte bestehen, dass die Diagnostik psychischer Erkrankungen zum überwiegenden Teil durch Selbst- und Fremdbeschreibung erfolge. Diese Beschreibungen würden zum Befund, wenn sie glaubhaft seien. Insofern hätten R2 wie auch B7 eine PTBS diagnostiziert. Die Sachverständige R2 habe entsprechend der Beweisanordnung des SG die ihr mitgeteilten Anknüpfungstatsachen ihrer sachverständigen Bewertung zu Grunde gelegt. Der schulische und berufliche Werdegang sei mit den erlittenen Straftaten durchaus in Einklang zu bringen. Hier sei zu berücksichtigen, dass sie erst 2011 durch die Tat des Ehemanns von den Missbrauchshandlungen überflutet worden sei. Die schulische und berufliche Laufbahn sowie die ehrenamtlichen Aktivitäten stünden den erlittenen Straftaten somit nicht entgegen.
Bezüglich des am 19. Februar 2024 gestellten Antrags auf Prozesskostenhilfe ist die Klägerin zunächst darauf hingewiesen worden, dass die vorgelegten Unterlagen unleserlich sind. Die am 7. März 2024 vorgelegte Erklärung war wiederum unvollständig, der Senat hat die Klägerin mit Verfügung vom 20. März 2024 darauf hingewiesen, dass die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vollständig auszufüllen ist und die Nachweise nur dazu dienen, die Angaben in der Erklärung zu belegen. Zur Vorlage ist eine Frist bis 11. April 2024 gesetzt worden. Am 10. April 2024 hat die Klägerin das Formular erneut vorgelegt und mitgeteilt, dass eine Rechtsschutzversicherung bestehe, die aber nicht eintrittspflichtig sei, die Unterlagen würden nachgereicht. Am 15. April 2024 sind weitere Unterlagen eingereicht worden, indessen keine der Rechtsschutzversicherung. Den Antrag hat der Senat mit Beschluss vom 8. Mai 2024 wegen des Nichtvorliegens der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse abgelehnt.

Mit Verfügung vom 27. März 2023 (zugestellt am gleichen Tag) hat der Senat Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt. Am 10. April 2024 ist ein Antrag nach § 109 SGG angekündigt, am 16. April 2024 F1 als Sachverständiger benannt worden. Der Sachverständige sei in der Lage, die Exploration im November 2024 durchzuführen. Eine frühere Begutachtung habe nicht erreicht werden können, M2 habe auf eine entsprechende Anfrage nicht reagiert.

Die Klägerin ist in der mündlichen Senatsverhandlung gehört worden.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe


Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) eingelegte Berufung des Beklagten ist statthaft (§§ 143144 SGG), auch im Übrigen zulässig und begründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 10. Februar 2021, mit dem der Beklagte auf die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) der Klägerin unter Aufhebung des Bescheides vom 18. August 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Mai 2017 (§ 95 SGG) zur Gewährung von Beschädigtenversorgung für die Zeit vom 1. März 2016 bis zum 30. Dezember 2017 nach einem GdS von 80 und ab dem 1. Januar 2018 nach einem GdS von 50 verurteilt worden ist.

Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Kommentar zum SGG, 14. Aufl. 2023, § 54 Rz. 34).

Nachdem nach § 4 Abs. 2 OEG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder und des Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetzes vom 15. April 2020 (BGBl. I S. 812) für die Entschädigung ab dem 1. Juli 2020 dasjenige Land zuständig ist, in dem die berechtigte Person ihren Wohnsitz hat, hat das SG infolge des somit kraft Gesetzes eingetretenen Beteiligtenwechsel das Passivrubrum von Amts wegen zutreffend berichtigt (vgl. BSG, Urteil vom 18. November 2015 – B 9 V 1/15 R –, juris, Rz. 14) und als neuen Beklagten das Land Baden-Württemberg aufgenommen. Der (neue) Beklagte muss sich dabei das Handeln seines Vorgängers zurechnen lassen (vgl. BSG, a. a. O.).

