Für den Beginn der Vollstreckbarkeit nach § 154 Abs. 2 SGG ist auf den ersten nach Erlass des angefochtenen Urteils fällig werden Betrag abzustellen, welcher zumindest auch einen nach dem Erlass des angefochtenen Urteils liegenden Zahlungszeitraum betrifft.
Die Gefahr, dass sich eine „Urteilsrente“ nicht zurückfordern lässt, rechtfertigt die Aussetzung der Vollstreckung grundsätzlich nicht.
Eine Kostenentscheidung ist im Verfahren nach § 199 Abs. 2 SGG nicht zu treffen.
Der Antrag der Beklagten, die Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 20. Juli 2023 durch einstweilige Anordnung auszusetzen, wird abgelehnt.
Gründe
Durch den mit der Klage angefochtenen Bescheid hat die Beklagte der Klägerin ab 1. August 2020 Altersrente für langjährig Versicherte mit einem Abschlag für vorzeitige Inanspruchnahme gewährt. Mit der Klage hat die Klägerin geltend gemacht, stattdessen abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte beanspruchen zu können. Das Sozialgericht hat die Beklagte durch Urteil vom 20. Juli 2023 entsprechend dem gestellten Klageantrag verurteilt. Zwischen den Beteiligten ist in der Sache streitig, ob sich der Rentenanspruch aus einer rechtsverbindlichen Erklärung der Beklagten ergibt, obwohl die materiellrechtlichen Voraussetzungen für den Rentenanspruch objektiv nicht erfüllt sind.
Nachdem die Klägerin angekündigt hatte, aus dem Urteil vollstrecken zu wollen, hat die berufungsführende Beklagte mit Schriftsatz vom 3. Juli 2024 beantragt, die Vollstreckung auszusetzen. Die erforderliche Interessenabwägung spreche für eine solche Anordnung. Der Lebensunterhalt der Klägerin sei schon durch die bewilligte Rente gesichert. Dagegen sei zweifelhaft, ob die Klägerin im nicht unwahrscheinlichen Fall des Erfolgs der Berufung in der Lage sei, die Urteilsrente zurückzuzahlen. Bei vorläufiger Ausführung des Urteils sei deshalb ein irreversibler finanzieller Schadens für die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Rentenversicherung zu erwarten.
Der zulässige Antrag ist unbegründet.
Gemäß § 199 Abs. 2 SGG kann der Vorsitzende des Gerichts, das über ein Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts hat nur insoweit aufschiebende Wirkung, als es sich um Beträge handelt, die von ihr als Versicherungsträger der gesetzlichen Rentenversicherung für die Zeit vor Erlass des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen (§ 154 Abs. 2 SGG). Das Urteil ist deshalb vollstreckbar (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG), soweit es Rentenzahlungen ab Juli 2023 (nicht, wie im Schreiben vom 19. Juli 2024 angegeben: August 2023) betrifft.
§ 154 Abs. 2 SGG ist, soweit er hier entscheidungserheblich ist, unverändert aus dem vor Inkrafttreten des SGG geltenden § 1710 RVO übernommen worden (s. auch zum Folgenden BT-Dr. 01/4357, 31 zum § 102 des Entwurfs einer Sozialgerichtsordnung, wortgleich übernommen in die Ursprungsfassung des SGG, BT-Dr. 01/4567, 24 und Nachtrag 4). Durch die Regelung soll der vor dem Sozialgericht obsiegende Versicherte die ihm zugesprochenen Leistungen erhalten, „damit – wenigstens für die Zukunft – der Lebensunterhalt des Versicherten … sichergestellt ist“. Eine konkrete Bedarfsprüfung ordnet das Gesetz nach seinem Wortlaut nicht an. Durch § 154 Abs. 2 SGG wird deshalb die unwiderlegliche Vermutung aufgestellt, dass die in Frage stehende Sozialleistung der Deckung des Lebensunterhalts dient.
Der Vorschrift ist nicht zu entnehmen, dass es die Bestimmungen der Leistungsgesetze über Zahlungszeiträume oder Fälligkeiten ändern wollte. Für den Beginn der Vollstreckbarkeit ist deshalb auf den ersten nach Erlass des angefochtenen Urteils fällig werden Betrag abzustellen, welcher zumindest auch einen nach dem Erlass des angefochtenen Urteils liegenden Zahlungszeitraum betrifft.
