L 11 SB 200/21

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 40 SB 29/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 SB 200/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

 

  1. Die VersMedV ist in Teil B Nr. 16.10 anwendbar und nicht nichtig, obwohl sie nicht mehr dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht, wie etwa der Entwurf des BMAS zur nicht in Kraft getretenen Sechsten Verordnung zur Änderung der VersMedV, Stand 28. August 2018, zu 16.11.2 „Störungen der Gerinnungsfunktion und Blutungsneigung“ zeigt.
  2. Die VersMedV hat seit dem 15. Januar 2015 über § 159 Abs. 7 SGB IX in der ab dem 15. Januar 2015 geltenden Fassung bzw. § 241 Abs. 5 SGB IX in der ab dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung Gesetzesrang (Anschluss an BSG, Urteile vom 14. Juni 2018 - B 9 BL 1/17 R - und vom 24. Oktober 2019 - B 9 SB 1/18 R).
  3. Der Senat konnte sich nicht die Überzeugung bilden, dass der Gesetzgeber Teile der VersMedV, die nichtig gewesen sind, zum 15. Januar 2015 nicht in den Gesetzesrang heben wollte. Es ist nicht einmal ersichtlich, dass der Gesetzgeber überhaupt von einer Teilnichtigkeit der VersMedV ausgegangen ist.
  4. Soweit die in den Gesetzesrang erhobene VersMedV in Widerspruch zu § 152 Abs. 1 Satz 4 SGB IX in der ab dem 1. Januar 2024 geltenden Fassung bzw. § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2023 geltenden Fassung steht, kann dieser Widerspruch nur durch die Anwendung des spezielleren Rechts, hier also die konkreten Regelungen zur Hämophilie in der VersMedV, gelöst werden, das das allgemeinere Recht in § 152 SGB IX verdrängt.
  5. Darin liegt auch kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 26. August 2021 wird zurückgewiesen.

 

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren. Die Kostenentscheidung erster Instanz bleibt hiervon unberührt.

 

Die Revision wird zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

Streitig ist, ob der Kläger ab dem 31. Juli 2018 ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 und ab dem 25. März 2019 ein GdB von 90 beanspruchen kann.

 

Der  2017 geborene Kläger, ein zweieiiger Zwilling, leidet an einer Hämophilie A, die erstmals am 10. Juli 2018 in der Charité, Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie diagnostiziert wurde. Er wurde ab dem 4. August 2018 einer Immuntoleranztherapie nach dem holländischen Schema (50 IE/kg/KG alle zwei Tage) unterzogen und mit der intravenösen Gabe von Faktor VIII behandelt (Entlassungsbericht vom 16. Juli 2018).

 

Der Kläger stellte am 31. Juli 2018 einen Antrag auf erstmalige Feststellung eines GdB und die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ (Berechtigung für eine ständige Begleitung). Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme stellte der Beklagte mit Bescheid vom 29. August 2018 einen GdB von 30 wegen einer Hämophilie A fest und erkannte das Merkzeichen „H“ (Hilflosigkeit) zu, lehnte aber die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ ab. Eine Nachuntersuchung wurde für Juli 2023 angekündigt. Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch begehrte der Kläger einen GdB von 80 bis 100 und die Merkzeichen „H“ und „B“. Er, der Kläger, leide an einer besonders schweren Form der Hämophilie A. Aufgrund der schwierigen Venenverhältnisse sei ihm am 13. August 2018 ein zentralvenöser Broviac-Katheder implantiert worden. Aufgrund der Schwere seiner Erkrankung sei er hilflos, vermehrt verletzungsgefährdet und auf ständige Beobachtung, Begleitung und Pflege angewiesen. Im Weitern bezog sich der Kläger auf den endgültigen Arztbrief der Charité vom 15. August 2018. Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Januar 2019 wies der Beklagte den Widerspruch nach erneuter Befragung des versorgungsärztlichen Dienstes zurück.

 

Dagegen hat der Kläger am 11. Februar 2019 Klage bei dem Sozialgericht Neuruppin erhoben und geltend gemacht, er leide an einer schweren Form einer Hämophilie A mit einer Restaktivität von unter 1%. Hinzu träten Weichteil- und Sickerblutungen. Diese seien am rechten Unterarm und am Zungenbändchen festgestellt worden. Die Behandlung werde zudem durch schwierigste Venenverhältnisse erschwert. Teil B Nr. 16.10 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) sehe dafür einen GdB von 80 bis 100 vor. Ein GdB von mindestens 80 sei daher angemessen.

 

Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, nach zweimaligem Befund der Charité am 16. Juli und 15. August 2018 habe bei Einleitung einer Substitutionstherapie zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides noch nicht von einem dauerhaften Zustand ausgegangen werden können. Unter der Therapie sei eine Stabilisierung bzw. Besserung möglich.

 

Das Sozialgericht hat einen Behandlungsbericht des Sozialpädiatrischen Zentrums für chronisch kranke Kinder der Charité (SPZ) vom 11. Dezember 2019 beigezogen (Seit 11/2018 sind keine FVIII-Hemmkörper nachgewiesen worden. Seither gab es auch keine spontanen oder vermehrten Blutungen mehr. Die Hochdosis Immuntoleranztherapie wurde kontinuierlich reduziert, so dass der Kläger nur noch einmal alle zwei Tage 56 IE/kg KG Faktor VIII bekommt) und einen Befundbericht der Kinderärztin Dr. L vom 27. März 2020 eingeholt.