Die Begründetheit der Berufung folgt jedoch nicht bereits daraus, dass, wie der Beklagte meint, das SG im Urteilstenor keine anzuerkennenden Schädigungsfolgen festgestellt hat und es sich deswegen um eine unzulässige Elementenfeststellung handele. Die Klägerin hat eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 und 4 SGG auf die Gewährung von Beschädigtenversorgung erhoben (vgl. oben) und das SG hat den Beklagten entsprechend dieses Klageantrags verurteilt. Die isolierte Feststellung von Schädigungsfolgen nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG ist somit gerade nicht beantragt worden. Entgegen der Ansicht des Beklagten ist im Rahmen der von der Klägerin erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage die (inzidente) Feststellung von Schädigungsfolgen nicht erforderlich; es handelt sich demnach nicht um eine unzulässige Elementenfeststellung. Ausreichend ist, wenn sich die maßgeblichen Schädigungsfolgen, wegen denen der Anspruch auf Beschädigtenversorgung bestehen soll, aus den Entscheidungsgründen ergeben.

Die Begründetheit der Berufung folgt jedoch aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 18. August 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Mai 2017, durch den der Beklagte einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung auf deren Antrag vom 23. März 2016 abgelehnt hat, ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Das SG hat demnach den Beklagten zu Unrecht durch Urteil vom 10. Februar 2021 unter Aufhebung des vorgenannten Bescheides verurteilt, der Klägerin Beschädigtenversorgung zu gewähren.

Der Senat hat sich nach Auswertung der aktenkundlichen Unterlagen, die er im Wege des Urkundsbeweises verwertet (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]), sowie der eingeholten Sachverständigengutachten nicht davon überzeugen können, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen ihre Person durch ihren Vater K1, B3 oder H1 im Zeitraum von ihrem 2. bis zu ihrem 17. Lebensjahr geworden ist.

Materiell-rechtlich sind die Vorschriften des BVG in seiner bis 31. Dezember 2023 geltenden Fassung anzuwenden. Gemäß § 142 Abs. 1 Satz 1 Vierzehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XIV) in der ab 1. Januar 2024 geltenden Fassung erhalten Personen, deren Ansprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach einem Gesetz, das das Bundesversorgungsgesetz ganz oder teilweise für anwendbar erklärt, in der bis zum 31. Dezember 2023 geltenden Fassung bis zum 31. Dezember 2023 bestandskräftig festgestellt sind, diese Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach dem Gesetz, das das Bundesversorgungsgesetz für anwendbar erklärt, in der am 31. Dezember 2023 geltenden Fassung weiter, soweit dieses Kapitel nichts anderes bestimmt. Über einen bis zum 31. Dezember 2023 gestellten und nicht bestandskräftig entschiedenen Antrag auf Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach einem Gesetz, das das Bundesversorgungsgesetz ganz oder teilweise für anwendbar erklärt, ist nach dem im Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht zu entscheiden, § 142 Abs. 2 Satz 1 SGB XIV. Wird hierbei ein Anspruch auf Leistungen festgestellt, werden ebenfalls Leistungen nach Absatz 1 erbracht, § 142 Abs. 2 Satz 2 SGB XIV.


Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i. V. m. § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS – bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit <MdE> bezeichnet – nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VS 413/13 –, juris, Rz. 42; Dau, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 31 BVG, Rz. 2).

Für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG sind folgende rechtlichen Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 <208 ff.>):

Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. In Altfällen, also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und dem Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 (BGBl I S. 1181), müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG i. V. m. § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in diesem Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Eine Schwerbeschädigung liegt nach § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn ein GdS von mindestens 50 festgestellt ist.