Die Zahlbeträge der gesetzlichen Rentenversicherung werden monatsweise berechnet, ein Rentenbeginn oder –ende während eines laufenden Monats ist grundsätzlich nicht vorgesehen (s. §§ 99 ff. SGB VI). Fällig werden laufende Geldleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung mit Ausnahme des Übergangsgeldes am Ende des Monats, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind (§ 118 Abs. Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Der erste nicht vom Aufschub der Vollstreckung erfasste Betrag im Sinne des § 154 Abs. 2 SGG ist deshalb die ausgeurteilte Leistung für den Monat Juli 2023.
Die Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung steht im Ermessen des Gerichts unter Abwägung der Interessen beider Verfahrensbeteiligter (s. stellvertretend in diesem Sinne, auch zum Folgenden, BSG, Beschluss vom 8. Februar 2009 – B 8 SO 17/09 R –, Rn 9). Danach ist vorliegend eine einstweilige Aussetzung der Vollziehung nicht gerechtfertigt.
Aus § 154 Abs. 2 SGG folgt, dass die zukunftsgerichtete Vollstreckbarkeit eines Urteils den gesetzlichen Regelfall darstellt. Die Aussetzung der Vollstreckung ist folglich der Ausnahmefall, der vorliegt, wenn das Rechtsmittel offensichtlich Aussicht auf Erfolg hat.
Dies lässt sich nicht feststellen. Das Sozialgericht hat seine Entscheidung ausführlich begründet. Der Vortrag der Beteiligten im Berufungsverfahren lässt nicht den Schluss zu, dass das angefochtene Urteil bereits bei oberflächlicher Betrachtung ohne vertiefte Auseinandersetzung mit dem Beteiligtenvorbringen und somit „offensichtlich“ aufzuheben und die Klage abzuweisen ist.
Die von der Beklagten geltend gemachte Gefahr, dass sich eine etwaig gezahlte Urteilsrente nicht zurückfordern ließe und auf diese Weise dauerhaft ein Schaden für die gesetzliche Rentenversicherung einträte, rechtfertigt die Aussetzung nicht. Wie sich an der oben angeführten Begründung für die Vorgängervorschriften des § 154 Abs. 2 SGG zeigt, ging der Gesetzgeber typisierend davon aus, dass durch die vollstreckungsfähigen Beträge der Lebensunterhalt gesichert wird. Angesichts dessen musste er auch davon ausgehen, dass diese Beträge laufend verbraucht werden und deshalb regelmäßig nicht zur Verfügung stehen, um etwaige Rückforderungsansprüche der Versicherungsträger durchsetzen zu können.
Gründe, aus denen ausnahmsweise trotzdem fiskalische Aspekte zu berücksichtigen sein könnten, sind umso weniger ersichtlich, als der vollstreckbare monatliche Rentenbetrag nach der von der Beklagten auf Anforderung des Senats eingereichten Probeberechnung bei deutlich weniger als 70 Euro liegt. Selbst im ungünstigsten Fall einer mehrjährigen Dauer des Berufungsverfahrens erscheint ein etwaig nicht einbringlicher Betrag deshalb vergleichsweise geringfügig.
Eine Entscheidung über außergerichtliche Kosten war nicht zu treffen, weil es sich bei dem Verfahren nach § 199 Abs. 2 SGG nicht um ein rechtlich selbständiges handelt (s. BSG a.a.O. ohne Begründung; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. Mai 2009 – L 20 AS 1664/08 ER – mit ausführlicher Begründung). Dem steht der Beschluss des BVerfG vom 4. August 2016 – 1 BvR 380/16 – betreffend die Gewährung von Prozesskostenhilfe für ein solches Verfahren nicht entgegen, weil das Fachgericht die auch vom BVerfG (Rn 15) als streitig bezeichnete Frage nach der rechtlichen Selbständigkeit des Verfahrens nach § 199 Abs. 2 SGG bejaht hatte.
Gegen diesen Beschluss gibt es kein Rechtsmittel (§ 177 SGG).