 

Der Beklagte hat unter Bezugnahme auf versorgungsärztliche Stellungnahmen vom 23. April 2020 und 9. Juni 2020 die Auffassung vertreten, zu bewerten sei ein Faktor VIII-Mangel mit mäßigen Auswirkungen. Es werde keine Gefahr einer lebensbedrohlichen Blutung beschrieben, keine Blutungsneigung, auch bei Traumen keine Blutungszeichen. Die bisherige Bewertungsgrundlage der VersMedV, Blutungskrankheiten anhand der Restaktivität des antihämophilen Globulins (AHG) zu bewerten, sei veraltet und entspreche nicht mehr dem medizinisch-wissenschaftlichen Standard. Die Möglichkeiten der Therapie seien optimiert. Die Teilhabebeeinträchtigungen bei Hämophilie richteten sich nach der Häufigkeit notwendiger therapeutischer Maßnahmen (Substitutionstherapie) und den mit der Gesundheitsstörung einhergehenden klinischen Funktionseinschränkungen aufgrund von Blutungen (z.B. Gelenkeinblutungen). Somit erfolge seine Bewertung bei der Hämophilie bei genannten Substitutionen und ohne Blutungen mit einem GdB von 30. Die Voraussetzungen für die Vergabe des Merkzeichens „B“ seien nach den vorliegenden Befunden nicht erfüllt. Hilflosigkeit sei bei Notwendigkeit der Substitutionsbehandlung bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres, darüber hinaus häufig, je nach Blutungsneigung (zwei oder mehr Gelenkblutungen pro Jahr) und Reifegrad, auch noch weitere Jahre anzunehmen.

 

Der Kläger hat dem entgegen gehalten, nach der VersMedV sei seine Behinderung mit mindestens 80 zu bewerten. Das sehe das SPZ ebenso, wie sich aus der Bescheinigung vom 29. Mai 2020 ergebe. Zudem ergebe sich aus dem amtsärztlichen Gutachten des Landkreises Oranienburg vom 25. März 2019, dass bei ihm neben der schweren Hämophilie insbesondere eine Entwicklungsstörung bestehe. Neben der Notwendigkeit eines Einzelfallhelfers werde eine weitere heilpädagogische Frühförderung angeregt. Dies solle trotz des Wechsels in eine Integrations-Kita aufrechterhalten werden, wie sich aus der Stellungnahme der Heilpädagogin B vom 8. Juni 2020 ergebe. Seine bei der Pflege äußerst gewissenhafte Mutter habe in der Vergangenheit nicht verhindern können, dass es zu behandlungspflichtigen Notfällen gekommen sei. Trotz der Gabe der Notfallspritze, die außerhalb der normalen Dosierung der Gerinnungsmittel immer dann zum Einsatz komme, wenn er sich verletze, seien in der Vergangenheit auch immer wieder außerplanmäßige Besuche in der Notaufnahme notwendig gewesen. Keinesfalls könne die optimale Pflege durch die Mutter zur Herabsenkung des angemessenen GdB führen.

 

Der Beklagte hat einen Entwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) (Auszug) - 6. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung, Bearbeitungsstand 28. August 2018, 12:00 Uhr, vorgelegt, auf den wegen der Einzelheiten ebenso Bezug genommen wird wie auf die von dem Beklagten als Anlagen 2 - 8 - gekennzeichneten und vorgelegten Unterlagen, die die Entwicklung der Therapie von Blutungskrankheiten aufzeigt.

 

Nach Einholung eines weiteren Behandlungsberichts des SPZ vom 2. Oktober 2020 (seit November 2018 sind erfreulicherweise keine FVIII-Hemmkörper bei dem Kläger nachgewiesen worden. Seither gab es auch keine spontanen oder vermehrten Blutungen mehr. Die Hochdosis Immuntoleranztherapie wurde kontinuierlich reduziert, sodass der Kläger aktuell nur noch zweimal/Woche 50 IE/kg KG Faktor VIII bekam. Wegen der Schwierigkeiten mit der venösen Punktion und um den Broviak-Katheter entfernen zu können und dem Kläger somit eine normale Teilhabe am Alltag zu ermöglichen, erfolgte am 28. September 2020 die Umstellung der Hämophilieprophylaxe auf Emicizumab.) hat der Beklagte mit Schreiben vom 15. Februar 2021, eingegangen bei Gericht am 19. Februar 2021, ein Teilanerkenntnis abgegeben und mit Wirkung ab dem 31. Juli 2018 einen GdB von 40 festgestellt.

 

Mit Schreiben vom 19. März 2021 hat das Sozialgericht Nachfrage bei dem BMAS, Referat Va2 zu der Frage gehalten, ob die Bewertungskriterien für Hämophilie in Teil B Nr. 16.10 VersMedV noch dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechen. Mit Schreiben vom 29. März 2021 hat Dr. N vom BMAS erklärt, der vom BMAS veröffentlichte Entwurf sei zwar nicht verbindlich, enthalte aber gleichwohl gebündelt den aktuellen, international anerkannten wissenschaftlichen Stand zu den dort aufgeführten Gesundheitsstörungen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Er beruhe auf den Empfehlungen des unabhängigen ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim BMAS, der zusammen mit den von ihm für die einzelnen Gesundheitsstörungen beauftragten Expertengruppen auf Grundlage der evidenzbasierten Medizin beraten habe.

 

Nach Eingang einer psychologischen Stellungnahme zum aktuellen Entwicklungsstand des Klägers vom SPZ vom 10. Juni 2021 (Verhaltensauffälligkeiten, aggressives Verhalten, geringe Steuerungsfähigkeit) hat der Beklagte unter dem 6. Juli 2021, eingegangen bei Gericht am 9. Juli 2021, ein weiteres Teilanerkenntnis abgegeben und eine Verhaltensstörung mit Auswirkungen auf die Integrationsfähigkeit in mehreren Lebensbereichen analog Teil B Nr. 3.5.2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet und einen GdB von 50 ab dem 10. Juni 2021 anerkannt. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis am 22. Juli 2021 angenommen, die Klage aber im Übrigen aufrecht gehalten.

