L 15 SO 116/24 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
15
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 88 SO 39/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 SO 116/24 ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Eine Entscheidung in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren, welcher der beiden Vertreter des Landes Berlin für die Eingliederungshilfe in diesem Fall zuständig ist, ist nicht zulässig, es würde sich insoweit quasi um einen In-sich-Prozess handeln.

Der Antrag des Vertreters des Antragsgegners zu 2., die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. April 2024 auszusetzen, wird abgelehnt.

 

Der Antragsgegner, vertreten durch den Antragsgegner zu 2., hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des Aussetzungsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

 

Der Antrag des Vertreters des Antragsgegners zu 2. (des Bezirksamts ) auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. April 2024, mit dem dieses ihn im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet hat, der Antragstellerin vorläufig für einen Zeitraum vom 21. April 2024 bis zum 20. August 2024, längstens bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, qualifizierte Assistenzleistungen gemäß § 113 Abs. 2 Nr. 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) i.V.m. § 78 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, Satz 3 SGB IX in einem Umfang von 12 Stunden täglich an sieben Tagen in der Woche zu einem Entgelt von 30 € je Stunde zu gewähren, ist statthaft und zulässig, aber nicht begründet.

 

Gemäß § 199 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann der oder die Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat. Die vom Vertreter des Antragsgegners zu 2. eingelegte Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung, wie sich aus § 175 SGG ergibt. Keine der dort genannten Ausnahmen von der Regel, dass Beschwerden keine aufschiebende Wirkung haben, ist hier gegeben.

 

Die Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollstreckung sind nicht erfüllt. Eine Anordnung nach § 199 Abs. 2 SGG ist eine Ermessensentscheidung, für die eine Interessenabwägung erforderlich ist. Insbesondere sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen (B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Kommentar zum SGG, 14. Aufl. 2023, § 199 Rn. 8 mit weiteren Nachweisen). Die Aussetzung der Vollstreckung hat sich nach der gesetzlichen Konzeption in jedem Fall auf Ausnahmefälle zu beschränken, in denen das Rechtsmittel offensichtlich Aussicht auf Erfolg hat (Tammo Lange in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, Stand: 15. Juni 2022, § 199 SGG, Rn. 18 mit Hinweisen zur Rechtsprechung).

 

Eine offensichtliche Erfolgsaussicht des Rechtsmittels des Antragsgegners lässt sich nicht feststellen. Der Vertreter des Antragsgegners zu 2. wendet sich in erster Linie dagegen, dass er verpflichtet wurde und nicht der Vertreter des Antragsgegners zu 1., das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo), da er das LaGeSo für zuständig hält. Damit kann er jedoch nicht gehört werden.

 

Die Länder führen gemäß Art. 83 Grundgesetz (GG) das SGB IX als eigene Angelegenheit aus, weil im Grundgesetz nichts anderes bestimmt ist. Demzufolge sind sie gemäß Art. 84 Abs. 1 GG für die Regelung der Einrichtung der Behörden und des Verwaltungsverfahrens zuständig (vgl. Bieritz-Harder in LPK-SGB IX, 6. Aufl. 2022,     § 94 Rn. 3).

 

