L 11 SB 230/23

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 46 SB 1236/22
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 SB 230/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 29. Juni 2023 aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, den Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 18. November 2020 zu bescheiden.

 

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Streitig ist die Untätigkeit des Beklagten.

 

Der Beklagte erkannte bei der  1965 geborenen Klägerin zuletzt mit Bescheid vom 25. Oktober 2010 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 wegen eines Kunstgelenkersatzes an beiden Knien und das Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) an. Am 1. März 2019 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag und begehrte zudem die Feststellung des Merkzeichens „RF“(Ermäßigung des Rundfunkbeitrags), da sie ständig gehindert sei, an öffentlichen Veranstaltungen jeder Art teilzunehmen. Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen und deren Auswertung durch den versorgungsärztlichen Dienst hörte der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 24. Mai 2019 gemäß § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu der beabsichtigten Herabsetzung des GdB von 50 auf 30 und die Entziehung des Merkzeichens „G“ an. Mit Bescheid vom 7. Februar 2020, der von Amts wegen und auf den am 1. März 2019 eingegangenen Antrag erlassen wurde, setzte der Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 1. Dezember 2009 und 25. Oktober 2010 den GdB mit Wirkung ab dem 13. Februar 2020 auf 30 herab und stellte außerdem die dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit fest. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens „G“ seien nicht mehr erfüllt. Außerdem lehnte der Beklagte die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ sowie weiterer Merkzeichen ab. Den dagegen eingelegten Widerspruch, mit dem die Klägerin weiter einen GdB von 50 und das Merkzeichen „G“ begehrte, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2020 zurück.

 

Dagegen erhob die Klägerin Klage bei dem Sozialgericht Berlin, die unter dem Aktenzeichen S 178 (41) SB 1573/20 registriert wurde. Die Klägerin, die weiterhin der Auffassung war, ihr stehe ein GdB von 50 und das Merkzeichen „G“ zu, machte geltend, die angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig und verletzten sie in ihren Rechten. Entgegen der Annahme des Beklagten würden tatsächlich die Voraussetzungen für die Aufhebung der ursprünglichen Feststellung des Beklagten nicht vorliegen. Die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Bescheide ergebe sich insbesondere daraus, dass der Beklagte fälschlicherweise zu ihren Lasten von dem Eintritt einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen ausgehe und die tatsächlich eingetretene Verschlimmerung nicht ausreichend berücksichtigt habe. Der Beklagte vertrat die Auffassung, die Klage, mit der sich die Klägerin gegen die Herabsetzung des GdB von 50 auf 30 und die Feststellung, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht mehr vorlägen, wende, sei unbegründet. Es sei gegenüber der letzten Feststellung zu einer wesentlichen und nachhaltigen Besserung gekommen.

 

Am 18. November 2020 stellte die Klägerin einen Antrag auf Neufeststellung des GdB wegen Verschlimmerung bestehender Behinderungen und Hinzutreten neuer Behinderungen.

 

Am 31. Oktober 2022 hat die Klägerin Untätigkeitsklage erhoben mit dem Ziel, den Beklagten zu verpflichten, den Neufeststellungsantrag vom 18. November 2020 zu bescheiden. Die Voraussetzungen des § 88 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) seien erfüllt. Der Beklagte habe seit nunmehr bald zwei Jahren nicht über ihren Antrag entschieden. Weder habe der Beklagte rechtlich relevante Gründe für die Verzögerung benennen können, noch seien solche ersichtlich.

 

Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, der Verschlimmerungsantrag vom 18. November 2020 sei Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens S 178 SB 1573/20. Ein förmlicher Neufeststellungsantrag setze einen bindend gewordenen Bescheid voraus. Daran fehle es hier. Das Landessozialgericht Berlin habe mit Schreiben vom 27. März 2000 darauf hingewiesen, dass Neufeststellungs- bzw. Verschlimmerungsanträge erst nach Eintritt der Bindungswirkung der im Streit befindlichen Bescheide bearbeitet werden dürften. Diese Auffassung teile er, der Beklagte. Der Antrag bleibe damit nicht unbearbeitet, sondern es bleibe der Ausgang des bei der 178. Kammer des Sozialgerichts Berlin anhängigen Verfahrens abzuwarten.

 

Dem hat die Klägerin wiederum entgegengehalten, es handele sich vorliegend in der Hauptsache um eine Anfechtungsklage und nicht um eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Die Argumentation des Beklagten verfange insofern nicht.