 

Mit Urteil vom 26. August 2021 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 29. August 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Januar 2019 in der Fassung der Teilanerkenntnisse vom 15. Februar 2021 und 6. Juli 2021 verpflichtet, bei dem Kläger für den Zeitraum vom 31. Juli 2018 bis zum 24. März 2019 einen GdB von 80 und mit Wirkung ab dem 25. März 2019 einen GdB von 90 festzustellen sowie festzustellen, dass der Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ erfüllt. Der Beklagte ist zur Erstattung von 7/8 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers verpflichtet worden. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, die führende Gesundheitsstörung, von der bei der Bildung des Gesamt-GdB auszugehen sei, bestehe bei dem Kläger im Funktionssystem Blut, blutbildende Organe und Immunsystem und sei ab Antragstellung am 31. Juli 2018 mit einem Einzel-GdB von 80 zu bewerten gewesen. Der Kläger leide unter einer Hämophilie A. Dies ergebe sich aus den im Verwaltungsverfahren vorgelegten Arztberichten der Charité und den Berichten des SPZ und sei im Übrigen zwischen den Beteiligten nicht umstritten. Die Bewertung dieser Blutungskrankheit richte sich nach Teil B Nr. 16.10 der VersMedV. Bei dem Kläger liege eine schwere Form der Hämophilie A mit einer Restaktivität von weniger als einem Prozent vor. Dies stehe für die Kammer aufgrund der Arztbriefe der Charité fest. Diese dauerhafte Gesundheitsstörung des Klägers sei nach den Vorgaben der VersMedV mit einem Einzel-GdB von 80 zu bewerten. Eine höhere Bewertung komme nicht in Betracht, da nach den vorliegenden Berichten im streitbefangenen Zeitraum eine Besserung bzw. Stabilisierung der Erkrankung zu verzeichnen sei. Während bei dem Kläger im Zeitpunkt der Antragstellung noch eine Hemmkörper-Hämophilie vorgelegen habe, die sich durch die Bildung von Abwehrstoffen gegen den körpereigenen Berechnungsfaktor ausgezeichnet und bei dem Kläger zu den für dieses Krankheitsbild typischen Weichteileinblutungen geführt habe, sei es im weiteren Verlauf mittels Immuntoleranztherapie gelungen, diese Hemmkörper zu unterdrücken. Seit dem 9. November 2018 seien bei dem Kläger keine FVIII-Hemmkörper nachweisbar gewesen. Nach den Berichten des SPZ seien seither spontane Blutungen nicht mehr bzw. nur mehr sehr selten aufgetreten. In dem Arztbrief des SPZ vom 2. Oktober 2020 werde berichtet, dass sich die Dauermedikation des Klägers inzwischen auf die FVIII-Substitution beschränke. Die Verabreichung des Faktors erfolge dabei über einen implantierten Port (Venenkatheder), was dem Kläger häufige Veneneinstiche erspare und die therapiebedingten Beeinträchtigungen reduziere. Zuletzt sei eine Umstellung auf eine prophylaktische Behandlung mit Emicizumab eingeleitet worden, die auch den Katheder entbehrlich mache und eine normale Teilhabe des Klägers am Alltag weiter erleichtere. Vor diesem Hintergrund erachte die Kammer eine Bewertung am unteren Rand des für die schwere Hämophilie eröffneten GdB Rahmens von 80 - 100 als erforderlich, aber auch als ausreichend.

 

Von der Anwendung der in der VersMedV für die Hämophilie niedergelegten Bewertungsmaßstäbe sei vorliegend auch nicht deshalb abzusehen, weil diese gegen höherrangiges Recht verstoßen würden. Zwar gehöre nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu den rechtlichen Vorgaben nach §§ 2, 152 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), dass die Bewertung des GdB dem aktuellen Stand der Medizin entsprechen müsse. Auch bestünden vorliegend durchaus gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die geltenden Bewertungskriterien für Hämophilie in Teil B Nr. 16.10 VersMedV nicht mehr dem aktuellen Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft entsprächen, da diese ausschließlich die Restaktivität sowie die Häufigkeit und das Ausmaß von Blutungen, nicht jedoch den medizinisch notwendigen Therapieaufwand berücksichtigten. Dafür, dass diese allein am Therapieergebnis ausgerichtete Bewertungsgrundlage inzwischen veraltet sein könne, spreche - neben den von dem Beklagten durch ausgewählte Fachartikel dargelegten Entwicklungen in der Therapie von Blutungserkrankungen - insbesondere der Entwurf des BMAS für die 6. Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 28. August 2018. Dieser habe eine Neuausrichtung der Bewertungskriterien in einer neu gefassten Nr. 16.11.2 vorgesehen, der auf die Behandlungsbedürftigkeit, die Faktorsubstitution sowie auf das Vorliegen von Störungen weiterer Funktionen abstelle und zur Begründung ausführe, dass die im Plasma vorhandene Faktoraktivität nicht regelhaft auf die tatsächliche Häufigkeit und Schwere von Blutungsereignissen schließen lasse und deshalb nur bedingt für die Beurteilung der Teilhabebeeinträchtigungen geeignet sei. Diese werde bei Störungen der Gerinnungsfunktion vielmehr insbesondere von den Geboten, auftretenden (Spontan-)Blutungen sowie dem Therapieaufwand bestimmt. Zwar sei dieser vom BMAS veröffentlichte Entwurf nicht beschlossen und damit nicht verbindlich geworden. Jedoch habe das BMAS in seiner Stellungnahme vom 29. März 2021 nochmals bekräftigt, dass darin gleichwohl gebündelt der aktuelle, international anerkannte wissenschaftliche Stand zu den dort aufgeführten Gesundheitsstörungen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung enthalten sei.

