S 18 U 12/23

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Nürnberg (FSB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
18.
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 18 U 12/23
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 215/23
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

I. Der Bescheid vom 04.10.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.01.2023 wird aufgehoben. Der Unfall der Klägerin am 10.01.2022 ist als Arbeitsunfall anzuerkennen.

II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten.


T a t b e s t a n d :

Streitig ist, ob die Klägerin auf dem Heimweg zurück in das Homeoffice in der Mittagspause am 10.01.2022 eines Arbeitsunfalls einhergehend mit einer Leistungspflicht der gesetzlichen Unfallversicherung erlitten hat.

Die xxxx geborene Versicherte verunfallte am 10.01.2022 in der Mittagspause auf dem Heimweg mit ihrem PKW. Laut dem Durchgangsarztbericht vom 12.01.2022 ist die Klägerin am 10.01.2022 um 12:50 Uhr mit dem PKW verunfallt und in ein Krankenhaus verbracht worden. Sie zog sich eine Pilon tibiale Fraktur links sowie eine Claviculaschaftfraktur links zu.
Im Fragebogen der Beklagten gab die Klägerin an, dass sie sich Essen aus dem Homeoffice heraus geholt habe. Mit Bescheid vom 04.10.2022 lehnte die Beklagte eine Anerkennung des Verkehrsunfalls vom 10.01.2022 als Arbeitsunfall ab, da im Homeoffice Wege zur Nahrungsaufnahme nicht versichert seien.
Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12.01.2023 zurück. Wege zur Nahrungsaufnahme seien versichert, wenn die Nahrungsaufnahme zum Erhalt der Arbeitskraft und damit zur Fortsetzung der versicherten Tätigkeit erforderlich sei. Versichert seien auch Weg zum Bäcker etc., da die Vorgabe des Einsatzortes durch betriebliche Gegebenheiten in der Vorbereitung und Durchführung der Essenseinnahme gewissen Restriktionen unterlägen. Diese Gründe träfen im Homeoffice nicht zu.
Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 18.01.2023 Klage zum Sozialgericht Nürnberg. Im ereigniszeitpunkt habe ein Lock down bestanden, die Klägerin sei auf Weisung des Betriebs im Homeoffice gewesen. Die Klägerin habe in ihrer Mittagspause nur schnell einen Döner im nächsten Ort holen wollen. Im Anschluss daran sei gleich ein betriebliches Teams-Meeting angesetzt gewesen. Ein eigenwirtschaftliches Interesse bei dem Holen der Mittagsverpflegung habe nicht bestanden.


Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 04.10.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.01.2023 aufzuheben und festzustellen, dass der Unfall der Klägerin am 10.01.2022 als Arbeitsunfall anzuerkennen ist.        

Die Beklagte beantragt
  die Klage abzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf den Widerspruchsbescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakte sowie das Vorbringen der Beteiligten verwiesen.

 

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :


Die form- und fristgerecht eingelegte Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid vom 04.10.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.01.2023 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte hat zu Unrecht die Anerkennung des Ereignisses vom 10.01.2022 als Arbeitsunfall abgelehnt.
Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) - sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3, 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Versicherte Tätigkeit ist nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls ist danach in der Regel erforderlich, dass das Verhalten des Versicherten, bei dem sich der Unfall ereignete, der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist. Dieser innere bzw. sachliche Zurechnungszusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der zum Unfall führenden Verrichtung ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Bei dieser Wertung, ob der Versicherte zur Zeit des Unfalls eine der versicherten Tätigkeit zuzurechnende Verrichtung ausgeübt hat, stehen Überlegungen nach dem Zweck des Handelns mit im Vordergrund (BSG, Urteil vom 24. Juni 2003 - Az.: B 2 U 24/02 R; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 16. März 2023 - L 14 U 29/22 -, juris).
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG stehen auch Wege zur Nahrungsaufnahme während der Arbeitszeit (z.B. Weg zur Gaststätte, um dort Essen einzunehmen, Weg zum Lebensmittelgeschäft, um dort Lebensmittel oder Getränke zum Verzehr während der Mittagspause zu erwerben - siehe BSG, Urteil vom 11. Mai 1995 - Az.: 2 RU 30/94 - Rn. 16 und BSG, Urteil vom 24. Juni 2003 - Az.: B 2 U 24/02 R - Rn. 14 m.w.N.) unter Versicherungsschutz, weil sie dadurch gekennzeichnet sind, dass sie regelmäßig unaufschiebbare, notwendige Handlungen sind, um die Arbeitskraft des Versicherten zu erhalten und es ihm zu ermöglichen, die jeweilige betriebliche Tätigkeit fortzusetzen. Das Essen und Trinken selbst sowie der Aufenthalt am Ort der Nahrungsaufnahme sind in der Regel dem persönlichen Bereich zuzuordnende nicht versicherte Betätigungen (BSG, Urteil vom 24. Juni 2003 - Az.: B 2 U 24/02 R - Rn. 14 m.w.N. - zitiert nach juris).
Mit dem "Gesetz zur Förderung der Betriebsratswahlen und der Betriebsratsarbeit in einer digitalen Arbeitswelt (Betriebsrätemodernisierungsgesetz)" vom 14. 6. 2021 wurde mit Wirkung zum 18. 6. 2021 der Unfallversicherungsschutz bei Tätigkeiten außerhalb der Unternehmensstätte modifiziert. Konkret wurde - den Arbeitsunfall betreffend - im Wortlaut des § 8 Abs. 1 SGB VII ein neuer Satz 3 angefügt. Danach besteht Versicherungsschutz in gleichem Umfang wie bei Ausübung der Tätigkeit auf der Unternehmensstätte, wenn die versicherte Tätigkeit im Haushalt der Versicherten oder an einem anderen Ort ausgeübt wird.
Zudem wurde im Regelungskontext des Wegeunfalls eine Nr. 2a in den Gesetzestext des § 8 Abs. 2 SGB VII aufgenommen.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist das Ereignis vom 10.01.2022 nach Überzeugung der Kammer als Arbeitsunfall anzuerkennen.
Die Klägerin hat nach ihren eigenen glaubhaften Ausführungen in der mündlichen Verhandlung am Unfalltag von morgens bis zur Mittagspause im Homeoffice gearbeitet. Sie hat sich in der Mittagspause entschieden, in der am nächsten liegenden Gelegenheit einen Döner als Mittagsverpflegung zu holen. Auf dem direkten Rückweg von dem Imbiss nach Hause ist sie mit dem PKW verunfallt.