Nach der Rechtsprechung des BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffes hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz. 23 ff.).
In Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Sinne von § 176 und § 176a StGB hat das BSG den Begriff des tätlichen Angriffes noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Es ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also eine sexuelle Handlung, eine Straftat war (vgl. BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 17, Rz. 28 m. w. N.). Auch der „gewaltlose“ sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sein (vgl. BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 4/93 –, BSGE 77, 7, <8 f.> und – 9 RVg 7/93 –, BSGE 77, 11 <13>). Diese erweiternde Auslegung des Begriffes des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten.

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R –, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O.).

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

Bei dem „Glaubhafterscheinen“ im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8.
August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3 3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15). Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend – seit Juli 2004 – den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (Teil C, Nrn. 1 bis 3 der Anlage zu § 2 VersMedV; vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 17).

Nach diesen Maßstäben besteht zur Überzeugung des Senats ausgehend vom Beweismaßstab der Glaubhaftmachung bereits aus tatsächlichen Gründen nicht mehr als eine entfernte Möglichkeit, dass sich die behaupteten Ereignisse so zugetragen haben, wie von der Klägerin behauptet. Vom Beweismaßstab der Glaubhaftmachung hat der Senat auszugehen, da keine Zeugen vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 15. Dezember 2016 – B 9 V 3/15 R – SozR 4-300 § 1 Nr. 23, Rz. 30). Abgesehen davon, dass die vermeintlichen Täter keine Zeugen in diesem Sinne wären, sind diese bereits verstorben bzw. schon gar nicht ermittelbar gewesen.

Es ist gänzlich fernliegend, dass die Klägerin bereits ab dem Kleinkindalter von bis zu drei erwachsenen Männern sowohl anal als auch vaginal vergewaltigt worden sein soll, ohne dass es zu körperlichen, behandlungsbedürftigen Verletzungen oder psychischen Auffälligkeiten gekommen ist. Entsprechende ärztliche Befunde existieren nicht, wären aber zu erwarten, wenn die Klägerin wie von ihr behauptet über einen so langen Zeitraum in der angegebenen Regelmäßigkeit und Häufigkeit missbraucht worden wäre. Dies ist aus medizinischer Sicht durch den Sachverständigen S2 bestätigt worden, der ebenfalls dargelegt hat, dass die geschilderten Missbrauchshandlungen ohne jegliche Anhaltspunkte für körperliche und/oder psychische Beeinträchtigungen hieraus unwahrscheinlich sind. Gegenüber dem Sachverständigen hat die Klägerin erneut bestätigt, ein weitgehend unbeeinträchtigtes Sexualleben mit noch immer erhaltenem Begehren führen zu können, ein solches ist seit der Pubertät beschrieben. Das spricht ebenfalls gegen dauerhafte Schäden durch die behaupteten analen, nunmehr auch vaginalen Vergewaltigungen eines Kindes, bereits im Kleinkindalter, die aber zu erwarten wären.

Wenn die Klägerin behauptet, von ihrem Vater gewürgt und gefesselt worden zu sein, erschließt sich nicht, weshalb die Mutter keine Spuren dieser Misshandlungen bemerkt hat, die deutlich sichtbar gewesen sein müssten. Dies gilt weiter dafür, dass die Klägerin im erstinstanzlichen Termin beschrieben hat, dass sie nach den Vergewaltigungen geblutet habe und ihre Unterhosen verblutet gewesen seien. Eine Erklärung dafür, weshalb die Mutter nichts mitbekommen habe, konnte die Klägerin nicht angegeben.

