L 5 AS 249/23

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 34 AS 3828/16
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
L 5 AS 249/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Ein Anspruch auf Bewilligung der unangemessen hohen Kosten der Unterkunft und Heizung kann im Einzelfall vorliegen, wenn eine schwere, länger andauernde psychiatrische Erkrankung einen Umzug außerhalb der konkreten örtlichen Lebensverhältnisse verbietet und dort angemessener Wohnraum nicht anmietbar ist. 2. a. Im Fall der rückwirkenden Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht für diesen Zeitraum kein Anspruch mehr auf weitere Leistungen nach dem SGB II. Vielmehr richtet sich der weitere Leistungsanspruch nach dem SGB XII. b. Der Träger der Grundsicherung kann nach Beiladung im laufenden Klageverfahren zur Zahlung weiterer, als unangemessen abgelehnter Kosten der Unterkunft und Heizung verurteilt werden.

Auf die Berufung des Beigeladenen zu 1. wird das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 16. Juni 2023 aufgehoben, soweit er verurteilt worden ist, für September bis Dezember 2016 mehr als 52,14 €/Monat zu zahlen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beigeladene zu 1. hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Berufungsverfahren zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist noch die Verpflichtung des Beigeladenen zu 1. zur Übernahme weiterer Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII) für die Zeit von 1. September 2016 bis 31. August 2017.

Die 1966 geborene Klägerin bewohnt seit 2002 eine 59 m² große 3-Raum-Mietwohnung. Vermieterin war zunächst die S. W.. Die Verwaltung der Wohnung ist zum 1. Januar 2021 durch die Gesellschaft für Bauen und Wohnen S. (gbs) übernommen worden. Bis Februar 2013 lebte die Klägerin dort gemeinsam mit ihrem 1992 geborenen Sohn.

Die Bruttokaltmiete betrug in den Jahren 2016 und 2017 durchgehend 344,93 €/Monat (Grundmiete 293,86 €, Betriebskostenabschlag 51,07 €). Heizkostenabschläge waren i.H.v. 55 €/Monat zu zahlen. Unter dem 9. März 2017 wies die Vermieterin für die Betriebskostenabrechnung 2016 ein Guthaben i.H.v. 119,94 € aus. Unter dem 30. Juni 2017 teilte der Gasversorger für den Abrechnungszeitraum ein Guthaben i.H.v. 49,23 € mit.

Die Klägerin bezog vom Beklagten mindestens seit 2010 laufende Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Bereits im Bescheid vom 31. August 2011 war sie auf die Unangemessenheit der Miete hingewiesen worden. Angemessen seien für 2 Personen 260,93 €/Monat Grundmiete; ab März 2012 würden die Kosten auf das angemessene Maß abgesenkt. Die Kostenabsenkung erfolgte aber erst ab März 2013.

Nach den beigezogenen Verwaltungsvorgängen der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland (DRV [Vers.-Nr. 08 261266 P 502]) befand sich die Klägerin wegen einer schweren rezidivierenden depressiven Episode vom 18. bis 27. Januar 2012 in tagesklinischer, anschließend in stationärer und vom 18. April bis 6. Juni 2012 wieder in tagesklinischer Behandlung. Vom 11. bis 19. März 2014 erfolgte abermals eine stationäre Behandlung wegen schwerer Depression. Eine psychosomatische Rehabilitationskur wurde vom 24. Juli bis 28. August 2014 durchgeführt, u.a. mit der Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung, remittiert. Nach dem Gutachten des Dr. P. nach Aktenlage für die Agentur für Arbeit Stendal vom 23. Oktober 2014 lag eine mehr als 6-monatige Minderung der Leistungsfähigkeit für eine 15 Stunden wöchentliche Beschäftigung vor. Vom 29. Oktober 2014 bis 6. Januar 2015 befand sich die Klägerin wieder in stationärer Behandlung wegen gegenwärtig schwerer depressiver Episode. Zwischen Februar 2015 und April 2017 erfolgten dann sieben kürzere stationäre Aufenthalte zur Durchführung von Erhaltungs-EKT.

Ein Antrag der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung vom 11. Februar 2015 war von der DRV zunächst mit Bescheid vom 15. April 2015 abgelehnt worden. In dem folgenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Magdeburg (S 5 R 1347/15) hatte der Chefarzt des Fachklinikums U. W. das Gutachten vom 21. Juni 2018 erstattet. Dieser hatte eine bipolare affektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode diagnostiziert. Es handele sich um eine schwere psychische Störung mit erheblichen Funktionseinschränkungen. Die Klägerin sei seit dem 18. Januar 2012 nicht in der Lage, mindestens 3 Stunden täglich Arbeiten mit einfachen geistigen Anforderungen auszuüben. Daraufhin ist von der DRV ab dem 1. November 2014 im Wege eines Anerkenntnisses die Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer bewilligt worden (Bescheid vom 17. April 2019).

Mit Bescheid vom 31. August 2016 bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. September 2016 bis 31. August 2017. Als KdUH legte er 347,79 €/Monat (Bruttokaltmiete 284,79 € + 63 € Heizkosten „pauschal“) zugrunde.

Dagegen legte die Klägerin unter dem 7. September 2016 Widerspruch ein und begehrte die vollständige Übernahme der KdU. Sie sei aufgrund der Erkrankung auf die Eltern und ihre Schwester, die im selben Ortsteil lebten, angewiesen. Nach dem beigefügten Attest der Fachärztin für Neurologie und Psychologie Dipl.-Med. H. vom 14. März 2016 sei aus nervenärztlicher Sicht das Verbleiben in der Wohnung bzw. in dem Wohnumfeld dringend erforderlich. Sonst bestehe die Gefahr einer akuten Dekompensation. Des Weiteren ergab sich aus einer Bestätigung der Vermieterin vom 5. September 2016, dass in der Ortslage derzeit keine kommunale 2-Raumwohnung anzumieten sei.

Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 15. September 2016 die Bewilligung der tatsächlichen KdU ab. Die angemessene Bruttowarmmiete betrage 347,79 €/Monat. Mit Widerspruchsbescheid vom 9. November 2016 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Klägerin sei schon 2011 auf die unangemessenen KdU hingewiesen worden. Sie hätte ggf. durch einen Umzug im näheren Wohnumfeld die Kosten senken können. Eine Unmöglichkeit der Kostensenkung sei nicht nachgewiesen.

Die Klägerin hat am 5. Dezember 2016 vor dem Sozialgericht Magdeburg Klage erhoben. Sie sei seit 2011 psychisch erkrankt und müsse wegen Selbstgefährdung unter Beobachtung stehen. Dies sei möglich in der derzeitigen Wohnung, weil die Schwester im Haus gegenüber, die Cousine im selben Haus und die Eltern in ca. 2 km Entfernung lebten. Nach der vorgelegten weiteren Bestätigung der Vermieterin vom 20. Juli 2017 sei in der S. 9, 10 und 27 seit 2013 keine kommunale 2-Raumwohnung anzumieten.

Das Sozialgericht hat den Beigeladenen zu 1. mit Urteil vom 16. Juni 2023 verurteilt, der Klägerin weitere Leistungen für Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 1. September 2016 bis 31. August 2017 zu bewilligen (September bis Dezember 2016: +53,34 €/Monat, Januar bis März, Mai bis Juni und August 2017: +52,14 €/Monat, Juli 2017: 2,91 €). Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen (für April 2017).

Streitgegenständlich seien nur weitere Leistungen für die KdU. Der Beigeladene zu 1. sei notwendig zum Verfahren beigeladen worden und hätte nach § 75 Abs. 5 SGG verurteilt werden können.

Die Klägerin habe keinen weiteren Anspruch nach dem SGB II, weil sie nicht erwerbsfähig gemäß § 8 Abs. 1 SGB II sei. Die Feststellung der DRV hinsichtlich der vollen Erwerbsminderung sei auch ohne Feststellungsverfahren nach § 44a SGB II verbindlich. Eine Leistungsverpflichtung des Beklagten ergebe sich auch nicht aus der Nahtlosigkeits-Regelung nach § 44 Abs. 1 S. 7 SGB II.

Die Klägerin sei aber anspruchsberechtigt nach dem SGB XII, weil sie seit 1. November 2014 voll erwerbsgemindert sei. Bei der nachträglich bewilligten Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer sei auf die tatsächliche Bedarfslage abzustellen.

Sie habe auch Anspruch auf weitere Leistungen für die KdU nach § 42a SGB XII i.V.m. § 35 SGB XII. Es könne dabei offenbleiben, ob ein Kostensenkungsverfahren wirksam durchgeführt worden sei und ob die Richtlinie auf einem schlüssigen Konzept beruhte. Denn die Klägerin habe glaubhaft dargelegt, dass ihr ein Umzug im Wohnungsmietmarkt G. (320 Einwohner) gesundheitlich nicht zuzumuten gewesen wäre. Dies ergebe sich aus dem Attest der Dipl.-Med. H. vom 14. März 2016 und der Erklärung der Vermieterin vom 5. September 2016. Weder der Beklagte noch der Beigeladene zu 1. hätten vorgetragen oder nachgewiesen, dass die Vermieterin andere als 2-Raumwohnungen angeboten hätte.

Der weitere Leistungsanspruch der Klägerin verringere sich um die Gutschriften aus den Betriebs- und Heizkostenabrechnungen.

Die Klägerin sei im streitgegenständlichen Zeitraum auch hilfebedürftig gewesen. Die Rente wegen voller Erwerbsminderung sei ihr erst im Jahr 2019 zugeflossen.

Sie sei auch nicht nach dem Nachranggrundsatz (§ 2 Abs. 2 SGB XII) von Leistungen ausgeschlossen, weil ein Wohngeldanspruch bestanden haben könnte.

Eine Kenntnis des Beigeladenen zu 1. über die Leistungsberechtigung nach dem SGB XII sei nicht erforderlich. Dieser müsse sich die Kenntnis des Beklagten zurechnen lassen. Die Leistungen seien vom Beigeladenen zu 1. daher auch für die Vergangenheit zu erbringen (§ 18 Abs. 2 S. 2 SGB XII). 

Das Sozialgericht hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

Gegen das ihm am 4. Juli 2023 zugestellte Urteil hat der Beigeladene zu 1. am 31. Juli 2023 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Er hat im Wesentlichen folgendes vorgetragen:

Er habe im streitigen Zeitraum keine Kenntnis vom Hilfebedarf der Klägerin gehabt. Sozialhilfe könne aber nicht für die Vergangenheit gewährt werden.

Eine Zurechnung der Kenntnis des Beklagten scheide aus (Hinweis auf das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 26. November 2020, L 4 AS 174/18 ZVW). Die Klägerin habe ihn zudem nicht rechtzeitig über ihre Hilfebedürftigkeit informiert. Nachdem der Beklagte ihren Mehrbedarf abgelehnt habe, hätte sie sich umgehend an das Sozialamt wenden müssen.

Da die Klägerin für die Mehrkosten Schulden aufgenommen habe, sei auch kein Sozialhilfeanspruch entstanden.

Der Anspruch nach dem SGB II gegen den Beklagten sei durch die rückwirkende Gewährung der Erwerbsminderungsrente nicht entfallen.