 

Die danach bestehende Diskrepanz zwischen den Bewertungsmaßstäben in Teil B Nr. 16.10 der geltenden Fassung der VersMedV und den aktuellen medizinischen Erkenntnissen führe jedoch nicht dazu, dass von einer Anwendung dieser Maßstäbe auf den vorliegenden Sachverhalt abgesehen werden könne. Etwas Anderes folge auch nicht aus der Entscheidung des BSG vom 13. April 2009 - B 9 SB 3/08 R - zur Bewertung des Diabetes mellitus. Dieser, zur früheren Rechtslage ergangenen Entscheidung habe zugrunde gelegen, dass die damals geltende VersMedV - wie jede untergesetzliche Norm - auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen, insbesondere § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX a.F. – zu prüfen und im Fall eines Verstoßes nicht anzuwenden sei. Diese Rechtsprechung könne auf den vorliegenden Fall jedoch nicht übertragen werden. An einer Nichtanwendung von Teil B Nr. 16.10 VersMedV sei die Kammer bereits dadurch gehindert, dass es sich hierbei nicht um untergesetzliches Recht handele. Vielmehr komme den Regelungen der VersMedV nach geltender Rechtslage Gesetzesrang zu (BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019 - B 9 SB 1/18 R -). Dies folge aus § 241 Abs. 5 SGB IX. Danach gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend, soweit noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen sei. Von der in § 153 Abs. 2 SGB IX geregelten Verordnungsermächtigung habe der Gesetzgeber bislang noch keinen Gebrauch gemacht. Für die Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung über Grundsätze, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend seien, verbleibe es gemäß § 241 Abs. 5 SGB IX bei der entsprechenden Anwendung der bisher erlassenen Rechtsverordnungen und damit bei der bisherigen Rechtslage, d. h. der Anwendung der VersMedV einschließlich der versorgungsmedizinischen Grundsätze im Gesetzesrang (BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019 - B 9 SB 1/18 R -). Die Einordnung als formelles Gesetzesrecht folge aus dem Umstand, dass dem § 241 Abs. 5 SGB IX, auch wenn er eine Verordnung für entsprechend anwendbar erkläre, nicht Verordnungs-, sondern Gesetzesrang zukomme. Auch handele es sich bei § 241 Abs. 5 SGB IX nicht um ein verordnungsänderndes Parlamentsgesetz, das zur Folge hätte, dass die VersMedV als sogenannte Parlamentsverordnung im Verordnungsrang weitergelten würde. Denn die Vorschrift nehme keine Anpassung der VersMedV oder der versorgungsmedizinischen Grundsätze vor, sondern erkläre die geltenden Regelungen umfassend für weiterhin anwendbar und hebe sie somit in den Rang von (formellem) Gesetzesrecht.

 

Soweit die Beurteilungsmaßstäbe der geltenden versorgungsmedizinischen Grundsätze für Hämophilie - entgegen den Vorgaben des § 152 SGB IX - nicht mehr dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprächen, ergäbe sich damit höchstens ein Widerspruch zwischen gleichrangigen Normen innerhalb desselben Gesetzes. Dies berechtige die Kammer jedoch nicht dazu, diese Bewertungsmaßstäbe zu verwerfen, solange sie nicht geändert oder aufgehoben seien. Auch ergebe sich hieraus kein Anlass für eine Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Dass die geltende VersMedV gegen höherrangiges Verfassungsrecht verstoße, werde auch vom Beklagten nicht vorgetragen. Insbesondere sei nicht ersichtlich, dass hier ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot in Art. 3 Abs. 1 GG vorliegen könne. Vielmehr würde gerade die Nichtanwendung von Teil B Nr. 16.10 VersMedV die Gefahr einer Ungleichbehandlung und Rechtsunsicherheit begründen. Denn es sei unklar, welcher Bewertungsrahmen stattdessen gelten solle, nachdem der genannte Verordnungsentwurf des BMAS nicht angenommen worden sei und auch höchstrichterliche Rechtsprechung hierzu nicht existiere.

 

Der GdB für die bei dem Kläger vorliegende Hämophilie A sei somit weiterhin dem in Teil B Nr. 16.10 VersMedV vorgegebenen Rahmen zu entnehmen und vorliegend mit 80 zu bewerten.

 

