L 13 R 85/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 6 R 1634/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 R 85/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 19. Dezember 2022 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Sozialgericht Ulm zurückverwiesen.


Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die im Jahr 1970 geborene Klägerin, die keine Berufsausbildung durchlaufen hat, war zuletzt von 2015 bis Januar 2019 in Teilzeit als Hauswirtschaftsgehilfin im Pflegeheim versicherungspflichtig beschäftigt. Seit November 2018 ist sie durchgängig arbeitsunfähig und bezog deswegen von der für sie zuständigen Krankenkasse bis zum 13. Januar 2020 Krankengeld.

Am 19. August 2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Sie gab hierzu an, wegen der bestehenden Lendenwirbelsäulenerkrankung träten bei längerem Stehen Schmerzen im Bereich des unteren Rückens auf, die sich (auch) in den Beinen zeigten. Auch beim Heben verstärkten sich die Schmerzen. Hierzu legte die Klägerin Arztbriefe und ärztliche Befundberichte vor.

Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung der Klägerin bei ihrer ärztlichen Untersuchungsstelle. L1, , diagnostizierte nach einer Untersuchung der Klägerin in ihrem Gutachten vom 7. November 2019 bei der Klägerin eine chronisch rezidivierende Lumboischialgie rechtsbetont nach Bandscheibenoperation 02/12, 02/14, 02/18 und 03/19 bei Bandscheibenvorfall L3/4, L4/5 mit chronischem Schmerz und Minderbelastbarkeit, chronisch rezidivierende Cervikocephalgien bei Halswirbelsäulenverschleiß und mehrtägigen Migräneanfällen mit Minderbelastbarkeit, ein Lymphödem mit Schwellneigung der Beine und Minderbelastbarkeit sowie Bluthochdruck (unauffällige Sauerstoffsättigung), Adipositas, einen Senk-Spreizfuß und eine Chondropathia patellae rechtsbetont. Eine Leistungseinschätzung gab L1 mit Blick auf eine indizierte Rehabilitationsmaßnahme nicht ab.

Eine solche durchlief die Klägerin sodann vom 30. Januar – 20. Februar 2020 in der
A1 Klinik, I1. Aus dieser ist sie unter den Diagnosen eines Bewegungs- und Belastungsdefizites der LWS bei Bandscheibenverlagerung, eines Zustandes nach (Z.n.) fünfmaliger Bandscheibenoperation, einer arteriellen Hypertonie und einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren als fähig entlassen worden, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes täglich sechs Stunden und mehr verrichten zu können (Entlassungsbericht vom 24. Februar 2020).

Mit Bescheid vom 25. März 2020 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin unter der Begründung, die medizinischen Voraussetzungen der begehrten Rente lägen nicht vor, ab. Sie führte hierzu aus, die Einschränkungen, die sich aus den vorliegenden Krankheiten ergäben, führten nicht zu einem Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, weil die Klägerin noch in der Lage sei, täglich sechs Stunden und mehr erwerbstätig sein zu können.

Hiergegen erhob die Klägerin unter dem 7. April 2020 Widerspruch, mit dem sie vorbrachte, sie sei infolge ihrer chronischen und massiven Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule keinesfalls mehr in der Lage, einer geregelten Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nachgehen zu können. Nach 4-facher Bandscheibenoperation, zuletzt im März 2019, bestünden weiterhin Schmerzen, welche sich auch durch die Rehabilitationsbehandlung nicht wesentlich gebessert hätten. Die Schmerzen seien bereits morgens stark und verschlimmerten sich unter Belastung, insb. bei langem Gehen, Stehen oder Sitzen, noch weiter. Sie nehme deswegen regelmäßig Schmerzmittel ein. Nach der durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme habe sich ihr Gesundheitszustand nochmals verschlechtert, es habe sich eine Schmerzsymptomatik in der rechten Schulter mit Ausstrahlung in den rechten Arm entwickelt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 2020 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Begründend führte sie aus, unter Berücksichtigung aller Gesundheitsstörungen und der sich daraus ergebenden funktionellen Einschränkungen seien keine Auswirkungen ersichtlich, die das Leistungsvermögen für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zeitlich einschränkten. Der Klägerin sei die Ausübung einer leichten Tätigkeit ohne Nachtschicht, zeitweise im Stehen, überwiegend im Gehen und Sitzen, ohne Zwangshaltungen, ohne häufige Überkopftätigkeiten und ohne besondere Belastung durch Kälte und Zugluft sechs Stunden täglich und mehr möglich.