Dessen Leistungsverpflichtung ergebe sich auch aus § 44a Abs. 1 S. 7 SGB II. Zwar fehle ein Streit zwischen den Behörden über die Erwerbsfähigkeit. Dies sei jedoch auf das pflichtwidrige Verhalten des Beklagten zurückzuführen.

Die Klägerin selbst hätte nach Diagnose ihres Krankheitsbilds einen Antrag auf Überprüfung ihrer Erwerbsfähigkeit bei der DRV stellen müssen.

Ein Verbleiben der Klägerin in der Wohnung sei nicht notwendig gewesen. Sie hätte in eine angemessene Wohnung umziehen können und müssen.

Während des Kostensenkungsverfahrens ab 2011 habe die Klägerin nichts zu einer subjektiven Unzumutbarkeit vorgetragen.

Das Antwortschreiben des Vermieters vom 5. September 2016 lasse nicht erkennen, ob auch nach 1-Raumwohnungen gefragt worden sei.

Die Erkrankung hätte einen Umzug im Nachbareingang oder in der Nähe der Angehörigen erlaubt. Hilfestellungen für die psychische Stabilität oder stationäre Aufenthalte hätten angeboten werden können.

Die attestierte Notwendigkeit eines Verbleibs in ihrer Wohnung aus psychischen Gründen sei nicht glaubhaft. Denn dann hätte sie sich durch die stationären Behandlungen der Gefahr akuter Dekompensationen ausgesetzt.

Fraglich sei, ob die Wohnsituation im Wohnumfeld der Klägerin nach wie vor bestehe. Unklar geblieben sei auch das Ausmaß der erforderlichen familiären Beobachtung.

Mit der Mitteilung des Vermieters vom 20. Juli 2017 könne kein Nachweis ausreichender Suchaktivitäten geführt werden. Es sei auch nicht ersichtlich, ob kleinere Wohnungen frei gewesen wären.

Aus der von der Beigeladenen zu 1. selbst eingeholten Auskunft der gbs vom 27. Juni 2023 ergebe sich, dass eine 27 m² große, angemessene 2-Raumwohnung in der S. vom 1. Februar 2015 bis 3. Februar 2019 frei gewesen wäre. Außerdem seien von 2013 bis 2016 mehrere leerstehende andere Wohnungen (27 bis 46 m²) vorhanden gewesen.

Auch bei subjektiver Unzumutbarkeit des Umzugs verbleibe es bei der Obliegenheit zur Kostensenkung, denn die Kosten blieben unangemessen.

Nach § 35 Abs. 1 SGB XII sei eine Karenzzeit von 6 Monaten ab Leistungsbezug nach dem SGB XII einzuhalten. Die Klägerin habe aber zu keinem Zeitpunkt Leistungen nach dem SGB XII bezogen. Die Karenzzeit sei auch bei Beginn der Erwerbsminderungsrente ab November 2014 längst abgelaufen gewesen.

Außerdem bestehe kein Hilfebedarf, da mit der Rente und einem Wohngeldanspruch der Grundsicherungsbedarf vollständig gedeckt gewesen wäre.

Der Anspruch der Klägerin sei darüber hinaus verwirkt. Wegen der 7-jährigen Kommunikationslücke haben der Beigeladene zu 1. darauf vertrauen dürfen, dass er für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht verpflichtet werde.

Die fehlende Kenntnis des Beklagten von einem Rentenbezug müsse nach dem Grundsatz von Treu und Glauben auch für den Beigeladenen zu 1. gelten.

Der Beklagte sei zur Zahlung zu verurteilen. Er allein habe die Bescheide erlassen und die Leistungen gekürzt bewilligt. Er sei solange zuständig geblieben, bis ein anderer Träger die Leistungen zuerkannt habe. Dies sei mangels Antrags der Klägerin nicht erfolgt.

Der Beigeladene zu 1. beantragt wörtlich,

Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg, AZ S 34 AS 3828/16 vom 16. Juni 2023 wird aufgehoben.

Das Jobcenter Stendal notwendig beizuladen.

hilfsweise:

Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg, AZ S 34 AS 3828/16, vom 16. Juni 2023 wird aufgehoben und das Jobcenter Stendal wird verurteilt, an die Klägerin Leistungen für Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 1. September 2016 bis zum 31. August 2017 wie folgt zu gewähren:

für die Zeit vom 1. September bis 31. Dezember 2016 in Höhe von monatlich 53,34 €,

für die Zeit vom 1. Januar bis 31. März 2017 in Höhe von monatlich 52,14 €,

für die Zeit vom 1. Mai bis 30. Juni 2017 in Höhe von monatlich 52,14 €,

für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Juli 2017 in Höhe von monatlich 2,91 €,

für die Zeit vom 1. August bis 31. August 2017 in Höhe von 52,14 €.

Die Klägerin und die Beigeladenen zu 2. bis 3. haben keine Ausführungen gemacht und keine Anträge gestellt.

Der Beklagte hat den Endbericht aus April 2015 über sein Konzept über die Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung vorgelegt. Er hat mitgeteilt, dass eine Fortschreibung der zur Richtlinie aus 2015 ermittelten Werte nicht erfolgt sei. Er hat ebenfalls keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben sich mit Erklärungen vom, 22., 24., 30. April, 14. und 16. Mai 2024 mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

I.1.

Der Senat konnte über den Rechtsstreit ohne eine mündliche Verhandlung entscheiden. Alle Beteiligten haben sich übereinstimmend hiermit einverstanden erklärt (§§ 153 Abs.1., 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

2.

Die Berufung des Beigeladenen zu 1. ist form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 Abs. 1 SGG). Sie ist auch zulässig, denn das Sozialgericht hat die Berufung zugelassen; der Senat ist an die Zulassung gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).

3.a.