Für die bei dem Kläger vorliegende psychische Störung sei im Funktionssystem Nervensystem und Psyche ein Einzel-GdB von 40 anzunehmen. Der Kläger leide an einer Verhaltens- und emotionalen Störung in Form einer sonstigen Störung sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit, die sich im sozial-emotionalen Bereich durch ein hyperaktives und aggressives Verhalten und eine ausgeprägte Egozentrik sowie durch eine Sprachentwicklungsverzögerung äußere. Dies ergebe sich aus dem amtsärztlichen Gutachten des Landkreis Oberhavel vom 20. März 2019, dessen diagnostischer Zuordnung die Kammer folge, sowie aus der psychologischen Stellungnahme des SPZ vom 10. Juni 2021. Die Bewertung dieser psychischen Störung sei vorliegend in Analogie zu den Vorgaben in Teil B Nr. 3.5.2 VersMedV (hyperkinetische Störung und Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität) vorzunehmen. Insoweit folge die Kammer der überzeugenden Einschätzung des Versorgungsarztes R. Gegen eine grundsätzlich auch in Betracht kommende Bewertung nach Maßgabe von Teil B Nr. 3.4.1 VersMedV spreche insbesondere, dass die vorliegenden Befunde keine Entwicklungsverzögerung des Klägers belegten. Insbesondere eine Störung der geistigen Entwicklung sei nicht ersichtlich. Im Vordergrund stehe vielmehr eine Verhaltensauffälligkeit auf der Grundlage einer traumatischen Krankheitsverarbeitung. Die Verhaltensstörung des Klägers und insbesondere die damit verbundenen aggressiven Durchbrüche hätten mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten zur Folge mit negativen Auswirkungen auf dessen Integrationsfähigkeit in der Kita sowie auf das familiäre Zusammenleben. Dies belegten die Feststellungen in dem genannten amtsärztlichen Gutachten, wonach sich bei dem Kläger ein ausgeprägtes Rückzugs- und Vermeidungsverhalten zeige, er sich Gruppenaktivitäten häufig verweigere und in Überforderungssituationen und bei Grenzziehungen Schwierigkeiten in der Affektregulation zeige. Dass das Störungsbild fortbestehe, zeige die aktuelle psychologische Stellungnahme des SPZ sowie der Umstand, dass dem Kläger inzwischen ein Integrationsstatus in der Kita sowie ein Einzelfallhelfer bewilligt worden seien. Der GdB-Rahmen für mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten von 30 - 40 sei vorliegend auszuschöpfen, da die Auswirkungen der bei dem Kläger vorliegenden Verhaltensstörung schwere Anpassungsstörungen, die die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung oder umfassende Beaufsichtigung ermöglichten, zumindest angenähert seien. Hierfür spreche insbesondere, dass bei dem Kläger die Notwendigkeit eines Einzelfallhelfers anerkannt worden sei. Gestützt werde dies durch die psychologische Stellungnahme des SPZ, wonach der Kläger „ständige Beobachtung und Betreuung“ benötige. Ein GdB von 50 sei jedoch nicht erreicht. Denn es sei vorliegend zu berücksichtigen, dass eine kinderpsychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung noch nicht aufgenommen worden und die Bewilligung des Einzelfallhelfers erst kürzlich erfolgt sei. Außerdem ergebe sich aus der psychologischen Stellungnahme, dass die Bestellung eines Einzelfallhelfers zum Teil auch durch das körperliche Leiden des Klägers bedingt sei, um ihn vor Verletzungen und damit einhergehenden Blutungen zu schützen, die aus seinem hyperaktiven Verhalten resultierten. Der Nachweis für die bei dem Kläger vorliegende, nicht nur vorübergehende mittelgradige Verhaltensstörung habe bereits mit dem amtsärztlichen Gutachten vom 25. März 2019 vorgelegen.

 

Der Gesamt-GdB des Klägers sei ab Antragstellung mit 80 und ab dem vom 25. März 2019 mit 90 zu bewerten. Die Anhebung des höchsten GdB von 80 um einen Zehnergraden auf 90 berücksichtige, dass das störungsbedingt impulsive und aggressive Verhalten des Klägers die Gefahr von Verletzungen mit Blutungsfolgen erhöhe und somit von einer gegenseitigen negativen Beeinflussung bei den Krankheiten auszugehen sei.

 

Der Kläger habe auch einen Anspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichens „B“. Er erfülle die Voraussetzungen nach § 229 Abs. 2 Satz 1 SGB IX und Teil D Nr. 2 Buchstabe b VersMedV. Dies folge aus dem amtsärztlichen Gutachten des Landkreis Oberhavel vom 25. März 2019 sowie insbesondere aus der psychologischen Stellungnahme des SPZ. Da auch die weiteren Voraussetzungen (Schwerbehinderteneigenschaft, Feststellung des Merkzeichens „H“) vorlägen, sei dem Kläger das Merkzeichen „B“ zuzuerkennen.

 

Gegen das am 8. September 2021 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 6. Oktober 2021 Berufung eingelegt, zu deren Begründung er ausführt, er halte das Urteil für unrichtig, soweit dieses auf der Anwendung von Teil B Nr. 16.10 der versorgungsmedizinischen Grundsätze beruhe. Er, der Beklagte, gehe dabei unter Bezug auf die durch ihn vorgelegten Unterlagen davon aus, dass die Vorschrift schon zum 15. Januar 2015 nicht mehr dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprochen habe. Zum 15. Januar 2015 sei unter anderem § 159 Abs. 7 SGB IX in Kraft getreten, der bis zum Erlass einer auf § 70 Abs. 2 SGB IX gegründeten Verordnung die entsprechende Geltung der Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen angeordnet habe. Dem entspreche der heutige § 241 Abs. 5 SGB IX. Er gehe dabei mit dem sozialgerichtlichen Urteil und der Rechtsprechung des BSG davon aus, dass es danach bei der entsprechenden Anwendung der bisher erlassenen Rechtsverordnungen und damit bei der bisherigen Rechtslage im Gesetzesrang verbleibe, wobei das Gesetz selbst wie oben dargestellt nicht von der entsprechenden Anwendung der Rechtsverordnungen, sondern von der entsprechenden Geltung der Maßstäbe der Rechtsverordnungen spreche.

 

Bei der VersMedV vom 10. Dezember 2008 habe es sich aber jedenfalls bis zum 14. Januar 2015 um eine untergesetzliche Rechtsnorm gehandelt. Das BSG habe daher in dem Urteil vom 23. April 2009 - B 9 SB 3/08 R - bei Verstoß gegen § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX in der damaligen Fassung auch eine Teilnichtigkeit der Vorschrift angenommen. Wenn aber die versorgungsmedizinischen Grundsätze mit der durch den Beklagten vertretenen Auffassung unter Teil B Nr. 16.10 VersMedV bereits zum 15. Januar 2015 gegen höherrangiges Recht verstoßen hätten, weil der dort vorgegebene GdB anhand des aktuellen Standes der medizinischen Behandlungsmöglichkeiten nicht mehr den mit der Beeinträchtigung tatsächlich verbundenen Auswirkungen für die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft entspreche, dann sei die Vorschrift bereits zu diesem Zeitpunkt nichtig gewesen. Er gehe nunmehr nicht davon aus, dass der Gesetzgeber, soweit er die entsprechende Geltung der Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen angeordnet habe, auch zu diesem Zeitpunkt bereits gegen höherrangiges Recht verstoßende und damit nichtige Maßstäbe in Gesetzesrang habe erheben wollen. Bereits aus diesem Grund habe das Sozialgericht die versorgungsmedizinischen Grundsätze insoweit bei seiner Entscheidung nicht mehr anwenden können.

