L 9 SO 216/23

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 SO 52/21
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 216/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 30.05.2023 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 13.01.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.02.2021 verurteilt, dem Kläger 1.091,23 € zu zahlen.

Die Beklagte hat die Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Übernahme von noch offenen Friedhofsgebühren, die die Beklagte als Friedhofsträgerin anlässlich der Beerdigung der Mutter des Klägers von ihm fordert.

Die Mutter des N01 geborenen Klägers wohnte in W. und verstarb dort am 03.09.2018. Der Kläger bezog damals und bezieht laufend Rente wegen voller Erwerbsminderung und ergänzend Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII. Die Verstorbene hatte 2014 einen Bestattungsvorsorgevertrag mit dem Bestattungsunternehmen Y. abgeschlossen, in dem detaillierte Vorgaben für die Durchführung der Bestattung gemacht worden waren. U.a. beinhaltete die Vereinbarung die Bestattung in einem Eichensarg mit einer besonderen Innenauskleidung, die veranschlagten Kosten beliefen sich auf insgesamt 8.247,20 €. Zur Abdeckung der Kosten setzte die Verstorbene die Fa. Y. als Bezugsberechtigte einer Lebensversicherung bei der H.-Versicherung ein. Aus dieser Versicherung wurden beim Todesfall 5.776,08 € an das Bestattungsunternehmen ausgezahlt.

Die Beklagte schloss 2014 mit dem Stadtverband des Bestattungsgewerbes W. eine Preisvereinbarung über Bestattungskosten für Leistungsberechtigte nach dem SGB XII ab. Hiernach werden für eine gewöhnliche Erdbestattung 1.100,33 € (zuzüglich Gebühren) angesetzt.

Der Kläger beantragte am 06.09.2018 Bestattungsleistungen bei der Beklagten für den 11.09.2018 und bevollmächtigte am 06.09.2018 das Bestattungsunternehmen Y., die Bestattung in einem Reihengrab gegenüber der Beklagten abzuwickeln. Mit Rechnung vom 08.10.2018 berechnete das Bestattungsunternehmen für die Beerdigung der Verstorbenen 3.591,56 €. Mit bestandskräftigem Gebührenbescheid vom 12.09.2018 stellte die Beklagte – Fachbereich „Stadtgrün“ – dem Kläger Friedhofsgebühren iHv insgesamt 3.275,75 € für eine Reihengrab in Rechnung. Von der Versicherungssumme der H.-Lebensversicherung behielt die Fa. Y. einen Betrag iHv 3.591,56 € für die eigene Rechnung ein, den Restbetrag iHv 2.184,52 € überwies sie an die Beklagte, so dass noch Gebühren iHv 1.091,23 € offen sind. Insgesamt kostete die Beerdigung 6.867,31 €.

Der Kläger schlug am 15.10.2018 als gesetzlicher Erbe die angefallene Erbschaft aus.

Am 27.06.2019 beantragte der Kläger die Übernahme der offenen Bestattungsgebühren. Er legte den Gebührenbescheid der Beklagten und den Bestattungsvorsorgevertrag vor.

Mit Bescheid vom 13.01.2020 lehnte die Beklagte den Antrag auf Übernahme der Bestattungskosten gem. § 74 SGB XII ab, weil die angemessenen Bestattungskosten (1.100,33 €) zuzüglich der Gebühren (insgesamt 4.376,08 €) durch die Leistung der Lebensversicherung hätten gedeckt werden können.

Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, auf die Vertragsgestaltung mit dem Bestattungsunternehmen keinen Einfluss gehabt zu haben. Dies habe seine verstorbene Mutter zu Lebzeiten vorgenommen. Auf Nachfrage durch die Beklagte teilte er Namen von verschiedenen Verwandten mit, die als Erben in Betracht kämen. Zu diesen habe er aber keinen Kontakt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 03.02.2021 wies die Beklagte (unter Beteiligung sozial erfahrener Dritter) den Widerspruch zurück. Die geltend gemachten Bestattungskosten seien (anders als die erhobenen Gebühren) sozialhilferechtlich nicht als erforderlich anzusehen. Außerdem seien Erben vorrangig verpflichtet. Auf diesen Regress sei der Kläger zu verweisen, die Inanspruchnahme der Erben sei dem Kläger im Hinblick auf den sozialhilferechtlichen Nachrangrundsatz zumutbar.