Hiergegen hat die Klägerin am 24. Juni 2020 Klage beim Sozialgericht Ulm (SG) erhoben. Zu deren Begründung hat sie vorgetragen, durch die chronische Schmerzsymptomatik im Bereich der Lenden- und der Halswirbelsäule mit Cervikocephalgien und Migräne sowie den jetzt hinzugetretenen Problemen der rechten Schulter im Rahmen einer Tendinopathie/Arthrose sei sie nicht mehr in der Lage, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Hiervon gingen auch ihre behandelnden Ärzte und der MdK Baden- Württemberg aus. Trotz laufender Therapie sei sie bis heute nicht beschwerdefrei.

Die Beklagte ist der Klage unter Verweis auf den Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 2020 entgegengetreten

Das SG hat den behandelnden Orthopäden der Klägerin schriftlich als sachverständigen Zeugen einvernommen. In seiner Stellungnahme vom 11. Januar 2021 hat S1 mitgeteilt, die Klägerin seit Mai 2020 zu behandeln. Bei den Vorstellungen habe die Problematik im Bereich der rechten Schulter massiv im Vordergrund gestanden, weshalb lediglich Schultertherapiemaßnahmen rechts (Stoßwellentherapie) durchgeführt worden seien.

Das SG hat sodann B1, , zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens zur Leistungsfähigkeit der Klägerin beauftragt. In seinem fachorthopädischen Gutachten vom 3. März 2021 hat B1 bei der Klägerin eine chronische Cervicocephalgie und -brachialgie bei ausgeprägten bandscheibenbedingten degenerativen Veränderungen der HWS bei mäßigen muskulären Reizerscheinungen und mäßigen konzentrischen Bewegungseinschränkungen ohne neurologische Ausfälle mit einer Belastungsminderung; eine chronische Lumboischialgie rechts, 5-malige Bandscheibenoperationen ab 2012 (zuletzt 3/2019) in den Segmenten LWK3 bis SWK1, ohne neurologische Defizite, mit mäßigen muskulären Reizerscheinungen und deutlichem Bewegungsdefizit mit statomyalgischer Insuffizienz; deutliche Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule, führend der Lendenwirbelsäule; ein Impingementsyndrom des rechten Schultergelenks, aktuell mit mäßigen Bewegungseinschränkungen und Belastungsdefizit insb. für Überkopftätigkeiten; Hypertonie (medikamentös behandelt, ohne Folgeerkrankungen), ein Lymphödem beider Beine mit Spannungsbeschwerden und Minderbelastbarkeit sowie ein chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren diagnostiziert. Er hat die Einschätzung vertreten, dass die Klägerin in der Lage sei, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes bei Beachtung qualitativer Einschränkungen (im Wechselrhythmus zwischen Sitzen, Gehen und Stehen, kein Heben und Tragen von Lasten, keine Zwangshaltungen für den Rumpf und die Wirbelsäule, ohne Überkopftätigkeiten, Klettern und Steigen, ohne Tätigkeiten auf Leitern oder Gerüsten und/oder unter Absturzgefahr, ohne Tätigkeiten unter besonderem Zeitdruck, ohne Nacht- oder Wechselschicht, ohne Verrichtungen an laufenden Maschinen, ohne taktgebundene Arbeiten; Akkord, ohne Arbeiten unter ungünstigen Witterungsverhältnissen mit Einfluss von großen Temperaturschwankungen, Zugluft, Kälte und/oder Nässe, keine Arbeiten mit besonderer Anforderung an die nervliche Belastbarkeit, insb. an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen sowie an die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit) täglich sechs Stunden und mehr verrichten zu können.

Auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin hat das SG sodann R1, nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens zur Leistungsfähigkeit der Klägerin beauftragt. In seinem Gutachten vom 31. Juli 2021 hat R1 bei der Klägerin ein chronisch rezidivierendes Cervicalsyndrom mit massiver Funktionsstörung bei multisegmentalen degenerativen Veränderungen, chronisch rezidivierende Cervicocephalgien bei Halswirbelverschleiß mit mehrtägigen Migräneanfällen mit Minderbelastbarkeit, einen Z.n. intraforaminalem Bandscheibenvorfall HWK 4/5 rechts, einen Z.n. großem intraforaminal reichendem Bandscheibenvorfall HWK 5/6, einen Z.n. intraforaminal reichendem dorso-medialem Bandscheibenvorfall HWK 6/7, einen Z.n. rechtsbetontem bis intraforaminal reichendem Bandscheibenvorfall HWK7/BWK 1, ein chronisch rezidivierendes Lendenwirbelsäulensyndrom mit massiver Funktionsstörung und chronisch rezidivierenden intermittierenden Lumboischialgien rechts, einen Z.n. mehrfachen Lendenwirbelsäulen-Operationen, ein chronifiziertes Schmerzsyndrom und ein chronisches Impingement-Syndrom rechtes Schultergelenk mit Funktionsstörung diagnostiziert. Aufgrund der chronifizierten Schmerzsymptomatik, den ausgeprägten Funktionsstörungen im Hals- und Lendenwirbelsäulenbereich, den chronisch-rezidivierenden intermittierenden Lumboischialgien rechts, den immer wieder auftretenden Migräneanfällen, teilweise 2-3 Tage und aktuell einem Z.n. einer akuten Corona-Erkrankung in 02/2021 mit persistierender starker Atemnot sei die Klägerin nicht mehr in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einer Tätigkeit nachzugehen. Es bestehe nur noch ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden täglich. Die festgestellte Leistungseinschränkung bestehe seit Februar 2018.

Die Beklagte ist der gutachterlichen Einschätzung des R1 unter Vorlage einer sozialmedizinischen Stellungnahme von L2 vom 16. November 2021 entgegengetreten.

Am 19. Dezember 2022 hat das SG nach einer mündlichen Verhandlung, die für 12.15 Uhr terminiert gewesen ist, die Klage mit Urteil abgewiesen. Im Protokoll der mündlichen Verhandlung ist u.a. aufgeführt, dass die Klägerin (bzw. ein Vertreter) um 12.30 Uhr des Sitzungstages nicht erschienen sei. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt, der Bescheid vom 25. März 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Juni 2020 sei rechtmäßig und verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die begehrte Rente wegen Erwerbsminderung; sie sei trotz der bei ihr bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Die überwiegend auf orthopädischem Fachgebiet liegenden Gesundheitsstörungen führten nicht zu einer rentenbegründenden zeitlichen Einschränkung des Leistungsvermögens der Klägerin. Der gegenteiligen Einschätzung des R1 vermochte sich das SG nicht anzuschließen. Dieser habe zur Begründung seiner Einschätzung auf die chronifizierte Schmerzsymptomatik, die ausgeprägten Funktionsstörungen im Hals- und Lendenwirbelsäulenbereich, die chronisch- rezidivierenden intermittierenden Lumboischialgien rechts, die auftretenden Migräneanfälle und zudem aktuell auf einen Z.n. einer akuten Corona-Erkrankung in 02/2021 mit persistierender starker Atemnot hingewiesen. Nicht nachvollziehbar sei jedoch bereits, dass R1 von einer solchen zeitlichen Leistungsminderung bereits seit 2018 ausgehe, obschon L1 (Untersuchung am 23. Oktober 2019), die Ärzte der A1 Klinik (Aufenthalt vom 30. Januar – 20. Februar 2020) und der Vorgutachter B1 (Untersuchung am 2. März 2021) zeitnäher eine quantitative Leistungsreduzierung verneint hätten. R1 habe sich insoweit nicht mit den Vorgutachten und dem Reha-Entlassungsbericht auseinandergesetzt. Zudem habe R1 nicht dargelegt, weshalb den bestehenden Beeinträchtigungen nicht durch qualitative Einschränkungen an die zu verrichtende Tätigkeit begegnet werden könne. Vielmehr habe sich der Gutachter ohne Nennung der konkreten funktionellen Beeinträchtigungen auf eine zeitliche Leistungsminderung beschränkt. Auch habe er Migräneanfälle angeführt, obschon diese bislang weder behandelt noch diagnostiziert worden seien. Im Übrigen führten auch die angegebenen Migräneanfälle allenfalls zu Arbeitsunfähigkeitszeiten für zwei bis drei Tage und nicht jedoch zu einer dauerhaften zeitlichen Leistungsminderung. Gegen eine quantitative Leistungsreduzierung sprächen hingegen die Angaben der Klägerin gegenüber B1. So habe die Klägerin gegenüber diesem angegeben, zweimal täglich mit dem Hund spazieren zu gehen. Es, das SG, folge daher der Einschätzung des Sachverständigen B1. Dieser habe, anders als R1, unter Zugrundelegung der von ihm erhobenen Befunde zutreffend die sich aus den Gesundheitsstörungen ergebenden funktionellen Beeinträchtigungen ermittelt und widerspruchsfrei eine quantitative Leistungseinschränkung verneint. Er habe dargelegt, dass bei Beachtung der von ihm aufgeführten qualitativen Einschränkungen den funktionellen Beeinträchtigungen angemessen Rechnung getragen werden könne. Da die Klägerin zumindest noch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung der genannten qualitativen Einschränkungen sechs Stunden täglich ausüben könne, sei sie nicht erwerbsgemindert. Da der Klägerin auch keine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen sei, habe sie keinen Anspruch auf die begehrte Rente wegen Erwerbsminderung.