Nachdem die Klägerin gegenüber dem Sachverständigen S2 bekundet hat, seit ihrem zweiten Lebensjahr den Kindergarten und anschließend die Grundschule besucht zu haben, hätten den Erziehern und Lehrern die Misshandlungsspuren auffallen müssen, was aber nicht geschehen ist. Daneben ist in tatsächlicher Hinsicht belegt, dass die Klägerin die Schullaufbahn ohne Auffälligkeiten absolviert und das Abitur mit einer Durchschnittsnote von 2,3 abgelegt hat. Ebenso hat sie ihre Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin erfolgreich absolviert. Dass sich Misshandlungen in der von der Klägerin angegeben Art und Häufigkeit nicht auf das schulische Leistungsvermögen auswirken sollen, ist nicht nachvollziehbar. Insofern sind die Einwände der klägerischen Bevollmächtigten, dass sich die Klägerin ja erst 2011 an die Taten erinnert habe, so dass sie damals keine Folgen für das Leistungsvermögen verursacht haben könnten, mehr als fernliegend. Denn die Klägerin hat sich gerade in der von ihr geschilderten Phase des aktiven Missbrauchs befunden. Das ist aus medizinischer Sicht von S2 bestätigt worden, der dies aus fachlicher Sicht noch mit dem Hinweis untermauert hat, dass die berufliche Tätigkeit mit behinderten Männern ebenfalls hätte beeinträchtigt sein müssen, wenn die Klägerin durch drei erwachsene Männer über Jahre hinweg missbraucht worden wäre. Auch hierfür bestehen aber gerade keine Anhaltspunkte.

Daneben ist die Klägerin nach ihren eigenen Angaben gegenüber den Sachverständigen sozial engagiert gewesen und unter anderem Tätigkeiten in der Kinder- und Jugendarbeit nachgegangen. Der Sachverständige bewertet das schlüssig damit, dass sie die Jugend, also den Zeitraum der zeitgleich angeschuldigten Taten, ohne Auffälligkeiten bewältigen konnte. Ihr Vorbringen, dass sie diesen Unternehmungen auch deshalb nachgegangen ist, damit sie mit ihrem Vater nicht auf dessen Reisen habe gehen müssen, überzeugt nicht. Es ist widersprüchlich, wenn der Vater sie einerseits massiv mittels einer Waffe/Scheinwaffe oder der Drohung mit der Schädigung ihrer Mutter dazu gezwungen haben soll, mit ihm mitzufahren, es andererseits aber geduldet haben soll, dass sie sozialen Aktivitäten nachgeht, anstatt ihn zu begleiten. Daneben hat die Klägerin der Sachverständigen R2 davon berichtet, dass sie körperlich aktiv gewesen ist, Badminton und Tischtennis gespielt hat, Joggen gegangen ist und Krafttraining ausgeübt hat. Körperliche Einschränkungen, wie sie aufgrund der geschilderten Gewalterfahrungen zu erwarten stünden, bestanden damit offensichtlich keine.

Ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung scheidet daher schon deshalb aus, weil das schädigende Ereignis aus tatsächlichen Gründen nicht glaubhaft gemacht ist.

Daneben hat S2 aus medizinischer Sicht für den Senat überzeugend herausgearbeitet, dass bei der Klägerin keine Gesundheitsstörungen bestehen, die dem beschriebenen Missbrauchserleben zugeschrieben werden können. Das ist schon vor dem Hintergrund schlüssig, dass sich bei seiner mehrstündigen Begutachtung ein weitgehend normaler psychischer Befund zeigte. Er hat die Klägerin vielmehr als bewusstseinsklar und allseits orientiert ohne formale oder inhaltliche Denkstörungen gekennzeichnet, sogar die Stimmungslage war ausgeglichen bei regelrechtem affektiven Schwingungsvermögen. Seine Annahme, dass für eine Persönlichkeitsstörung daher keine hinreichenden Befunde bestehen, erweist sich daher als schlüssig.

Er hat weiter aufgezeigt, dass der bei der Klägerin allein bestehende pathologische Befund in Form einer mittelschwer ausgeprägten kognitiven Störung mit der Folge der Einschränkung des biographischen Gedächtnisses auf organischen Ursachen beruht, die bereits 2015 in der Fachklinik für Neurologie D1, ganz offenbar angesichts des langjährigen, unbestrittenen Drogenkonsums, im MRT gesichert werden konnten, und deshalb in keinem Zusammenhang zu den vermeintlichen schädigenden Ereignissen stehen.