Gegen den ihm am 16.02.2021 zugestellten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 09.03.2021 Klage erhoben. Er hat geltend gemacht, die Inanspruchnahme von Erben sei gescheitert und zum Beleg einen Schriftwechsel mit der Verwandten Gerhild Sperling vorgelegt, in dem diese ihn lediglich auf das Nachlassgericht verweist. Andere Verwandte seien unter der ihm bekannten Anschrift nicht zu ermitteln gewesen. Er hat zudem geltend gemacht, zur Abwicklung der Bestattung habe er keinen Kontakt mit dem Bestatter gehabt, die Vollmacht vom 06.09.2018 habe er aber bei dem Bestatter unterschrieben.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13.01.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.02.2021 zu verurteilen, die offenen Bestattungskosten iHv 1.091,23 € zu übernehmen.

Die Beklagte hat beantragt,

            die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht hat das Bestattungsunternehmen Y. befragt, ob von diesem auch „Sozialbestattungen“ durchgeführt werden und um wieviel günstiger die Bestattung auch hätte durchgeführt werden können. Die Frage nach Sozialbestattungen hat die Fa. Y. verneint. Mit günstigeren Bestellungen für den Sarg und die Innenauskleidung läge der nicht gedeckte Betrag bei noch 487,23 €.

Mit Urteil vom 30.05.2023 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Dem Kläger sei die Kostentragung zumutbar, weil er Regressansprüche gegen die vorrangig verpflichteten Erbens geltend machen könne. Außerdem seien die Bestattungskosten nicht angemessen. Der von der Beklagten benannte Wert iHv 1.100,33 € sei als angemessener Wert anzusehen.

Gegen das ihm am 26.06.2023 zugestellte Urteil hat der Kläger am 12.07.2023 Berufung eingelegt. Die Inanspruchnahme der Verwandten sei ihm über die bisherigen Bemühungen hinausgehend nicht zumutbar, er könne gegen diese keine kostspieligen Rechtsstreitigkeiten führen.

Der Kläger beantragt,

  

das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 30.05.2023 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13.01.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.02.2021 zu verurteilen, die offenen Bestattungskosten iHv 1.091,23 € zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Hilfsweise sei noch hinzuzufügen, dass unabhängig davon ein Anspruch des Klägers jedenfalls auf einen Betrag in Höhe von 487,23 € beschränkt wäre. Denn wäre für die Bestattung ein schlichter Kiefernsarg und die günstigere Variante der Deckengarnitur gewählt worden, hätten die Bestattungskosten um 508 € für den Sarg sowie 96 € für die Deckengarnitur, insgesamt um 604 € gesenkt werden können. Sozialhilferechtlich könne es im Übrigen nicht darauf ankommen, ob der Kläger Einfluss auf den Inhalt des Bestattungsvorsorgevertrags mit dem Bestatter gehabt hatte oder nicht.

Der Senat hat die Vereinbarung der Beklagten mit dem Stadtverband der Bestatter in W. beigezogen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die statthafte (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) und auch sonst zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig, der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von 1.091,23 €. Der Kläger verfolgt sein Begehren zu Recht im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG). Nach der entsprechenden Vereinbarung der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung des Senats kann die Beklagte an Erfüllungs statt die Gebührenforderung um diesen Betrag reduzieren.

Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 74 SGB XII. Hiernach werden die erforderlichen Kosten einer Bestattung übernommen, soweit den hierzu Verpflichteten nicht zugemutet werden kann, die Kosten zu tragen. Der Anspruch auf "Übernahme" der Bestattungskosten iSd § 74 SGB XII richtet sich auf Zahlung der erforderlichen Bestattungskosten an den Leistungsempfänger, gleich, ob die Forderung des Bestattungsunternehmens bereits beglichen oder aber nur fällig sein sollte. Der Begriff der Übernahme des § 74 SGB XII ist nicht iS eines Schuldbeitritts zur Zahlungsverpflichtung gegenüber dem Bestattungsunternehmen zu verstehen (BSG Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 23/08 R).