Unter dem 24. Dezember 2022 hat der zuständige Vorsitzende Richter des SG einen Vermerk des Inhalts zur Akte gereicht, dass die Klägervertreterin nach Ende (der mündlichen Verhandlung am 19. Dezember 2022) am Beratungszimmer angeklopft habe, nachdem sie von der Vertreterin der Beklagten erfahren habe, dass die Verhandlung bereits durchgeführt und das Urteil verkündet worden sei. Die Klägervertreterin habe mitgeteilt, dass sie sich mit der Klägerin seit 12.15 Uhr in der Nähe des Sitzungssaales aufgehalten habe. Sie seien nicht in den Saal gekommen, weil die Tür geschlossen gewesen sei. Einen Aufruf der Sache über den Lautsprecher hätten beide nicht wahrgenommen. Er, der Vorsitzende, habe hierauf mitgeteilt, dass nach Ende der davor stattgefundenen Verhandlung um ca. 12.30 Uhr über den Lautsprecher der Aufruf ihrer Sache erfolgt sei. Da die Klägervertreterin angekündigt habe, zum Termin zu erscheinen, sei er verwundert gewesen, dass diese nicht anwesend gewesen sei. Er habe sodann nochmals über den Lautsprecher die Sache aufgerufen und die Beklagtenvertreterin gebeten, persönlich nachzuschauen, ob jemand in dieser Sache warte. Diese sei zurückgekommen und habe mitgeteilt, dass ihres Erachtens niemand draußen sei. Die Türen des Sitzungssaals seien daraufhin offengelassen worden. Um ca. 12.40 Uhr seien sie dann geschlossen worden und die Verhandlung sei nach einem erneuten Aufruf der Sache per Lautsprecher begonnen worden. Später sei im Beisein der Klägervertreterin die Lautsprecheranlage getestet worden. Hierbei sei erst der dritte Test erfolgreich verlaufen und man habe seine, die des Vorsitzenden, Stimme im Wartebereich hören können. Er habe daraufhin den Verwaltungsleiter (des SG) gebeten, die Technik der Anlage prüfen zu lassen.

Am 9. Januar 2023 hat die Klägerin gegen das ihr am 2. Januar 2023 zugestellte Urteil Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden- Württemberg eingelegt. Zu deren Begründung bringt sie vor, sie bzw. ihre Bevollmächtigte seien in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen, weil die Sprechanlage des Gerichts defekt gewesen sei. Sie und ihre Prozessbevollmächtigte hätten vor der verschlossenen Tür des Gerichts gewartet. Das Gericht habe weder die Sprechanlage überprüft noch persönlich vor dem Gerichtssaal nachgesehen, ob sie anwesend gewesen ist. Das angefochtene Urteil beruhe daher auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil die mündliche Verhandlung ohne die Klägerin und deren Prozessbevollmächtigte durchgeführt worden sei. Auch sei das Urteil des SG inhaltlich fehlerhaft. Sie, die Klägerin, habe einen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Dies sei vom Gutachter R1 so nachvollziehbar dargelegt worden. Dessen Gutachten sei gegenüber dem des B1 vorzugswürdig. Das SG hätte insofern eine ergänzende Stellungnahme des R1 zum Gutachten des B1 einholen müssen. Dadurch, dass sich das SG auf das Gutachten des B1 gestützt habe, habe es außer Betracht gelassen, dass bei ihr ein schwerwiegendes Krankheitsbild mit einer chronifizierten Schmerzsymptomatik bestehe. Es bestünden massive Funktionsstörungen im Bereich der Wirbelsäule. Diese führten, wie von R1 angenommen, zu einer quantitativen Leistungsreduzierung. Die Klägerin habe nach der Untersuchung durch R1 (erfolglos) versucht, eine stationäre Schmerztherapie zu erhalten. Die Schmerzen schränkten sie in ihrem Alltagsleben stark ein. Soziale Kontakte seien auf die Familie beschränkt, ihr Freundeskreis habe sich stark minimiert, weil sie an keinen Aktivitäten mehr habe teilnehmen können. Sie könne nicht einmal ihre Enkeltochter alleine betreuen, weil sie sie bspw. nicht auf den Arm nehmen könne. Im Haushalt müsse sie selbst nach leichten Tätigkeiten nach 30 Minuten eine Pause machen. Ihre Gedanken kreisten zu 80% um ihre Gesundheit, weswegen sie sich auf andere Gedankeninhalte kaum einlassen könne. Vor diesem Hintergrund habe das SG die gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht ausreichend gewürdigt. Hierzu hat die Klägerin weitere medizinische Unterlagen, u.a. den Entlassungsbericht der A2 Klinik, M1, betr. eines stationären Aufenthalts vom 14. – 17. Dezember 2022 vorgelegt.