Insbesondere hat er schlüssig das Bestehen einer PTBS ausgeschlossen, nachdem er bei seiner klinischen Untersuchung keinerlei Symptome objektivieren konnte, um eine entsprechende Diagnose stellen zu können. Diese Schlussfolgerungen begründet er überzeugend damit, dass die Klägerin ohne Beeinträchtigungen von den vermeintlichen Missbrauchserlebnissen berichten konnte, es also an jeglichem Vermeidungsverhalten fehlt. Die Schlussfolgerungen werden durch den von ihm erhobenen psychischen Befund gestützt. Danach nahm die Klägerin ungezwungen Kontakt auf und berichtete von sich aus ausführlich über ihr Leben und die angeschuldigten Taten. Der Vortrag war von lebhafter Gestik begleitet, das Diktat wurde aufmerksam verfolgt. Bei ungestörtem Antrieb bestanden keine Zeichen einer vorzeitigen Erschöpfung, Konzentration und Merkfähigkeit waren regelrecht. Die Stimmungslage der Klägerin hat S2 als ausgeglichen befundet, das affektive Schwingungsvermögen als regelrecht.

Der Sachverständige ist damit seiner wesentlichen Aufgabe nachgekommen, das Verhalten der Klägerin aus fachlicher Sicht im Hinblick auf die entsprechenden Symptome zu bewerten. An diesem medizinischen Befund ändert es nichts, dass die Klägerin ihm beschrieben hat, nachts unter Alpträumen zu leiden und aufgrund dieser Träume auch schon ihren Ehemann für einen Aggressor gehalten zu haben.

Weiter hat der Sachverständige nachvollziehbar dargelegt, dass weder die Angaben der Klägerin in der nichtöffentlichen Sitzung des SG noch diejenigen gegenüber der Sachverständigen R2 die Annahme einer PTBS oder einer sonstigen Traumafolgestörung rechtfertigen. Er hat aus fachlicher Sicht aufgezeigt, dass die Wiedergabe des Ereignisses gänzlich unbeeinträchtigt gewesen ist. Brückensymptome oder sonstige Befunde, die eine PTBS in der Vergangenheit belegen würden, hat er ebenfalls verneint. Aus seinen Ausführungen wird weiter deutlich, dass er zwischen den Beschwerdeangaben der Klägerin und seiner sachverständigen Bewertung des psychischen Befundes differenziert und diese Differenzierung in dem Sachverständigengutachten der R2 – zu Unrecht – unterbleibt. Er verneint vor diesem Hintergrund konsequent die Schlüssigkeit des Vorgutachtens und weist zu Recht darauf hin, dass die Einschätzung des GdS offensichtlich nur aus den gestellten Diagnosen hergeleitet worden ist.

Wenn die Klägerin meint, der Sachverständige habe sich nicht auf seine Befundung stützen dürfen, sondern andere Faktoren einbeziehen müssen, gehen diese Ausführungen fehl. Anders als sie glauben machen will, genügt es zur Diagnosestellung gerade nicht, nur das Beschwerdevorbringen zu Grunde zu legen, sondern die zentrale Aufgabe des Sachverständigen ist es die Symptome aus ärztlicher Sicht zu erheben, zu bewerten und diagnostisch einzuordnen. Das unterscheidet das forensische Gutachten substantiell von einem therapeutischen Bericht, nämlich den Vortrag kritisch zu hinterfragen und einzuordnen. Im Hinblick auf die von S2 im Einzelnen noch mal aufgezeigten Symptome der PTBS ist es auch unumgänglich, dass dieser die Angaben der Klägerin zu den vermeintlichen Ereignissen selbst erhebt. Wie er ansonsten in der Lage sein soll, die affektive Beteiligung und Zeichen eines Vermeidungsverhaltens oder Intrusionen in Bezug auf das Ereignis festzustellen, legt die Klägerin nicht dar. Eine unzulässige Tatsachenerhebung durch den Sachverständigen liegt hierin, entgegen der Auffassung der Klägerin, nicht. Dies ändert nichts daran, dass die Anknüpfungstatsachen im Rahmen der Beweiswürdigung der gerichtlichen Überprüfung unterliegen und diese letztlich auf Schlüssigkeit zu prüfen sind.