§ 18 SGB XII findet im Rahmen des § 74 SGB XII keine Anwendung (BSG Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 23/08 R). Auf den Kenntniszeitpunkt der Beklagten kommt es daher nicht an.

Der Kläger ist grundsätzlich aktivlegitimiert hinsichtlich des Anspruchs nach § 74 SGB XII, denn er ist als Sohn der Verstorbenen gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 BestattungsG NRW bestattungspflichtig („Zur Bestattung verpflichtet sind in der nachstehenden Rangfolge Ehegatten, Lebenspartner, volljährige Kinder, Eltern, volljährige Geschwister, Großeltern und volljährige Enkelkinder [Hinterbliebene]“). Diese öffentlich-rechtliche Verpflichtung besteht unabhängig von der erbrechtlichen Verpflichtung gem. § N01 BGB, die Kosten einer Beerdigung zu tragen. Diese Pflicht trifft den Erben, dazu gehört der Kläger nicht, da er die Erbschaft ausgeschlagen hat.

Die Beklagte ist als sachlich und örtlicher Sozialhilfeträger für den geltend gemachten Anspruch passivlegitimiert (§§ 97 Abs. 1, 98 Abs. 3 Alt. 2 SGB XII)

Der Kläger kann in Abweichung zu der Entscheidung des Sozialgerichts und der Auffassung der Beklagten nicht auf eine vorrangige Inanspruchnahme der Verwandten verwiesen werden. Ist ein etwaiger Ausgleichsanspruch derart zweifelhaft und ist sogar dessen gerichtliche Durchsetzung erforderlich, weil der Anspruchsgegner die Übernahme der Kosten bereits abgelehnt hat, oder mit derartigen Unwägbarkeiten verbunden, dass ein Erfolg unsicher ist, kann es dem Bestattungspflichtigen nicht zugemutet werden, sich auf einen langwierigen Prozess mit ungewissem Ausgang einzulassen. Bei den denkbaren Forderungen des Bestattungspflichtigen handelt es sich dann nicht um bereites Vermögen, durch dessen Einsatz er sich iS des § 2 Abs. 1 SGB XII selbst helfen kann. Der Sozialhilfeträger erleidet hierdurch keinen unverhältnismäßigen Nachteil, denn er hat die Möglichkeit, den behaupteten Ausgleichsanspruch auf sich nach § 93 SGB XII überzuleiten. Er trägt dann allerdings das Prozessrisiko, das dem Bestattungspflichtigen im Rahmen der Zumutbarkeit iS von § 74 SGB XII nicht auferlegt werden darf (BSG Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 23/08 R). Der Kläger hat ausgeführt, dass er die genannten Personen nicht näher kennt und teilweise nicht weiß, ob diese überhaupt mit ihm bzw. seiner Mutter verwandt sind. Er hat vorgetragen, die Personen angeschrieben zu haben, ohne eine belastbare Reaktion erhalten zu haben. Der Senat hat keinen Anlass, an diesen Angaben zu zweifeln, durch die Vorlage des Schriftwechsels mit der Verwandten Sperling hat der Kläger sein Vorbringen in geeigneter Weise belegt.

Der Kläger kann von vornherein nicht darauf verwiesen werden, dass die Gebührenforderung durch die Lebensversicherung hätte gedeckt werden können, wenn eine Bestattung gewählt worden wäre, die den ordnungsbehördlichen Sätzen für „Sozialbestattungen“ entspricht. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 25.08.2011 – B 8 SO 20/10 R) wird gegen das Verbot pauschaler Leistungsbegrenzung verstoßen, wenn bei der Prüfung der Erforderlichkeit iSd § 74 SGB XII Vergütungssätze, die aus ordnungsrechtlich veranlassten Beerdigungen und vertraglichen Regelungen mit Bestattungsunternehmen resultieren, zugrunde gelegt werden. § 74 SGB XII stellt ausdrücklich - ohne Pauschalierungsmöglichkeit - auf eine individuelle Berechnung ab.