Die Berufung des Beigeladenen zu 1. ist hinsichtlich des Klageantrags zu 1. statthaft. Er ist insoweit durch das angefochtene Urteil beschwert, weil er zur Zahlung von weiteren Leistungen nach dem SGB XII an die Klägerin verpflichtet worden ist.

b.

Unstatthaft ist hingegen der Antrag, den Beklagten notwendig zum Verfahren beizuladen. Denn dieser ist gemäß § 69 Nr. 2 SGG als Partei auch im Berufungsverfahren Beteiligter am Rechtsstreit geblieben. Die notwendige Beiladung nach § 75 Abs. 2 SGG betrifft aber nur sog. „Dritte".

c.

Unstatthaft ist ferner der hilfsweise gestellte Antrag, das Urteil aufzuheben und den Beklagten zur Zahlung der streitigen weiteren Beträge an die Klägerin zu verurteilen.

Der Beklagte oder ein anderer Beigeladener können zwar auch im Berufungsverfahren noch verurteilt werden. Denn das Rechtsmittelgericht hat im Falle der erfolgten Verurteilung eines Beigeladenen zur Leistung über alle infrage kommenden Ansprüche zu entscheiden. Dazu gehört auch ein Anspruch gegenüber dem Beklagten (Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. § 75 Rn. 18c mit Hinweisen zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG).

Der Beigeladene zu 1. kann sich aber nur insoweit gegen das Urteil wenden, soweit er durch dieses beschwert und in eigenen Rechten verletzt ist (Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. § 75 Rn. 19). Insoweit würde die Aufhebung des angefochtenen Urteils genügen, um den Beigeladenen zu 1. von der ihm dort auferlegten Zahlungsverpflichtung zu befreien.

Er kann zwar behaupten, dass nicht er, sondern der Beklagte für die Leistungen zuständig sei. Diese sachliche Unzuständigkeit kann aber nur ein Begründungselement der Berufung sein. Daraus ergibt sich aber keine Befugnis, den Beklagten zur Zahlung der streitigen Leistungen verpflichten zu lassen. Dies würde im Übrigen auch bedeuten, dass der Beigeladene zu 1. von einem Anspruch auf höhere KdU nach dem SGB II ausginge, was er aber im Rahmen des SGB XII vehement bestreitet.

4.

Streitig ist im Berufungsverfahren nur die Verpflichtung des Beigeladenen zu 1. zur Zahlung von weiteren Leistungen für die KdU im streitigen Zeitraum vom 1. September 2016 bis zum 31. August 2017 an die Klägerin.

a.

Zurecht hat das Sozialgericht die Bescheide des Beklagten vom 15. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. November 2016 und des Änderungsbescheids vom 26. November 2016 nicht aufgehoben. Denn nicht der Beklagte, sondern der Beigeladene zu 1. ist zur Zahlung weiterer Leistungen verurteilt worden.

b.

Das Sozialgericht ist auch zu Recht davon ausgegangen, dass Gegenstand des vorliegenden Klageverfahrens nur der Anspruch auf weitere KdU gewesen ist. Die Klägerin hat ihr Begehren ausdrücklich darauf beschränkt (zur Zulässigkeit der Beschränkung des Streitgegenstands: BSG, Urteil vom 17. September 2020, B 4 AS 22/20 R [16]; Urteil vom 2. September 2021, B 8 SO 13/19 R [11]).

II.

Die Berufung des Beigeladenen zu 1. ist überwiegend unbegründet. Das Sozialgericht hat diesen - im Wesentlichen - zurecht verpflichtet, die streitigen Leistungen für weitere KdU nach dem SGB XII zu erbringen.

1.

Eine Anspruchsberechtigung der Klägerin gegenüber dem Beklagten nach dem SGB II für die streitigen weiteren Leistungen ist vorliegend ausgeschlossen.

Leistungen nach dem SGB II erhalten nur Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig sind, hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 8 Abs. 1 SGB II).

a.

Die Klägerin war im streitigen Zeitraum nicht erwerbsfähig in diesem Sinne. Aufgrund der (rückwirkenden) Feststellung der DRV steht fest, dass sie (mindestens) seit dem 1. November 2014 voll erwerbsgemindert war. Hieran ist der Beklagte gebunden (vgl. auch den Rechtsgedanken aus § 44a Abs. 1 Satz 6 und Abs. 2 SGB II). Es bedurfte hier keiner Abstimmung mit dem Sozialhilfeträger gemäß § 44a SGB II (BSG, Urteil vom 11. November 2021, B 14AS 89/20 R [13]).

b.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die fehlende Erwerbsfähigkeit der Klägerin erst nachträglich mit Bescheid vom 17. April 2019 festgestellt wurde und der Beklagte im streitigen Zeitraum laufende Leistungen nach dem SGB II erbracht hatte.

Zwar können die Bewilligungen durch den Beklagten nicht aufgehoben werden, denn entsprechend dem Rechtsgedanken des § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II hatte dieser solange, wie die Erwerbsminderung nicht festgestellt war, rechtmäßig geleistet. Dabei handelte es sich auch nicht um eine lediglich vorläufige Leistungspflicht, vielmehr wurden die Leistungen im Außenverhältnis zu der Klägerin endgültig erbracht (vgl. Brems in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 44a, Rn. 78).

Ein Ausgleich hat über die Erstattungsansprüche zwischen den Leistungsträgern stattzufinden.

c.

Der Beklagte war nicht i.S. einer „Nahtlosigkeit" weiterhin für die bisher noch nicht erbrachten Leistungen nach dem SGB II zuständig. Dies gilt auch, wenn - wie hier - die fehlende Erwerbsfähigkeit rückwirkend festgestellt worden ist (vgl. LSG Hamburg, Urteil vom 21. September 2017, L 4 AS 53/17 [29]; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 22. Januar 2014, L 13 AS 190/12 [ 30]).