 

Selbst wenn man aber davon ausgehen wollte, dass auch Teil B Nr. 16.10 der versorgungsmedizinischen Grundsätze nunmehr Gesetzesrang habe, läge damit aber in der Tat ein Widerspruch zwischen den Normen des gleichen Gesetzes, nämlich zwischen § 241 Abs. 5 SGB IX i.V.m. Teil B Nr. 16.10 der versorgungsmedizinischen Grundsätze und § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX vor, so wohl auch das sozialgerichtliche Urteil auf dessen Seite 15, letzter Absatz. Nach seiner Auffassung reiche es aber nicht aus, wenn sich das Sozialgericht darauf beschränke festzuhalten, dass es sich dabei um gleichrangige Normen desselben Gesetzes handeln würde und dass der daraus resultierende Widerspruch die Kammer nicht berechtigen würde, diese Bewertungsmaßstäbe zu verwerfen, solange sie nicht geändert oder aufgehoben seien. Bei widersprüchlichen Rechtsfolgen gleichrangiger Gesetzesnormen handele es sich um eine sogenannten Normenkonkurrenz. Den daraus resultierenden Widerspruch habe das Sozialgericht nunmehr aber dadurch gelöst, dass es im konkreten Fall § 241 Abs. 5 SGB IX i.V.m. Teil B Nr. 16.10 der versorgungsmedizinischen Grundsätze zumindest einen Anwendungsvorrang gegenüber § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX eingeräumt habe. Für diese Lösung möge im ersten Anschein sprechen, dass es sich bei den versorgungsmedizinischen Grundsätzen um die spezielleren Normen handele. Nach seiner Auffassung könne aber auch bei der Entscheidung über die vorrangig anzuwendenden Vorschriften unter formal gleichrangigen Gesetzesnormen nicht unberücksichtigt bleiben, dass es sich bei der VersMedV bis zum 14. Januar 2015 um eine untergesetzliche Norm gehandelt habe, die bis dahin bei Verstoß gegen höherrangiges Recht nichtig bzw. teilnichtig gewesen wäre und dass den Maßstäben der VersMedV nur bis zum Inkrafttreten einer Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX Gesetzesrang zukommen werde. Es stelle aus seiner Sicht aber einen Wertungswiderspruch dar, wenn die VersMedV als Rechtsverordnung nur mit der Folge der Nichtigkeit bzw. Teilnichtigkeit gegen § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX verstoßen könne, der VersMedV im vorübergehenden Gesetzesrang aber ein Anwendungsvorrang gegenüber § 152 Absatz 1 Satz 5 SGB IX eingeräumt werden müsse. Aus diesem Grund könne er, der Beklagte, sich der Auffassung des Sozialgerichts nicht anschließen.

 

In sich widersprüchlich sei die Argumentation des Sozialgerichts aber auch im Hinblick auf einen möglichen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Ein Widerspruch zu dem aktuellen Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft lege einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot nahe, weil dies dazu führen würde, dass bei behinderten Menschen mit annähernd gleicher Beeinträchtigung auf das Leben in der Gesellschaft je nach anzuwendender Vorschrift der versorgungsmedizinischen Grundsätze unterschiedliche GdB festzustellen wären. Wenn das Sozialgericht nunmehr aber ausführe, dass gerade die Nichtanwendung von Teil B Nr. 16.10 VersMedV die Gefahr einer Ungleichbehandlung und Rechtsunsicherheit begründen würde, weil unklar sei, welcher Bewertungsrahmen stattdessen gelten solle, nachdem der Verordnungsentwurf des BMAS nicht angenommen worden sei und höchstrichterliche Rechtsprechung nicht existiere, dann räume es im Fortbestand einer möglicherweise rechtswidrigen bzw. verfassungswidrigen Regelung den Vorrang gegenüber der möglichen Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall ein.

 

Zusammenfassend werde daran festgehalten, dass das Sozialgericht seine Entscheidung nicht auf Teil B Nr. 16.10 VersMedV hätte stützen dürfen.

 

Wie schon ausgeführt, sei für die bei dem Kläger vorliegende psychische Störung ein GdB von 30 und durch das Sozialgericht ein GdB von 40 angesetzt worden. Entscheidungserheblich dürfte diese Abweichung nicht sein, weil auch ein GdB von 30 geeignet sei, den Gesamt-GdB um 10 zu erhöhen. Er halte aber prinzipiell an dem von ihm gewählten Erhöhungszeitpunkt am 10. Juni 2021 fest. Soweit sich das sozialgerichtliche Urteil auf das amtsärztliche Gutachten vom 25. März 2019 beziehe, sei darauf hinzuweisen, dass das Gutachten unter Punkt 2.6 a) zwar das Vorliegen einer Abweichung der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand bei dem zu diesem Zeitpunkt ein Jahr und sieben Monate alten Kläger bejahe. Unter Punkt 2.6 b) würden Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt aber verneint, während unter Punkt 2.6 c) eine mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung bejaht werde. Zukünftige Beeinträchtigungen könnten im Schwerbehindertenrecht aber noch nicht berücksichtigt werden.