Vorliegend kann der Kläger die gesamte offene Gebühr fordern. Er kann nicht darauf verwiesen werden, dass – wie das Bestattungsunternehmen Y. mitgeteilt hat – die Beerdigung unter Verwendung eines einfacheren Sarges und einer preiswerteren Innenauskleidung auch hätte günstiger durchgeführt werden können, so dass nur noch ein Betrag iHv 487,23 € offengeblieben wäre. Allerdings soll § 74 SGB XII nur eine angemessene Bestattung garantieren. Der Steuerzahler soll sozialhilferechtlich nur für eine würdige Bestattung aufkommen müssen. Hierfür sind die ortsüblichen Preise für Beerdigungen im unteren bis mittleren Einkommenssegment zu ermitteln. Zu berücksichtigen ist allerdings auch, dass dem Bestattungspflichtigen im Hinblick auf die ihm üblicherweise zur Verfügung stehende nur kurze Zeit und die besondere Belastungssituation keine umfassende Prüfungspflicht abverlangt werden kann, welches der vor Ort oder im erweiterten Umkreis ansässigen Bestattungsunternehmen die günstigsten Bedingungen bieten kann. Vielmehr müssen alle Kostenansätze akzeptiert werden, die sich nicht außerhalb der Bandbreite eines wettbewerbsrechtlich orientierten Marktpreises bewegen (BSG Urteil vom 25.08.2011 – B 8 SO 20/10 R).

Vorliegend begehrt die Kläger indes nicht die eigentlichen Beerdigungskosten, sondern die noch nicht aus der Lebensversicherung beglichene Bestattungsgebühr für ein einfaches Reihengrab einer Erdbestattung. Hierbei handelt es sich um ihn treffende „erforderliche Kosten“ iSd § 74 SGB XII. Die eigentlichen Bestattungskosten für die Leistung des Beerdigungsunternehmens mit einer Bestattung im Eichensarg und Verwendung einer teureren Innenauskleidung, wurden vom Kläger nicht veranlasst, da seine Mutter den entsprechenden Vertrag mit dem Beerdigungsunternehmen verbindlich abgeschlossen hatte. Der Umstand, dass der Kläger als Bestattungspflichtiger am 06.09.2018 die Beerdigung bei der Beklagten beantragt hat und das Bestattungsunternehmen zur Abwicklung der Bestattung bevollmächtigt hat, ändert nichts daran, dass die Art und Weise der Bestattung durch die Verstorbene als Vertragspartnerin des Beerdigungsunternehmens festgelegt worden ist.

Dies hat nicht etwa zur Folge, dass der Träger der Sozialhilfe Bestattungskosten in unbegrenzter Höhe übernehmen muss, wenn der Verstorbene dies zu seinen Lebzeiten mit dem Bestattungsunternehmen vereinbart hat. Die vertraglich vom Erblasser eingegangenen Verbindlichkeiten stellen Erbfallschulden dar und sind damit als Nachlassverbindlichkeiten gem. §§ 1922, 1967 Abs. 1 BGB von den Erben zu übernehmen, sodass dann für den Sozialhilfeträger keine Kosten anfallen. Ist der Nachlass überschuldet und wird die Erbschaft - wie hier - ausgeschlagen, entfällt die Verpflichtung zu Übernahme evtl. unangemessener vom Erblasser eingegangener Verbindlichkeiten durch die Erben. Den Bestattungspflichtigen, der nicht als Erbe, sondern allein aufgrund landesrechtlicher Vorschriften zur Bestattung verpflichtet ist, treffen Verbindlichkeiten, die der Erblasser eingegangen ist, nicht. Im vorliegenden Verfahren ist zudem zu berücksichtigen, dass die Beklagte durch die von der Erblasserin eingegangene vertragliche Konstruktion die eigentlichen Beerdigungskosten eingespart hat, und nur die Friedhofsgebühren nicht vollständig gedeckt sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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