Gemäß § 94 Abs. 1 SGB IX bestimmen die Länder die für die Durchführung des Eingliederungshilferechts zuständigen Träger der Eingliederungshilfe. In Berlin ist die Zuständigkeit in dem Gesetz zur Ausführung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (AG-SGB IX) vom 25. September 2019 (GVBl. Seite 602) geregelt. Gemäß § 1 AG-SGB IX ist Träger der Eingliederungshilfe das Land Berlin. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 AG-SGB IX obliegt die Durchführung der Aufgaben des Trägers der Eingliederungshilfe den bezirklichen Ämtern für Soziales in den jeweiligen Teilhabefachdiensten, soweit nichts anderes bestimmt ist. Gemäß § 3 Nr. 2 AG-SGB IX wird dem LaGeSo in Abweichung von § 2 Abs. 1 Satz 1 AG-SGB IX die Aufgabe zugewiesen, Leistungen in Form der persönlichen Assistenz für Menschen mit schwerer Körperbehinderung mit besonderem Pflegebedarf und besonderem Unterstützungsbedarf wahrzunehmen, soweit nicht die Jugendämter diese Aufgabe wahrnehmen, was hier nicht der Fall ist. Näheres zur Zuständigkeit ist in den gemeinsamen Ausführungsvorschriften Eingliederungshilfe (AV EH) vom 5. Februar 2020 (ABl. Seite 972), Neufassung vom 20. November 2023, geregelt. Eine Zuständigkeit des LaGeSo kommt gemäß Nr. 183 Abs. 4 Satz 3 AV EH (Voraussetzung der persönlichen Assistenz) nicht in Betracht bei Personen mit wesentlichen geistigen oder seelischen Behinderungen nach Nr. 96 und Nr. 97 AV EH. Nach Nr. 96 Abs. 2 Satz 2 AV EH kommt eine Zurechnung zu einer wesentlich geistigen Behinderung in Betracht, wenn zu einer Lernbehinderung weitere wesentliche Funktionseinschränkungen in Wechselwirkung mit weiteren wesentlichen Barrieren hinzutreten. Nach Nr. 97 AV EH liegt eine wesentliche seelische Behinderung im Sinne von § 3 der Eingliederungshilfeverordnung  (EinglHV) in der am 31. Dezember 2019 geltenden Fassung, deren §§ 1 bis 3 gemäß § 99 Abs. 4 Satz 2 SGB IX bis zum Erlass neuer Rechtsverordnungen entsprechend Anwendung finden, vor, wenn eine Beeinträchtigung der psychischen Funktionen durch die in den § 3 Nrn. 1 bis 4 EinglHV abschließend genannten Diagnosen vorliegen und infolge der Beeinträchtigung der psychischen Funktionen die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren wesentlich eingeschränkt ist.

 

Die vorliegenden medizinischen Unterlagen, bis auf den Prüfbericht des Vertreters des Antragsgegners zu 2. vom 20. Februar 2024, sprechen nicht für eine entsprechende Zuständigkeit des LaGeSo. Nach dem vorläufigen Arztbrief des H  in T  ohne Datum, in dem sich die Antragstellerin vom 15. September 2023 bis 16. November 2023 in stationärer Behandlung befand, bestehen bei ihr neben Chorea Huntington sonstige organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, eine Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns, eine leichte kognitive Störung und ein Zustand nach Substanzenabusus mit Kokain, schädlicher Gebrauch. In dem Bericht ist unter anderem angegeben, dass die Antragstellerin an einer schweren Impulskontrollstörung mit Essensattacken sowie einer Antriebsminderung leidet. In dem Beschluss des Amtsgerichts  vom 31. März 2024, mit dem die Mutter der Antragstellerin zu ihrer rechtlichen Betreuerin bestellt wurde, wird ausgeführt, dass ein Sachverständigengutachten einer Ärztin für Nervenheilkunde eingeholt wurde, die folgende Diagnosen gestellt hat: Progressive neurodegenerative Erkrankung (Chorea Huntington) mit einer Persönlichkeitsstörung sowie einer affektiv-depressiven Störung und kognitiven Einbußen sowie organisch bedingte Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen sowie depressive Störungen. Diese führen dazu, dass die Antragstellerin nicht mehr in der Lage ist, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen. Sie leidet unter anderem an einer Störung des formalen Denkens und des Auffassungsvermögens. Aufgrund dieser Einschränkungen wurde auch ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet, was nach der Erfahrung des Senats nur in schweren Fällen passiert.