Auch das BSG geht davon aus, dass (rückwirkend) ein Anspruch nur gegen den nach Feststellung der vollen Erwerbsminderung zuständig gewordenen SGB Xll-Träger bestehe. Dem stehe nicht entgegen, dass für den streitigen Zeitraum Leistungen nach dem SGB II gewährt worden waren. Maßgeblich sei nicht der Zeitpunkt der Feststellung im Bescheid eines Rentenversicherungsträgers, sondern wann tatsächlich eine Erwerbsminderung eingetreten sei (BSG, Urteil vom 6. Oktober 2022, B 8 SO 1/22 R [18]).

Der Senat hat sich dieser Auffassung bereits ausdrücklich angeschlossen (vgl. Urteil vom 25. Januar 2024, L 5 AS 264/20).

d.

Nicht überzeugend ist auch das Vorbringen des Beigeladenen zu 1., die weitere Zuständigkeit des Beklagten ergebe sich aus dem nicht gemäß § 44a SGB II durchgeführten Feststellungsverfahrens. Es ist hier ohne Bedeutung, dass der Beklagte kein Abstimmungsverfahren eingeleitet hatte.

§ 44a SGB II ist weder direkt noch indirekt im vorliegenden Fall anwendbar. Mangels entsprechendes Feststellungsverfahrens fehlt es an einem Widerspruch des Beigeladenen zu 1. Daher lag also gar kein Streitfall vor, der zulasten des Beklagten nach § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II hätte aufgelöst werden müssen.

Unabhängig davon bestand auch kein Bedürfnis an der Klärung der Zuständigkeiten zwischen zwei Leistungsträgern. Vielmehr ist die Zuständigkeit des Beklagten für Leistungen nach dem SGB II gesetzlich normiert. Sinn und Zweck des § 44a SGB II ist die Regelung von Streitigkeiten über die Frage der Erwerbsfähigkeit potentieller Leistungsberechtigter. Diese sollen nicht zu Verzögerungen bei der Leistungsbewilligung zum Nachteil der Antragsteller führen (Blüggel in Luik/Harich, SGB II, 6. Auflage 2024, § 44a, Rn. 6). Dies gilt allerdings nur, wenn und solange noch Unklarheiten hinsichtlich der Zuständigkeit bestehen. Dies war vorliegend hinsichtlich des streitigen Zeitraums und der noch nicht erbrachten Leistungen gerade nicht der Fall.

e.

Die Verpflichtung des Beigeladenen zu 1. bedeutet auch nicht, dass der Klägerin für den gleichen Zeitraum Leistungen aus zwei unterschiedlichen Leistungssystemen zustehen würden. Aufgrund der feststehenden fehlenden Erwerbsfähigkeit war die Klägerin für den gesamten streitigen Zeitraum dem Rechtskreis des SGB XII zuzuordnen.

Umgesetzt wird dies für die bereits erbrachten Leistungen durch gesetzliche Erstattungsansprüche zwischen dem Beklagten und dem Beigeladenen zu 1. Hinsichtlich der noch nicht erbrachten Leistungen ist deshalb der Weg über eine Leistungsverpflichtung des Beklagten und dessen anschließenden weiteren Erstattungsansprüchen gegenüber dem Beigeladenen zu 1. nicht erforderlich.

2.

Das Sozialgericht hat der Klägerin - überwiegend - zurecht einen Anspruch auf die streitigen weiteren Leistungen gegenüber dem Beigeladenen zu 1. nach dem SGB XII zugesprochen.

a.

Der notwendigen Beiladung des örtlichen Sozialhilfeträgers stand vorliegend nicht entgegen, dass dieser zugleich Rechtsträger des beklagten Jobcenters ist. Ein solcher „In-sich-Prozess" ist zulässig. Erforderlich ist aber, dass die Behörden oder Einrichtungen desselben Rechtsträgers Inhaber eigener Rechte und Pflichten im Verhältnis zueinander sind, über die im Streitfall von der gemeinsamen Spitze nicht verbindlich entschieden werden kann (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2015, B 14 AS 18/14 R [41]; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 54, Rn. 16).

Diese Voraussetzungen sind im Verhältnis zwischen dem Jobcenter eines zugelassenen kommunalen Trägers und dessen Stellung als Sozialhilfeträger erfüllt. Denn ein zugelassener kommunaler Träger muss sich verpflichten, das Jobcenter als besondere Einrichtung zu errichten und zu unterhalten (§ 6a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 5 SGB II). Der Bund trägt bestimmte Aufwendungen dieses zugelassenen kommunalen Trägers einschließlich der Verwaltungskosten (§ 6b Abs. 2 Satz 1 SGB II). Er kann für die Bewirtschaftung der Mittel bestimmte Vorgaben machen (§ 6b Abs. 2, § 46 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 SGB II) und hat seitens des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sowie des Bundesrechnungshofs bestimmte Aufsichts- und Kontrollrechte (§ 6b Abs. 3, 4 SGB II). Letztlich muss der zugelassene kommunale Träger gegenüber dem Bund die Verwendung der erhaltenen Mittel im Rahmen des SGB II belegen (§ 6b Abs. 5 SGB II).

b.

Nicht von Bedeutung ist entgegen der Auffassung des Beigeladenen zu 1., dass dieser über mögliche Ansprüche der Klägerin nach dem SGB XII bisher nicht entschieden hatte.

Nach § 75 Abs. 5 SGG kann einer der dort genannten Leistungsträger verurteilt werden, ohne dass die weiteren Sachentscheidungsvoraussetzungen für eine Klage vorliegen müssen.