Ergänzend hat die Klägerin eine Aktennotiz ihrer Bevollmächtigten (Fr. W1) betr. dem Sitzungstermin vor dem SG am 19. Dezember 2022 vorgelegt, in der diese u.a. niedergelegt hat, dass sie pünktlich vor dem Gerichtssaal gewesen sei, die Türe jedoch verschlossen gewesen sei. Nachdem sie mit der Klägerin 45 min im Wartebereich gewartet habe, sei die Vertreterin der Beklagten herausgekommen und mitgeteilt, es sei gerade ohne die Klägerin entschieden worden. Sodann habe sie mit dem Vorsitzenden Richter gesprochen, der ihr mitgeteilt habe, er habe die Sache mehrfach aufgerufen. Wie sich sodann bei einem Test gezeigt habe, habe die Sprechanlage nicht funktioniert. Auch sei keiner der im vorangegangenen Verfahren Beteiligten aus dem Sitzungssaal gekommen, weil diese Verhandlung per Video-Konferenz durchgeführt worden sei.

Bei der Entscheidung betr. die beantragte Zurückverweisung sei zu berücksichtigen, dass der Klägerin zwei Tatsacheninstanzen erhalten bleiben sollten, bei einer Entscheidung des Senats in der Sache würden ihr (mögliche) Ermittlungen der 1. Instanz verloren gehen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 19. Dezember 2022 aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen,

hilfsweise,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 19. Dezember 2022 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25. März 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Juni 2020 zu verurteilen, der Klägerin eine Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. August 2019 zu gewähren.


Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung ihres Antrages verweist die Beklagte auf ihren erstinstanzlichen Vortrag und die aus ihrer Sicht zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils.

Der Senat hat beim zuständigen Vorsitzenden Richter am SG zu den Abläufen am Sitzungstag eine Stellungnahme eingeholt, in der dieser auf seinen Vermerk vom 24. Dezember 2022 verwiesen hat. Ferner hat er mitgeteilt, dass im Anschluss zum Termin über die Verwaltung des SG eine Überprüfung der Sprechanlage initiiert worden sei, anlässlich derer ein Fehler der Anlage nicht habe festgestellt werden können.  

Mit Schriftsatz vom 16. Februar 2024 hat die Beklagte, mit solchem vom 26. Februar 2024 die Klägerin das Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.


Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insb. des Vorbringens der Beteiligten wird auf die (elektronisch geführten) Prozessakten beider Rechtszüge sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidungsfindung geworden sind, verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die statthafte (vgl. § 143 SGG), form- und fristgerecht (vgl. § 151 Abs. 1 SGG) und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat nach dem erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), führt für diese insofern zum Erfolg, als das Urteil des SG vom 19. Dezember 2022 aufzuheben ist und die Sache an das SG zurückverwiesen wird.

Das erstinstanzliche Verfahren leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel.


Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Ein Verfahrensmangel i.S.d. § 159 SGG liegt bei einem Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnden Vorschriften vor. Wesentlich i.S.d. § 159 ist ein Mangel, wenn das Urteil des Sozialgerichts auf ihm, dem Mangel beruhen kann.