Die Klägerin war wohl unstreitig zum Unfallzeitpunkt als Beschäftigte "Versicherte" im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII. Sie hat am 10.01.2022 einen Autounfall erlitten und sich hierdurch als Gesundheits(erst)schaden eine Pilon tibiale Fraktur links sowie eine Claviculaschaftfraktur links zugezogen. Der Unfall ereignete sich auf direktem Weg von der Nahrungsaufnahme außer Haus zurück zur Arbeit im Homeoffice.

Unter Anwendung des § 8 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Nr. 1 SGB VII befand sich die Klägerin auf einem versicherten Weg, so dass ein Arbeitsunfall anzuerkennen war. Dies ergibt sich aus nachfolgenden Überlegungen:
Die Klägerin hat ihren Arbeitsplatz im Homeoffice lediglich in der Mittagspause verlassen, um auf direktem Weg sich eine Mittagsverpflegung zu holen. Nach den vom BSG festgelegten Maßstäben stünde dieser Weg unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, hätte sie ihren Betrieb für dieselbe Verrichtung verlassen. Der Gesetzgeber hat nunmehr mit § 8 Abs. 1 Satz 3 SGB VII klargestellt, dass es keinerlei Unterscheidung zwischen dem Versicherungsschutz im Betrieb geben soll, wenn die versicherte Tätigkeit im Homeoffice durchgeführt wird. Schon aus diesem Grund ist (auch im Wege der Gleichbehandlung) der Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Tatsache, dass ein Wegeunfall unter Abs. 2 zu subsumieren ist. Nach Ansicht der Kammer gilt Abs. 1 Satz 3 als grundlegende Feststellung auch für die Beurteilung von Wegen nach Abs. 2 (a.A. Bieresborn, WzS 2022, S. 9)
Ein Arbeitsunfall kann nach Ansicht der Kammer auch nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass vom Homeoffice aus ein Weg zur Nahrungsaufnahme nicht in einer ähnlichen besonderen Beziehung zur Betriebstätigkeit stehe wie bei Ausübung der Tätigkeit auf der Unternehmensstätte selbst, da Beschäftigte im Homeoffice i. d. R. die Nahrung im häuslichen Bereich aufnehmen könnten und nicht gleichermaßen z. B. auf ein Restaurant oder eine Kantine angewiesen seien. Eine solche Differenzierung entspricht nicht mehr der heutigen Lebenswirklichkeit, wo jederzeit und überall hin sowohl fertige Gerichte über diverse Lieferdienste in Betriebe wie auch nach Hause geliefert werden können, als auch Grundnahrungsmittel per Lieferdienst bestellt und an den gewünschten Ort geliefert werden können. Mittlerweile haben viele Betriebe (Tee-) Küchen, dagegen auch viele Menschen mehr nur noch rudimentäre Kochgelegenheiten zu Hause (so auch Kokemoor, SGb 2022, 527, 531). Maßstab kann nach Ansicht der Kammer lediglich sein, ob die im Zeitpunkt des Unfalls verrichtete Tätigkeit privaten oder betrieblichen Zwecken diente. Vorliegend hat die Klägerin keine weiteren privaten Einkäufe getätigt, sie hat sie vielmehr vor dem Teams-Meeting noch schnell glaubhaft zum Erhalt der Arbeitskraft einen Döner geholt und ist dann verunfallt. Ein Versicherungsschutz ist in dieser Fallkonstellation mithin nach voller Überzeugung der Kammer gegeben (so auch Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 16. März 2023 - L 14 U 29/22 -, juris unter Hinweis auf Tendenzen des BSG, Urteil vom 18. Juni 2013 - B 2 U 7/12 R in Rn 22).

Der Klage war daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
 

 

Rechtskraft
Aus
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