Es liegt auch kein bestandskräftiger Ablehnungsbescheid des Beigeladenen zu 1. für den streitigen Zeitraum vor, der seine Verurteilung als notwendig Beigeladener hindern würde.

c.

Das Sozialgericht hat sich auch sachgerecht für eine Verurteilung des Beigeladenen zu 1. entschieden. Die Klägerin hat dies in der mündlichen Verhandlung des Rechtsstreits ausdrücklich hilfsweise beantragt.

d.

Auch der Umstand, dass die Klägerin Leistungen für den streitigen Zeitraum nicht beim Beigeladenen zu 1. beantragt hatte, steht seiner Verurteilung nicht entgegen. Insofern wirkt der Antrag der Klägerin auf Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil (SGBI) auch gegen den Beigeladenen zu 1.

Diese Vorschrift greift auch dann ein, wenn ein Antrag nicht bei einer unzuständigen Stelle, sondern bei einem SGB II-Träger eingeht. Dabei ist unerheblich, ob dieser aufgrund der Regelung des § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II zuständig ist oder sich fälschlich für leistungszuständig gehalten hat (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.). Dies ent-spricht dem Sinn und Zweck des § 16 Abs. 2 SGB I, wonach der Einzelne mit seinem Begehren auf Sozialleistungen gerade nicht an Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb der gegliederten Sozialverwaltung scheitern soll (vgl. BSG, Urteil vom 26. August 2008, B 8/9b SO 18/07 R [22]). Dies gilt in besonderer Weise für das Verhältnis von Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII. Im Zweifel ist insofern davon auszugehen, dass ein Antrag auf Leistungen nach dem einen Gesetz wegen der gleichen Ausgangslage (Bedürftigkeit und Bedarf) auch als Antrag nach dem anderen Gesetz zu werten ist (BSG, a.a.O.).

e.

Soweit der Beigeladene zu 1. ferner meint, dass seine Leistungsberechtigung mangels Kenntnis von der Anspruchsberechtigung der Klägerin ausscheide, kann dem ebenfalls nicht gefolgt werden.

Hier ist nicht § 105 Abs. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) zu prüfen, der die Kenntnis des Sozialhilfeträgers voraussetzt. Dort wird lediglich eine Ausnahme von der Erstattungspflicht zwischen den Leistungsträgern bei Beteiligung des Sozialhilfeträgers bei fehlender Kenntnis geregelt.

Vorliegend ist aber gar nicht über Erstattungsansprüche zwischen den Leistungsträgern für den streitigen Zeitraum zu befinden. Vielmehr stehen gerade nicht die vom Beklagten bereits erbrachten Leistungen nach dem SGB II im Streit, sondern die darüber hinausgehenden, noch offenen Leistungsansprüche der Klägerin.

3.

Die Klägerin hatte im streitigen Zeitraum dem Grunde nach Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gemäß § 41 Abs. 1, Abs. 3 SGB XII.

a.

Insbesondere steht zur Überzeugung aller Beteiligten fest, dass sie im streitigen Zeitraum dauerhaft voll erwerbsgemindert war. Dies ergibt sich aus den Feststellungen der DRV im Rentenbescheid vom 17. April 2019.

b.

Anrechenbares Einkommen oder Vermögen waren bei der Klägerin nicht vorhanden.

Insbesondere war die nachträglich im Jahr 2019 bewilligte Rente nicht auf den Leis-tungsanspruch der Klägerin anzurechnen. Insoweit lag nämlich kein „bereites Mittel“ für den streitigen Zeitraum von September 2016 bis August 2017 vor. Dies gilt auch für die von dem Beigeladenen zu 1. geforderten fiktiven Anrechnung von (seinerzeit nicht bewilligtem) Wohngeld auf den Hilfebedarf der Klägerin.

c.

Dem Anspruch auf weitere Leistungen steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin den nicht übernommenen Mietanteil aus eigenen Mitteln aufgebracht hatte. Nicht nachvollziehbar ist die Auffassung des Beigeladenen zu 1., weil die Klägerin für die Mehrkosten Schulden aufgenommen habe, sei gar kein Sozialhilfeanspruch entstanden.

Der sozialhilferechtliche Grundsatz „keine Leistungen für die Vergangenheit“ gilt nach einhelliger Auffassung nicht für Fälle rechtswidriger Ablehnung und zwischenzeitlicher Bedarfsdeckung, wenn die Leistungsablehnung mit einem zulässigen Rechtsbehelf angefochten wird. Dies gebietet die Garantie des effektiven Rechtsschutzes, weil anderenfalls durch eine rechtswidrige Leistungsablehnung der entstandene Anspruch vereitelt würde (Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, Stand 23.12.2022, § 18 SGB XII [51]).

4.

Der Umfang der Leistungen für die KdU bestimmt sich für die Klägerin nach § 42 Nr. 4 i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Danach bestand im streitigen Zeitraum ein Anspruch auf Leistungen für die Wohnung in tatsächlich geschuldeter Höhe.

Übersteigen die Aufwendungen für die Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang, sind sie insoweit als Bedarf so lange anzuerkennen, als es nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate (§ 35 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB XII).

a.

Der Beklagte hatte die tatsächlichen KdUH nur bis Februar 2013 übernommen. Im streitigen Zeitraum bewilligte er zwar für die Heizkosten mehr als tatsächlich geschuldet war (63 € statt 55 €). Für die Bruttokaltmiete gewährte er jedoch nur 284,79 € €/Monat, ins gesamt also 347,79 €. Die tatsächlichen KdU ohne Heizkosten betrugen im streitigen aber 344,93 €/Monat, sodass die Klägerin trotz der zu hoch bewilligten Heizkosten beschwert ist.