Zu den das Gerichtsverfahren regelnden Vorschriften rechnet insb. auch der Anspruch auf die Gewährung rechtlichen Gehörs. Nach Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Nach der speziellen Ausformung durch § 62 Halbsatz 1 SGG ist vor jeder Entscheidung den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren. Die Anhörung kann zwar auch schriftlich geschehen (§ 62 Hs. 2 SGG). Findet jedoch - wie hier vor dem SG - eine mündliche Verhandlung statt, begründet der Anspruch auf rechtliches Gehör das Recht des Beteiligten zur Äußerung in dieser Verhandlung (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 5. Oktober 1976 - 2 BvR 558/75 -, in juris). Um den Beteiligten die Wahrnehmung dieses Rechts zu gewährleisten, ist die Sache vom Vorsitzenden des Spruchkörpers zu Beginn der mündlichen Verhandlung aufzurufen (§ 112 Abs. 1 Satz 2 SGG). Durch den Aufruf der Sache wird den Beteiligten bekanntgemacht, dass nunmehr in die mündliche Verhandlung eingetreten werde. Besteht eine Gewohnheit, außerhalb des Sitzungsraums auf den Aufruf zu warten, so muss die Sache deutlich hörbar und verständlich auch außerhalb des Raums aufgerufen werden. Das Gericht kommt damit seiner Pflicht nach, die anwesenden Beteiligten effektiv in die Lage zu versetzen, den Termin auch tatsächlich wahrzunehmen. Die Beteiligten dürfen darauf vertrauen, dass sie rechtzeitig in den Sitzungssaal gerufen werden (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 9. Februar 1971 - 10 RV 678/70 -, in juris, dort Rn. 21). Das rechtliche Gehör eines Beteiligten ist dagegen verletzt, wenn die Sache nicht oder nicht ordnungsgemäß aufgerufen worden ist und er deshalb an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hat (BSG, Urteil vom 27. August 1981 - 2 RU 35/81 – in juris). So liegen die Verhältnisse zur Überzeugung des Senats hier. Nach Angaben der Klägerin hatte sie sich mit ihrer Prozessbevollmächtigten am Terminstag rechtzeitig bei Gericht eingefunden und vor dem Sitzungssaal gewartet. Der Vorsitzende Richter am SG hat in seinem Vermerk vom 24. Dezember 2022 selbst ausgeführt, er sei verwundert gewesen, dass zum Termin niemand anwesend gewesen sei, weil die Klägervertreterin angekündigt habe, zum Termin zu erscheinen. Nachdem er sodann die Sache insg. dreimal über die Sprechanlage aufgerufen habe und die Vertreterin der Beklagten vor die Tür getreten sei, um nachzuschauen, ob jemand in dieser Sache warte, sei sodann in Abwesenheit der Klägerin verhandelt und das angefochtene Urteil gesprochen worden. In einer derartigen Situation, in der ein Beteiligter ausdrücklich angekündigt hat, zum anberaumten Termin zu erscheinen, besteht, wenn dieser auf einen Aufruf über eine Sprechanlage nicht in den Sitzungssaal eintritt, die Verpflichtung seitens des Gerichts, sich persönlich davon zu vergewissern, dass tatsächlich niemand für den Beteiligten im Umfeld des Sitzungssaals anwesend ist. Nur so ist gewährleistet, dass der Beteiligte die Möglichkeit erhält, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und seinen Rechtsstandpunkt dem Gericht vorzutragen (vgl. BSG, Urteil vom 9. Februar 1971, a.a.O., Rn. 22). Nicht ausreichend ist es insofern, wenn ein anderer Beteiligter, vorliegend die Vertreterin der Beklagten, vor den Sitzungssaal tritt und dort nach Personen Ausschau hält, da nicht gerichtsangehörige Personen in aller Regel die Örtlichkeit nicht derart kennen, als ihnen bekannt ist, ob ggf. weitere Aufenthaltsräume im Gerichtsgebäude vorhanden sind. Da im Anschluss zur mündlichen Verhandlung eine „Testung“ der Sprechanlage durch den Vorsitzenden Richter im Beisein der Klägervertreterin durchgeführt worden ist und hierbei erst der dritte Test dergestalt erfolgreich verlaufen ist, dass dessen Stimme im Wartebereich zu hören gewesen ist, bestehen für den Senat keine berechtigten Zweifel an der Darstellung der Klägerin, dass ein für sie hörbarer Aufruf der Sache im Wartebereich außerhalb des Saales nicht erfolgt sei.