 

Es kann dahinstehen, ob, wie der Vertreter des Antragsgegners zu 2. vorträgt, nach den Zuständigkeitsregelungen das LaGeSo für die Antragstellerin zuständig geworden ist, weil eine wesentliche geistige oder seelische Behinderung nicht vorliegt. Selbst wenn das der Fall sein sollte, kommt eine Klärung der Zuständigkeit des LaGeSo oder des Bezirksamts durch den Senat nicht in Betracht, da es sich insoweit quasi um einen In- sich-Prozess handeln würde. Die Bezirksämter von Berlin sind entsprechend ihrer allgemeinen Rechtsstellung keine selbstständigen Träger des Eingliederungshilferechts. Die Berliner Bezirke haben keine eigene Rechtspersönlichkeit. Das ergibt sich aus dem besonderen Verwaltungsaufbau des Landes Berlin als Stadtstaat und Einheitsgemeinde (Art. 1 Abs. 1 Verfassung von Berlin - BerlVerf - und § 1 Gesetz über die Zuständigkeit in der Allgemeinen Berliner Verwaltung - AZG -). Die Berliner Bezirke sind lediglich verselbständigte Verwaltungsuntergliederungen (Art. 66 ff BerlVerf). Sie handeln daher auch in Bezirksangelegenheiten nicht im eigenen Namen, sondern als Vertreter Berlins (Art. 74 Abs. 2 BerlVerf), d.h., sie sind nicht partei- bzw. beteiligtenfähig im Sinne des § 70 SGG. Das LaGeSo ist eine nachgeordnete Einrichtung der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (§ 1 Abs. 1 Gesetz über die Errichtung eines Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin und eines Landesamtes für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit Berlin vom 12. November 1997, GVBl. Seite 596, zuletzt geändert durch  Art. 3 Gesetz über das erweiterte Beschwerdewesen bei der Flüchtlingsunterbringung und zur Änderung von Landesämter-errichtungsgesetzen  vom 14. September 2021, GVBl. Seite 1073). Ein In-sich-Prozess ist ausnahmsweise zulässig, wenn die Behörde in eigenen Rechten verletzt sein kann, d.h. wenn die betroffenen Behörden desselben Rechtsträgers eine gewisse Verselbstständigung erfahren haben und Inhaber eigener Rechte und Pflichten im Verhältnis zueinander sind, über die im Streitfall von der gemeinsamen Spitze nicht verbindlich entschieden werden kann. Abgegrenzte eigene Rechte können unter Umständen gegeben sein, wenn Verwaltungen organisatorisch und haushaltsrechtlich getrennte Sachbereiche bilden und keiner einheitlichen Aufsicht unterliegen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, a.a.O., § 54 Rn. 16 mit weiteren Nachweisen).

 

Ein In-sich-Prozess kommt vorliegend nicht in Betracht, da das LaGeSo und die Bezirksämter, hier die Teilhabefachdienste, dem Streitentscheid durch die Hauptverwaltung unterliegen. Nach. C. II. des Rundschreibens Soz Nr. 26/2020 über Zuständigkeitsfragen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX vom 16. Dezember 2020, mit Änderungen vom 25. Februar 2021, können Zuständigkeitsfragen, soweit die Beteiligten die Fragen nicht unmittelbar untereinander klären, bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen bei der für Soziales zuständigen Senatsverwaltung schriftlich beantragt werden. Die Voraussetzungen für einen In-sich-Prozess sind daher nicht gegeben, so dass der Senat - zulässigerweise - über die Zuständigkeit des LaGeSo oder des Bezirksamts bei der einheitlichen Zuständigkeit des Landes Berlin als Eingliederungshilfeträger nicht entscheiden kann.

Soweit sich der Vertreter des Antragsgegners zu 2. gegen den Umfang der Assistenzleistungen wendet, zu deren Erbringung er vom Sozialgericht verpflichtet worden ist, ist die erforderliche offensichtliche Erfolgsaussicht seiner Beschwerde nicht gegeben. Welche Art der Hilfe die Antragstellerin letztendlich benötigt, ob hierzu qualifizierte Fachkräfte notwendig sind oder nicht und ob gegebenenfalls auch Hilfen durch freiberufliche Einzelfallhelfer in Betracht kommen, ist nicht geklärt und es ist fraglich, ob dies im einstweiligen Anordnungsverfahren, bei dem nur eine summarische Prüfung möglich ist, geklärt werden kann.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog.

 

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar  (§ 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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