Ob die Klägerin auch Abfallgebühren i.H.v. 49,89 € aufzubringen hatte, wie sie im Weiterzahlungsantrag vom 20. Januar 2016 angab, kann der Senat offenlassen. Denn insoweit hat sie kein Rechtsmittel gegen das angefochtene Urteil eingelegt.

b.

Auf eine zulässige Kürzung der KdU auf die Angemessenheit nach Ablauf der Karenzzeit ab März 2013 kann sich der Beigeladene zu 1. nicht berufen. Die diesbezüglichen Überlegungen des Sozialgerichts sind nicht zu beanstanden.

Auch zur Überzeugung des Senats war die Klägerin bereits seit dem Jahr 2011 und insbesondere in dem streitigen Zeitraum aus gesundheitlichen Gründen gehindert, ihre Unterkunftskosten durch einen Umzug außerhalb ihres Wohnorts abzusenken. Die vom Sozialgericht allein auf das Attest der Dipl.-Med. H. vom 14. März 2016 gestützte Einschätzung hat sich nach Beiziehung der Verwaltungsvorgänge der DRV bestätigt.

Danach litt die Klägerin seit 2011 zunehmend mehr unter rezidivierenden depressiven Zuständen. Erstmals befand sie sich wegen einer schweren Episode im Januar 2012 in tagesklinischer, danach bis 17. April 2012 in stationärer und schließlich bis Juni 2012 wieder in tagesklinischer Behandlung. Im März 2014 erfolgte abermals eine stationäre Behandlung wegen schwerer Depression. Eine psychosomatische Rehabilitationskur wurde im Juli/August 2014 durchgeführt. Nach dem Gutachten des Dr. P. nach Aktenlage für die Agentur für Arbeit Stendal vom 23. Oktober 2014 hingegen lag eine mehr als 6-monatige erhebliche Minderung der Leistungsfähigkeit vor. Von Oktober 2014 bis Januar 2015 befand sich die Klägerin wieder in stationärer Behandlung wegen bipolarer effektiver Störung bei gegenwärtig schwerer depressiver Episode. Zwischen Februar 2015 und April 2017 erfolgten dann sieben kürzere stationäre Aufenthalte zur Durchführung von Erhaltungs-EKT. Nach dem Gutachten des Dr. W. vom 21. Juni 2018 lagen eine bipolare effektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode vor. Wegen der erheblichen Funktionseinschränkungen sei die Klägerin schon seit dem 18. Januar 2012 - also weit vor dem von der DRV anerkannten Leistungsfall - nicht mindestens 3 Stunden täglich zu Arbeiten mit einfachen geistigen Anforderungen in der Lage gewesen.

Dieser dokumentierte Krankheitsverlauf stützt die Einschätzung der Fachärztin für Neu-rologie und Psychiatrie Dipl.-Med. H. im Attest vom 14. März 2016 vollumfänglich, wonach ein Verbleib der Klägerin in der Wohnung oder im Wohnumfeld dringend erforderlich gewesen sei.

c.

Die Einwände des Beigeladenen zu 1. hinsichtlich der Bedeutung der Erkrankung für die subjektive Unmöglichkeit eines Umzugs können nicht überzeugen.

Der Versuch, das Attest der Dipl.-Med. H. vom 14. März 2016 in Zweifel zu ziehen, gelingt nicht. Die Argumentation, gegen die Notwendigkeit eines Verbleibens in der Wohnung aus psychischen Gründen sprächen die erfolgten stationären Behandlungen wegen der dortigen Gefahr akuter Dekompensationen, zeugt von einem völligen Fehlverständnis der Voraussetzungen für eine stationäre Behandlung. Diese ist immer dann erforderlich, wenn eine ambulante Behandlung nicht mehr ausreichend ist. Je nach Einschätzung des einweisenden Arztes muss dann die Bedeutung des Wohnumfelds für die Gesunderhaltung zurücktreten.

Der Senat kann auch offenlassen, ob die Unzumutbarkeit eines Umzugs bereits in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Kostensenkungsaufforderung 2011/2012 vorgelegen haben musste, oder ob diese auf den streitigen Zeitraum 2016/2017 zu beziehen ist. Denn nach der überzeugenden Einschätzung des Gutachters Dr. W. vom 21. Juni 2018 lagen die erheblichen Funktionseinschränkungen bereits seit dem 18. Januar 2012 (erste tagesklinische Behandlung) vor.

d.

Ob die Auffassung des Beigeladenen zu 1., die bipolare Störung hätte einen Umzug im Nachbareingang oder in der Nähe der Angehörigen nicht ausgeschlossen, zutrifft, muss nicht entschieden werden.

Denn die Behauptung, es hätten im streitigen Zeitraum im näheren Wohnumfeld angemessene Wohnungen zur Verfügung gestanden, ist nicht belegt.

a.a.

Zu Recht hat das Sozialgericht die Zumutbarkeit des Umzugs nicht anhand eines Vergleichsraums nach dem Konzept des Beklagten, sondern anhand des örtlichen Wohnungsmarkts am Wohnort der Klägerin geprüft. Deren Vortrag, auf die Unterstützung und Beaufsichtigung durch die dort lebenden Angehörigen angewiesen gewesen zu sein, hat sich durch die Ermittlungen des Senats bestätigt:

Nach dem Attest der Dipl.-Med. H. vom 28. Mai 2014 war die Klägerin seinerzeit nur mit Begleitung reisefähig. Der Rehabilitationsentlassungsbericht vom 28. August 2014 beschreibt die notwendige weitgehende Übernahme des Haushalts und des Schriftverkehrs durch die Eltern sowie eine fehlende Teilhabe am sozialen Leben. Wegen der massiven Antriebslosigkeit sei die Klägerin nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Der Gutachter Dr. W. hatte ebenfalls eine intensive Betreuung durch die Eltern und die Söhne beschrieben. So war die Klägerin etwa im August 2016 nach Mitteilung der Mutter mehrere Tage verschwunden und es mussten polizeiliche Suchaktionen eingeleitet werden.

b.b.