 

Mit Gerichtsbescheid vom 29. Juni 2023 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Klage sei unzulässig. Der Verschlimmerungsantrag vom 14. November 2020 stelle keinen Antrag im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG dar, zu dessen Bescheidung der Beklagte verurteilt werden könnte. Die Kammer teile insoweit nach eigener Prüfung die Auffassung des Beklagten entsprechend dessen zu bestätigendem Vortrag, auf welchen daher zur Begründung verwiesen werde.

 

Gegen den am 29. Juni 2023 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am Montag, dem 31. Juli 2023 eingelegte Berufung, mit der die Klägerin an ihrem Begehren, den Beklagten zum Erlass des beantragten Bescheides zu verpflichten, festgehalten hat. Der Beklagte verkenne die prozessuale Konstellation und auch ihr Begehren. Für den Fall, dass sie sich im Wege der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen eine Entscheidung des Beklagten gewandt hätte, wäre die geäußerte Rechtsauffassung des Beklagten zutreffend. Relevanter Unterschied sei in einem derartigen Fall zunächst der maßgebliche Zeitpunkt, zu dem das Gericht die Rechtslage zu bewerten habe. Bei einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage prüfe das Gericht den Streitstoff zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Dies bedeute, dass sowohl die Verschlimmerung bestehender Leiden, als auch neu hinzugetretene Behinderungen bei der gerichtlichen Bewertung zu berücksichtigen seien und in das Ergebnis einflössen. Daraus begründe sich die vom Beklagten zitierte Rechtsprechung des angerufenen Gerichts. Da in einer derartigen Konstellation gegebenenfalls eingetretene Veränderungen ohnehin vom Gericht zu prüfen und zu berücksichtigen seien, fehle für das Begehren auf Erlass eines weiteren Bescheides parallel zum laufenden Gerichtsverfahren das Rechtsschutzbedürfnis. Vorliegend handele es sich aber nicht um eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, sondern um eine reine Anfechtungsklage, bei der das Gericht prüfe, ob die behördliche Entscheidung bei Erlass der Entscheidung zu treffend gewesen sei. Etwaige nach Erlass der Entscheidung eintretende Veränderungen habe das Gericht nicht zu berücksichtigen. Wäre die angegriffene Rechtsauffassung des Beklagten zutreffend, hätten Betroffene während der gesamten Dauer der teilweise Jahre andauernden sozialgerichtlichen Verfahren in Form von Anfechtungsklagen keinerlei Möglichkeiten, die seither eingetretenen Veränderungen berücksichtigen zu lassen und überprüfbar zu machen. Nach hiesiger Auffassung habe sie in einer Konstellation wie der vorliegenden nur die Möglichkeit, der im laufenden Verfahren eingetretenen Verschlechterung über einen Verschlimmerungsantrag Berücksichtigung zu verschaffen.

 

 

 

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 29. Juni 2023 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihren Neufeststellungsantrag vom 18. November 2020 zu bescheiden.

 

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

 

Der Beklagte ist weiterhin der Auffassung, dass ein förmlicher Neufeststellungsantrag einen bindend gewordenen Bescheid voraussetze. Rechtsgrundlage des Neufeststellungsantrags sei in der Regel § 48 SGB X. Danach werde geprüft, ob eine wesentliche Änderung vorliege. Diese Änderung könne nur anhand des Ist-Zustandes geprüft werden. Vorliegend sei der Ist-Zustand aber derzeit streitig, da die Klägerin hinsichtlich des Herabsetzungsbescheides eine Anfechtungsklage erhoben habe, weshalb der Neufeststellungsantrag in der Sache nicht bearbeitet werden könne. Insofern liege keine Untätigkeit vor. Der Neufeststellungsantrag werde lediglich zurückgestellt, daher könne er derzeit nicht bearbeitet werden.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten des Beklagten sowie auf die beigezogenen Kopien aus den Gerichtsakten zu dem Aktenzeichen S 178 SB 1573/20 verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig und begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ist aufzuheben und der Beklagte zu verpflichten, den Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 18. November 2020 zu bescheiden. Ein Bescheidungsurteil im Sinne von § 131 Abs. 3 SGG kommt im Hinblick auf den beschränkten Streitgegenstand einer Untätigkeitsklage jedoch nicht in Betracht. Denn Gegenstand einer Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 1 SGG ist grundsätzlich nur die Bescheidung eines Antrags und nicht die Prüfung der materiellen Voraussetzungen eines Anspruchs oder die Bewilligung einer Leistung. Verurteilt werden kann daher nur zur Bescheidung, nicht aber zur Gewährung der beantragten Leistung oder des sonstigen materiellen Gegenstands des Antrags (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Beschluss vom 16. Oktober 2014 - B 13 R 282/14 B -, zitiert nach juris).