Die Klägerin braucht sich nicht entgegenhalten zu lassen, nicht alles getan zu haben, um sich das rechtliche Gehör zu verschaffen. Da sich der geplante Ablauf einer mündlichen Verhandlung erfahrungsgemäß verzögern kann, kann von den Beteiligten nicht verlangt werden, sogleich mit Beginn der Terminsstunde den Saal zu betreten und damit die möglicherweise noch in vollem Gang befindliche vorangegangene Verhandlung zu stören.

Mithin ist das Urteil des SG vom 19. Dezember 2022 unter Verletzung des klägerischen Anspruchs auf rechtliches Gehör ergangen.

Hierbei kann es nicht ausgeschlossen werden, dass das angefochtene Urteil auf der festgestellten Verletzung rechtlichen Gehörs beruht. Wird einem Beteiligten gegen seinen Willen sein prozessuales Recht auf mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 1 SGG) ohne gesetzliche Ermächtigung genommen oder dessen Verwirklichung unmöglich gemacht, ist davon auszugehen, dass ein gleichwohl gefälltes Urteil auf diesem Rechtsfehler beruhen kann. Denn die mündliche Verhandlung ist grundsätzlich das Kernstück der Rechtsfindung; sie ist in ihrem inneren Ablauf, wenn sie nach den Vorschriften des Gesetzes durchgeführt wird, nicht vorhersehbar und kann nachträglich nicht fiktiv rekonstruiert werden. Im Fall der Klägerin hätte das SG aufgrund der mündlichen Verhandlung möglicherweise doch zu dem Ergebnis gelangen können, dass die Leistungsfähigkeit der Klägerin entsprechend der Einschätzung des gerichtlichen Sachverständigen R1 quantitativ und damit rentenbegründend eingeschränkt ist.

Eine Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist nur möglich, wenn aufgrund des Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme nötig ist, insofern muss ein kausaler Zusammenhang bestehen. Ein solcher Zusammenhang ist vorliegend anzunehmen, weil dadurch, dass die Klägerin an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen konnte, ihr die Möglichkeit genommen worden ist, eine ergänzende Befragung des B1 anzuregen und auf eine weitere zeitnah zum Verhandlungstermin geplante (nicht notfallmäßige) stationäre Behandlung hinzuweisen. Eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme ist gegeben, wenn sie einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen Mitteln erfordert (BT-Drs. 17/6764, S. 27, zu Art. 8 Nr. 8). Davon ist auszugehen, wenn weitere Ermittlungen in der Form der Einholung zumindest einer gutachtlichen Stellungnahme geboten ist. Im Hinblick hierauf ist jedenfalls eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme des B1 zur gutachterlichen Einschätzung des R1, ggf. auch die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens, erforderlich.

Ob bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen eine Zurückverweisung erfolgt, steht im Ermessen des Berufungsgerichts. Dieses muss zwischen den Interessen der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung einerseits und dem Verlust einer Instanz andererseits abwägen. Dabei ist auch der Ausnahmecharakter der Vorschrift zu berücksichtigen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl., 2023, § 159 Rn. 5, 5a, 5b; vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Dezember 2020 - L 4 R 1223/20 -, in juris, dort Rn. 62). In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung und dem Grundsatz der Prozessökonomie einerseits sowie dem Verlust einer Instanz andererseits hält es der Senat vorliegend für angezeigt, den Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen. Dabei berücksichtigt der Senat, dass der Klägerin durch die Zurückverweisung kein wesentlicher zeitlicher Nachteil erwächst. Auch ist der Rechtsstreit derzeit nicht entscheidungsreif. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin die Zurückverweisung ausdrücklich beantragt und die Beklagte hiergegen keine Einwendungen erhoben hat.

Das Urteil des SG vom 19. Dezember 2022 ist hiernach aufzuheben und der Rechtsstreit ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen. Aufgrund des Erfolgs des Hauptantrags ist über den Hilfsantrag nicht zu befinden.

Eine Kostenentscheidung ist durch den Senat nicht zu treffen. Diese ist – einschließlich der Entscheidung über die Kosten des vorliegenden Berufungsverfahrens – der abschließenden Entscheidung des SG vorbehalten, da das erstinstanzliche Verfahren fortgesetzt wird (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 159 Rn. 5f).

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
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