Ebenso geht es fehl, wenn die Klägerin meint, dass der Kausalzusammenhang nicht mehr zu prüfen gewesen sein sollte. Das ist schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil der tatsächliche Sachverhalt, auf den der Versorgungsanspruch gestützt wird, im maßgeblichen Beweismaßstab festzustellen ist (vgl. oben) und die Schädigungsfolgen (und die denen zugrunde liegenden Diagnosen), auf die die Einschätzung des GdS zu stützen ist, nicht feststehen, sondern der Prüfung bedürfen. In letzter Konsequenz das klägerische Anliegen zu Ende gedacht, bedürfte es dann keines komplizierten Anerkennungsverfahrens und keiner gerichtlichen Prüfung, der bloße Antrag mit Arztberichten wäre im OEG ausreichend.

S2 hat aus fachlicher Sicht weiter aufgezeigt, dass nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand Gedächtnisinhalte erst ab dem fünften Lebensjahr aktiv abgerufen werden können, sodass es nicht überzeugen kann, wenn die Klägerin Erinnerungen an vermeintliche Vorgänge im dritten Lebensjahr beschreibt. Weiter hat er überzeugend herausgearbeitet, dass das Detailreichtum der Schilderungen der Klägerin ungewöhnlich ist und nicht für tatsächlich Erlebtes spricht. Er führt hierzu aus, dass belastende Ereignisse zwar gut erinnert werden, dies aber nicht die Kontextfaktoren betrifft, die von der Klägerin aber gerade ausführlich geschildert werden. Als Beispiel benennt er insoweit detaillierte Angaben der Klägerin zur Ausstattung der Küche und sieht deshalb schlüssig Anhaltspunkte für eine Ausgestaltung des Ereignisses. Insoweit führt er aus, dass dieser von ihm erhobene klinische Befund durch die Ergebnisse der Validierungsverfahren gestützt wird. Es trifft demnach nicht zu, wie die Klägerin meint und insoweit auf die Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen vom 2. September 2022 – L 2 R 235/21 (BeckRS 2022, 31060) verweist, dass der Sachverständige allein aus den Ergebnissen der Validierungsverfahren Schlüsse gezogen hätte. Es wird vielmehr deutlich, dass er die Ergebnisse in einen Kontext gestellt und damit eben nicht nur eine rein rechnerische-mathematische Auswertung von Testverfahren vorgenommen hat, wie sie glauben machen will.

Lediglich ergänzend ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass sich in der Untersuchungssituation die im Vorfeld von der Klägerin getätigte Behauptung, dass sie gegenüber einem männlichen Untersucher keine Angaben machen könne, nicht bestätigt hat. Das wird durch das Gutachten mit vielen anamnestischen Details, die nur von der Klägerin stammen können, selbst belegt. Vielmehr konnte S2 keinerlei Einschränkungen erkennen. Die Klägerin selbst hat ihm gegenüber angegeben, keine Probleme damit zu haben, ihm gegenüber Angaben zu ihrer Sexualität zu machen und hat dies auch getan. Schlüssig hat der Sachverständige im Übrigen ausgeführt, dass es empirisch nicht belegt ist, dass die Untersuchungsergebnisse davon abhängig sind, ob die Begutachtung durch einen Mann oder durch eine Frau stattfindet.