 

Er, der Beklagte, sehe es nach den vorliegenden Unterlagen derzeit auch nicht als erwiesen an, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ vorlägen. Im Widerspruch zu den Ausführungen in der psychologischen Stellungnahme zum aktuellen Entwicklungsstand vom 10. Juni 2021 stünden aber die Berichte aus dem SPZ zuletzt vom 20. November 2020 mit beiliegendem Bericht vom 2. Oktober 2020. In dem Befundbericht vom 20. November 2020 sei unter anderem ausgeführt worden, dass Blutungen unter der aktuellen Prophylaxe 0 bis ein Mal im Jahr auftreten würden. Unter 10. würden die vorliegenden Befunde als gebessert beschrieben. Hemmkörper seien mittels Immuntoleranztherapie eliminiert worden. In dem Bericht vom 2. Oktober 2020 würden in der Anamnese wie schon in dem Bericht vom 11. Dezember 2019 die Angaben der Mutter des Klägers wiedergegeben, dass es ihrem Sohn grundsätzlich gut gehe. Er spiele sehr körperbetont mit seinem Zwillingsbruder. Blutungszeichen seien zu keiner Zeit beobachtet worden. Das werde auch Seite zwei des Berichts bestätigt. Es seien auch seit November 2018 keine FVIII-Hemmkörper mehr nachgewiesen worden und es gebe seitdem keine spontanen oder vermehrten Blutungen mehr. Mit diesen Angaben seien die Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ nicht zu bejahen.

 

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 26. August 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger, der auch das Teilanerkenntnis des Beklagten vom 15. Februar 2021 mit Schreiben vom 1. August 2022 angenommen und nach Hinweis des Senats die Klage bezogen auf die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ mit Schriftsatz vom 25. Juli 2024 zurückgenommen hat,

beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

 

Der Senat hat von dem SPZ weitere Berichte vom 22. Januar 2024 und vom 2. Dezember 2022 beigezogen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, denn die Beteiligten haben sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt.

 

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung des Beklagten ist zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat zutreffend entschieden, dass der Kläger die Feststellung eines GdB von 80 ab dem 31. Juli 2018 und eines GdB von 90 ab dem 25. März 2019 beanspruchen kann. Soweit der Kläger erstmals mit Schriftsatz vom 18. Mai 2020 die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ beantragt hatte, bedurfte es dazu keiner Entscheidung des Senats mehr, weil der Kläger insoweit die Klage zurückgenommen hat.

 

Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in seiner seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung (entsprechende Regelung zuvor in § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) stellen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, sind seit dem 1. Januar 2009 die in der Anlage zu § 2 VersMedV vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Seite 2412) festgelegten „versorgungsmedizinischen Grundsätze“ zu beachten, die durch die Verordnungen vom 1. März 2010 (BGBl. I Seite 249), 14. Juli 2010 (BGBl. I Seite 928), vom 17. Dezember 2010 (BGBl. I Seite 2124), vom 28. Oktober 2011 (BGBl. I Seite 2153) und vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I Seite 2122) sowie durch Gesetze vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I Seite 3234), vom 17. Juli 2017 (BGBl. I Seite 2541) und vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I Seite 2652) Änderungen erfahren haben.

 

Einzel-GdB sind entsprechend den genannten Grundsätzen als GdB in Zehnergraden zu bestimmen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach § 152 Abs. 3 SGB IX die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 a) VersMedV die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d) aa) – ee) VersMedV). Nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 11. März 1998 - B 9 SB 9/97 R -, zitiert nach juris) ist es tatrichterliche Aufgabe, über den Beweiswert einzelner Umstände und Beweismittel zu entscheiden und den maßgeblichen Gesamt-GdB, der sich aus einer Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen ergibt, nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund tatrichterlicher Erfahrung unter Heranziehung der Sachverständigengutachten sowie der Versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen.

 

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist hier ab dem 31. Juli 2018 ein Gesamt-GdB von 80 und ab dem 25. März 2019 ein GdB von 90 festzustellen.

 

Der Kläger leidet nach den Feststellungen der Charité und des SBZ an einer schweren Hämophilie A mit einer Restaktivität von antihämophilem Globulin (AHG) mit weniger als 1%. Nach Teil B Nr. 16.10 VersMedV ist für die Hämophilie bei diesem Schweregrad die Bewertung mit einem GdB von 80 bis 100 eröffnet. Die beigezogenen Berichte des SBZ vom 11. Dezember 2019, 2. Oktober 2020, 2. Dezember 2022 und 22. Januar 2024 ergeben, dass seit dem 9. November 2018 bei dem Kläger keine FVIII-Hemmkörper mehr nachweisbar sind. Der Kläger hat sich altersentsprechend entwickelt, seit November 2018, so der Bericht vom 2. Oktober 2020, hat es keine spontanen oder vermehrten Blutungen gegeben. Wenn der Kläger eine Injektion verpasst, ist diese sobald wie möglich bis einen Tag vor dem Tag der nächsten geplanten Dosis nachzuholen. Die FVIII-Substitution ist im Oktober 2020 auf Emicizumab zur prophylaktischen Behandlung zunächst wöchentlich, ab der fünften Woche alle 14 Tage subcutan umgestellt worden. Laut dem Bericht vom 2. Dezember 2022 ist die Dosis alle 28 Tage zu verabreichen. Als letzte zusätzliche FVIII-Gabe ist der 8. November 2022 angegeben.

 

Angesichts dieser Entwicklung der Erkrankung ist die Bewertung mit einem GdB von 80 am unteren Rand der von der VersMedV vorgegebenen Spannbreite angemessen und wird von dem Kläger auch nicht angegriffen.