Entgegen der Behauptung des Beigeladenen zu 1. hat sich gerade nicht bestätigt, dass eine 27 m2 große 2 Raumwohnung in der S. vom 1. Februar 2015 bis 3. Februar 2019 und mehrere leerstehende andere Wohnungen (27 bis 46 m²) von 2013 bis 2016 anzumieten gewesen wären.

Die frühere Vermieterin hatte unter dem 5. September 2016 und dem 20. Juli 2017 mitgeteilt, dass seit 2013 in der S. 9 bis 10 keine freien 2-Raumwohnun-gen zur Verfügung gestanden hätten. Es ist zwar richtig, dass dies das Vorhandensein von (freien) Wohnungen mit weniger als 2 Räumen nicht ausschließt.

Aus der von der Beigeladenen zu 1. selbst eingeholten Auskunft der gbs vom 27. Juni 2023 ergibt sich aber nichts anderes. Denn diese enthält eindeutig die Einschränkung, dass eventuell leerstehende Wohnungen z. B. wegen anstehender Instandhaltungsmaßnahmen o.ä. bewusst nicht vermietet worden sein könnten. Dies kann auch auf die beispielhaft genannte 2-Raumwohnung zugetroffen haben.

Soweit in der Auskunft auch eine leerstehende 1-Raumwohnung mit 30 m² genannt ist, hat diese ohnehin außeracht zu bleiben. Denn diese hätte nur bis Februar 2016 zur Verfügung gestanden, also außerhalb des streitigen Zeitraums.

e.

Nicht nachvollziehbar ist der Hinweis des Beigeladenen zu 1. auf das Urteil des BSG vom 19. Februar 2009 (wohl: B 4 AS 30/08 R), wonach auch bei subjektiver Unzumutbarkeit der Kostensenkung die Kosten der Unterkunft unangemessen blieben. Daraus folgt allein, dass (erst) nach Wegfall der die Kostensenkung hindernden Umstände kein Anspruch (mehr) auf die Weiterbewilligung der vollen Unterkunftskosten besteht.

Auch im Rahmen des SGB XII gelten die Wohnkosten als angemessen, solange relevante Besonderheiten des Einzelfalls vorliegen. Dies kann auch bei einem Ablauf der Regelfrist von 6 Monaten der Fall sein (BSG, Urteil vom 6. Oktober 2022, B 8 SO 7/21 R [25]).

f.

Die behauptete Verwirkung des Anspruchs der Klägerin liegt offenkundig nicht vor. Der Beigeladene zu 1. durfte nicht darauf vertrauen, dass die Klägerin keine Leistungen gegen ihn geltend machen würde.

Einem Träger der öffentlichen Verwaltung kann kein unzumutbarer Nachteil durch die - gesetzlich vorgesehene - nachträgliche Zahlungsverpflichtung als Beigeladener entstehen (vgl. BSG, Urteil vom 28. Oktober 2009, B 14 AS 56/08 R [17]).

Es fehlt aber auch ein Verwirkungsverhalten der Klägerin, etwa ein schriftlich erklärter Verzicht auf Leistungen nach dem SGB XII gemäß § 46 Abs. 1 SGB I.

Der Vorwurf, der Beklagte sei von der Klägerin nicht umfassend über das laufende Ren-tenverfahren informiert worden, ist auch in keiner Weise nachvollziehbar. Die fehlende Kenntnis eines Rentenbezugs beim Beklagten lag schlicht daran, dass die DRV die Rente nicht bewilligt hatte.

Eine mehrjährige Kommunikationslücke (zwischen wem?) hätte bei dem Beigeladenen zu 1. ebenfalls nicht das Vertrauen wecken können, dass er für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht verpflichtet würde. Der reine Zeitablauf genügt nicht für ein geschütztes Vertrauen.

5.

Der Beigeladene zu 1. ist daher zu Recht verpflichtet worden, die Differenz zwischen den tatsächlichen KdU und den bereits vom Beklagten gewährten KdU an die Klägerin zu zahlen.

Allerdings hat das Sozialgericht übersehen, dass die Bruttokaltmiete sowohl 2016 als auch 2017 durchgehend 344,93 €/Monat betrug (Grundmiete 293,86 €, Betriebskostenabschlag 51,07 €). Für September bis Dezember 2016 war keine höhere Bruttokaltmiete i.H.v. 346,13 €/Monat fällig. Für die Heizkostenabschläge waren durchgehend 55 €/ Monat zu zahlen.

Aus diesem Grund war das Urteil für die Monate September bis Dezember 2016 zugunsten des Beigeladenen zu 1. abzuändern.

6.

Das Sozialgericht hat aus den o.g. Gründen zu Recht offengelassen, ob die Kostensenkungsaufforderung wirksam erfolgt war, und ob der Beklagte seiner Richtlinie ein wirksames Konzept nach Rechtsprechung des BSG zugrunde gelegt hatte.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache. Der leistungsverpflichtete Beigeladene zu 1. hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen (vgl. BSG, Urteil vom 12. Mai 2021, B 4 AS 34/20 R). Das Obsiegen des Beigeladenen zu 1. ist so gering, dass eine Kostenquotelung ausscheidet.

Ein Grund für die Zulassung der Revision nach § 160 SGG liegt nicht vor. Es handelt sich um eine Entscheidung zu einem Einzelfall auf gesicherter Rechtsgrundlage.

Rechtskraft
Aus
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