Seine Ausführungen zu dem nicht erlebnisbasierten Vorbringen untermauert er mit dem Hinweis, dass die bei der Klägerin bereits 2015 im MRT nachgewiesenen Veränderungen im Gehirn zu einer Störung der Hirnfunktion führen, wodurch einerseits das Entstehen von Scheinerinnerungen begünstigt und andererseits die Fähigkeit beeinträchtigt wird, biographische Erinnerungen korrekt wiederzugeben. Die Bewertung des MRT mit den sichtbaren Veränderungen im Gehirn und den hieraus zu erwartenden Auswirkungen fällt in das neurologische Fachgebiet und kann daher von S2, anders als die Klägerin meint, bewertet werden. Dass diese Veränderungen nicht mit den Missbrauchshandlungen in Verbindung stehen, ist bereits radiologisch ausgeschlossen worden. Dass er darauf hingewiesen hat, dass mit einem Fortschreiten der neurologischen Beeinträchtigungen zu rechnen ist, war für seine Begutachtung nicht entscheidungserheblich, da es sich gerade um keine Schädigungsfolge handelt. Einer weiteren Aufklärung bedurfte es deshalb, entgegen der Auffassung der Klägerin, nicht.

Ebenso hat der Sachverständige aus neurologischer Sicht dargelegt, dass Substanzkonsum – wie er bei der Klägerin mit dem seit dem 14. Lebensjahr angegeben Cannabismissbrauch und dem Konsum von Kokain in der Ausbildung belegt ist – die Gedächtnisfunktion ebenfalls beeinflussen kann. Entsprechendes gilt, so der Sachverständige weiter, für die Erschaffung multipler Persönlichkeiten – die Klägerin hat ihm gegenüber 30 bis 40 angegeben – was ebenfalls als Phänomen von Scheinerinnerungen gewertet wird.

Letztlich weist er darauf hin, dass es an nach wissenschaftlichen Erkenntnissen an empirischen Belegen für ein „Wiedererlangen“ von traumatischen Erlebnissen, wie es bei der Klägerin 2011 gerade aufgetreten sein soll, fehlt, sodass die Schilderungen auch deshalb nicht plausibel sind.

Das Sachverständigengutachten der R2, wonach die bei der Klägerin vorgebrachten Gesundheitsstörungen (PTBS, DIS und rezidivierende depressive Störung), deren Vorliegen schon gar nicht begründet wird, auf den vermeintlichen sexuellen Missbrauch zurückzuführen sein sollen, steht dem nicht entgegen. Denn R2 hat die diesbezüglichen Angaben der Klägerin nicht ansatzweise einer Konsistenzprüfung unterzogen, also mögliche Verzerrungen der Beschwerdeschilderung weder erfasst noch bedacht (vgl. S2), was ihre Aufgabe gewesen wäre, sondern vielmehr, allerdings dem Gutachtensauftrag entsprechend, als wahr unterstellt. Bereits deswegen ist das Gutachten für den Senat nicht schlüssig und überzeugend gewesen. Das von ihr erstellte Gutachten hatte der Senat im Rahmen seiner Beweiswürdigung zu berücksichtigen, einer ergänzenden Befragung der Sachverständigen bedurfte es nicht, das würde im Ergebnis zu einer wiederholenden Beweiserhebung führen, zu der der Senat nicht verpflichtet ist, der entsprechenden Beweisanregung, ob es sich um Pseudoerinnerungen handelt, war nicht nachzukommen. Einen ausdrücklichen Beweisantrag hat die anwaltlich vertretene Klägerin zuletzt ohnehin nicht gestellt.