 

Bei dem Kläger besteht außerdem eine Verhaltens- und emotionale Störung in Form einer sonstigen Störung sozialer Funktionen im Bereich der Kindheit. Er zeigt sich hyperaktiv und aggressiv mit ausgeprägtem Egozentrismus sowie Sprachentwicklungsstörungen. Er wird von einem Einzelfallhelfer begleitet und ihm ist ein Integrationsstatus bewilligt worden, was ihm den Besuch einer Kita ermöglicht hat. Der Senat hat keine Bedenken, der Bewertung des GdB mit 40 durch das Sozialgericht analog Teil B Nr. 3.5.2 VersMedV zu folgen und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit auf die zutreffenden Ausführungen in dem angefochtenen Urteil (§ 153 Abs. 2 SGG). Auch der Beklagte hat gegen diese Bewertung keine tiefgreifenden Einwände erhoben. Der Senat folgt dem Sozialgericht auch darin, dass die Verhaltensstörung bei dem Kläger bereits mit dem amtsärztlichen Gutachten vom 25. März 2019 nachgewiesen ist, denn in diesem Bericht werden nachvollziehbar alle Symptome der Störung und die Einschränkungen im Alltag beschrieben, die in der psychologischen Stellungnahme des SBZ vom 10. Juni 2021 lediglich wiederholt und ohne konkreten eigenen Befund beschrieben werden. Die Beantwortung der Fragen zu 2.6. a) bis c) in dem amtsärztlichen Gutachten orientiert sich an § 35a Sozialgesetzbuch Achtes Buch und den dort geregelten Voraussetzungen für den Anspruch auf Eingliederungshilfe. Sie haben keine Entsprechung zur Höhe des GdB und dem Zeitpunkt der GdB-Feststellung.

 

Der Einzel-GdB von 80 für die Hämophilie erhöht sich ab dem 25. März 2019 durch das Hinzutreten des weiteren Einzel-GdB von 40 auf einen Gesamt-GdB von 90, was von dem Kläger auch insoweit nicht angefochten worden ist.

 

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die VersMedV in Teil B Nr. 16.10 auch anwendbar und nicht nichtig. Zwar teilt der Senat die Bedenken des Beklagten und des Sozialgerichts, dass die genannte Regelung nicht mehr dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht, wie der Entwurf des BMAS zur nicht in Kraft getretenen Sechsten Verordnung zur Änderung der VersMedV, Stand 28. August 2018, zu 16.11.2 „Störungen der Gerinnungsfunktion und Blutungsneigung“ und die Bestätigung durch Dr. N, Referat Va2 vom BMAS mit Schreiben vom 29. März 2021 zeigen. Damit dürfte fraglich sein, ob Teil B Nr. 16.10 den Vorgaben in §§ 2 und 152 SGB IX noch gerecht wird. Allerdings hat das Sozialgericht zu Recht entschieden, dass die Regelung zur Hämophilie hier gleichwohl Anwendung findet.

 

Das Sozialgericht und der Beklagte und auch der Senat gehen davon aus, dass die VersMedV seit dem 15. Januar 2015 über § 159 Abs. 7 SGB IX in der ab dem 15. Januar 2015 geltenden Fassung bzw. § 241 Abs. 5 SGB IX in der ab dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung Gesetzesrang hat. Das hat das BSG in der Vergangenheit auch mehrfach bestätigt (vgl. Urteile vom 14. Juni 2018 - B 9 BL 1/17 R - und vom 24. Oktober 2019 - B 9 SB 1/18 R -, jeweils zitiert nach juris). Im Gegensatz zu Rechtsverordnungen hat der Senat bei Gesetzen jedoch keine Verwerfungskompetenz. Entgegen der Auffassung des Beklagten konnte sich der Senat auch nicht die Überzeugung bilden, dass der Gesetzgeber Teile der VersMedV, die nichtig gewesen sind, zum 15. Januar 2015 nicht in den Gesetzesrang heben wollte. Es ist nicht einmal ersichtlich, dass der Gesetzgeber überhaupt von einer Teilnichtigkeit der VersMedV ausgegangen ist. Der Gesetzesbegründung lässt sich dies nicht entnehmen (vgl. BT-Dr. 18/3190 S. 3 und 5). Weitere Anhaltspunkte, die die Auffassung des Beklagten bestätigen könnten, hat der Senat nicht. Die Verfahrensweise des Gesetzgebers mit dem Entwurf zur Sechsten Verordnung zur Änderung der VersMedV bestätigt vielmehr, dass der Gesetzgeber nicht einmal aktuell von der Notwendigkeit der Anpassung der VersMedV an den Stand der medizinischen Wissenschaft ausgeht.

 

Zwar steht damit die in den Gesetzesrang erhobene VersMedV in diesem Zusammenhang in Widerspruch zu § 152 Abs. 1 Satz 4 SGB IX in der ab dem 1. Januar 2024 geltenden Fassung bzw. § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2023 geltenden Fassung. Danach werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt werden. Teil B Nr. 16.10 dagegen regelt die GdB-Höhe ausschließlich am Grad der Restaktivität des AHG unabhängig von etwaigen Teilhabebeeinträchtigungen. Dieser Widerspruch kann nur durch die Anwendung des spezielleren Rechts, hier also die konkreten Regelungen zur Hämophilie in der VersMedV, gelöst werden, das das allgemeinere Recht in § 152 SGB IX verdrängt. Der Senat ist ebenso wie das Sozialgericht nicht davon überzeugt, dass die VersMedV gegen das Grundgesetz, insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, denn innerhalb der Gruppe der an Hämophilie Erkrankten werden alle an Teil B Nr. 16.10 VersMedV gemessen. Der Vergleich mit anderen Erkrankungen und deren Bewertung in der VersMedV verbietet sich, denn es handelt sich dabei um ungleiche Sachverhalte, die nicht gleich behandelt werden können. Die VersMedV enthält im Übrigen weitere Erkrankungen, bei denen die GdB-Höhe unabhängig vom Therapieaufwand geregelt ist. Genannt sei hier nur der maligne Prostatatumor in Teil B Nr. 13.6 VersMedV, der ohne die Notwendigkeit einer Behandlung mit einem GdB von 50 bewertet wird.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision war zuzulassen, denn die Frage, ob Teil B Nr. 16.10 VersMedV anwendbar ist, ist von grundsätzlicher Bedeutung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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