 

Gemäß § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG ist, soweit ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden ist, die Klage nicht vor Ablauf von sechs Monaten zulässig.

 

Diese Voraussetzungen sind erfüllt, denn der Antrag der Klägerin vom 18. November 2020 ist bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bei dem Senat nicht sachlich beschieden worden und bei der Erhebung der Klage am 31. Oktober 2022 ist die Frist von sechs Monaten zweifellos seit langem abgelaufen, ohne dass der Beklagte den Antrag der Klägerin sachlich beschieden hätte. Die Klage ist entgegen der Auffassung des Sozialgerichts zulässig, weil es auf den Grund des Ablaufes der Sperrfrist nicht ankommt (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. A. 2023, § 88 RdNr. 6). Sachlich nicht beschieden bedeutet zudem nicht, dass dem Antrag stattgegeben werden muss, wohl aber, dass in der Sache überhaupt eine Entscheidung getroffen wird und sei es, dass der Antrag als unzulässig abgelehnt wird (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2003 - B 2 U 36/02 R -, zitiert nach juris). Auch daran fehlt es hier.

 

Gemäß § 88 Abs. 1 Satz 2 SGG setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist aus, die verlängert werden kann, wenn ein zureichender Grund dafür vorliegt, dass der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist.

 

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, denn ein zureichender Grund für die Untätigkeit des Beklagten liegt nicht vor.

 

Ob ein zureichender Grund vorliegt, ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. Dabei sind die Garantien des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz und des Rechts auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist gemäß Art. 6 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention zu berücksichtigen.

 

Dass der Gesetzgeber ein zügiges Verfahren voraussetzt, ergibt sich auch aus einfachgesetzlichen Normen. Nach § 9 Abs. 2 SGB X ist das Verfahren einfach, zweckmäßig und zügig durchzuführen. Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Vierzehnten Buches zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. § 152 Abs. 1 Satz 3 SGB IX verweist auf die einzuhaltenden Fristen nach § 14 Abs. 2 Satz 2 und 3 (Entscheidung drei Wochen nach Antragseingang ohne Einholung eines Gutachtens, sonst zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens) für die zu treffende Entscheidung.

 

Diesen Zeitvorgaben entspricht das Verhalten des Beklagten auch nicht im Ansatz.

 

Nachvollziehbare Zweckmäßigkeitserwägungen, wie sie offenbar der Beklagte in den Vordergrund stellt, können zwar berücksichtigt werden, dies setzt jedoch das – hier nicht vorliegende – Einverständnis der Klägerin oder eine Entscheidung in naher Zukunft voraus (vgl. Schmidt, a.a.O. § 88 RdNr. 7b) voraus. Auch die letztgenannte Voraussetzung ist nicht erfüllt. Denn soweit der Beklagte das Ermittlungsergebnis der 178. Kammer des Sozialgerichts abwarten und bei seiner Entscheidung über den Verschlimmerungsantrag vom 18. November 2020 berücksichtigen wollte, stellt dies ebenfalls keinen zureichenden Grund dar, denn das Sozialgericht hat erst eineinhalb Jahre nach der Klageerhebung eine Beweisanordnung erlassen, die Ermittlungen sind im Zeitpunkt der Erhebung der Untätigkeitsklage noch nicht abgeschlossen gewesen.

 

Schließlich hat die Klägerin zutreffend dargelegt, dass die Zweckmäßigkeitserwägungen in ihrem Fall ins Leere laufen. Denn sie wendet sich in dem Verfahren bei der 178. Kammer mit der isolierten Anfechtungsklage gegen die Herabsetzung des GdB von 50 auf 30 und die Entziehung des Merkzeichens „G“. Maßgeblicher Zeitpunkt der Prüfung der Sach- und Rechtslage ist damit der Erlass des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 2020. Der Verschlimmerungsantrag datiert vom 18. November 2020. Seine Ablehnung eröffnet die Überprüfung der Sach- und Rechtslage im gerichtlichen Verfahren bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. Keller, a.a.O. § 54 RdNrn. 33 und 34 m. w. N.). Der Ausgang des Klageverfahrens bei der 178. Kammer hat deshalb prozessual keine Auswirkungen auf das durch den Neufeststellungsantrag ausgelöste weitere Verfahren. Dass es dem Beklagten unmöglich sein soll, parallel zum Gerichtsverfahren ein weiteres behördliches Verfahren zur Höhe des GdB durchzuführen, hat er zwar behauptet, aber Gründe dafür nicht dargelegt. Der Senat vermag solche Gründe ebenfalls nicht zu erkennen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.

 

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
Saved