Auch die Ausführungen der B8 als sachverständige Zeugin im Berufungsverfahren stehen dem nicht entgegen, zumal es an einer kritischen Würdigung der zuletzt von der Klägerin 2021 geäußerten rituellen Gewalt oder Reprogrammierung durch einen Kult vollständig fehlt. Demgegenüber gelang es S2, außerhalb eines therapeutischen Kontextes, in kurzer Zeit eine Arbeitsatmosphäre schaffen, wo eine spontane, ausführliche und detailreiche Schilderung der angeschuldigten Taten ohne irgendwelche Auffälligkeiten möglich war. Der Schluss der B7 vom Vorliegen einer DIS auf einen sexuellen Missbrauch ist nicht nachvollziehbar, zumal die Klägerin in der mündlichen Verhandlung dem Senat beschrieben hat, dass sie ihre Dissoziationen willentlich steuern kann. Grundsätzlich kann auf der Grundlage der herrschenden medizinischen Lehrmeinung aus dem Vorliegen bestimmter Gesundheitsstörungen nicht auf eine konkrete Ursache geschlossen werden (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 30. Januar 2020 – L 10 VE 63/16 –, juris, Rz. 24 m. w. N.). Aus den gleichen Gründen wie bei der Sachverständigen R2 bedurfte es einer erneuten Anhörung der sachverständigen Zeugin nicht, sie hat die Frage bereits beantwortet.

Dass der Sachverständige die neurokognitive Störung nicht nach der DSM-V oder einem anderen Diagnosesystem kodiert hat, ist entgegen der Darlegungen der Klägerin nicht entscheidungserheblich. Abgesehen davon, dass die Feststellung einer konkreten Schädigungsfolge, für die eine Kodierung nach einem anerkannten Diagnosesystem vorauszusetzen ist, schon gar nicht Streitgegenstand ist, gibt es keine Veranlassung, eine nicht schädigungsbedingte Gesundheitsstörung, die damit nicht entscheidungs- und bewertungsrelevant ist, nach einem Diagnosesystem zu kodieren. Das gilt vorliegend auch deshalb nicht, da keine differentialdiagnostischen Abgrenzungen erforderlich geworden sind.

Nachdem die Beschädigtenversorgung bereits aus tatsächlichen Gründen nicht beansprucht werden kann, wie oben dargelegt, kommt es auf die Aussagetüchtigkeit der Klägerin schon deshalb nicht an. Daneben hat S2 aber jedenfalls überzeugend dargelegt, dass sich die Frage der Aussagetüchtigkeit erst dann stellen kann, wenn überhaupt schädigungsbedingte Diagnosen zu stellen sind, was bei der Klägerin nicht der Fall ist. Weshalb das Vorgutachten nicht überzeugen kann, hat der Sachverständige ebenfalls darlegt (vgl. oben).

Den Antrag nach § 109 SGG hat der Senat als verspätet abgelehnt. Das Sachverständigengutachten des S2 ist den Beteiligten, der Bevollmächtigten der Klägerin nebst den Akten, bereits im Februar 2024 übersandt worden, mit weiteren Ermittlungen von Amts wegen ist nach dessen Ergebnis nicht zu rechnen gewesen, sodass die fachkundig beratene Klägerin hätte erkennen können und müssen, dass keine weitere Sachaufklärung von Amts wegen erfolgt. Ein Gutachten nach § 109 SGG hätte daher zeitnah beantragt werden müssen. Tatsächlich ist das aber erst am 15. April 2024 erfolgt, nachdem bereits mit am 27. März 2024 zugestellter Verfügung Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt worden ist. Eine grobe Nachlässigkeit liegt damit ebenso vor, wie eine Verzögerung des Rechtsstreits bei Zulassung der erneuten Begutachtung eintreten würde. Daneben wäre der Antrag aber auch deshalb abzulehnen, da kein präsentes Beweismittel benannt worden ist. Nach den eigenen Angaben der Klägerin kann der Sachverständige sie frühestens Ende November 2024 und damit erst in mehr als 7 Monaten begutachten. Die Fertigstellung des Gutachtens dürfte noch später zu erwarten stehen.


Auf die Berufung des Beklagten war deshalb das Urteil des SG vom 10. Februar 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.


 

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