L 2 SF 2149/22 EK R PKH

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 6 R 1983/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SF 2149/22 EK R PKH
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Der Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer des Verfahrens S 6 R 1983/18 beim Sozialgericht Heilbronn und L 13 R 2369/21 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg wird abgelehnt.


Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Entschädigungsklage nach § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) hinsichtlich der Streitsache nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) S 6 R 1983/18 vor dem Sozialgericht (SG) Heilbronn und L 13 R 2369/21 vor dem Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg.

Im Ausgangsverfahren vor dem SG Heilbronn erhob der Antragsteller am 28.06.2018 eine Klage gegen die Deutsche Rentenversicherung Bund, mit welcher er die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung begehrte.

Nach Eingang von Klagebegründung, Klageerwiderung und der Vorlage der Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht befragte das SG ab dem 08.10.2018 die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen und forderte die beklagte Rentenversicherung nach Eingang aller medizinischen Unterlagen zu einer Stellungnahme auf, welche am 05.12.2018 vorlag. Das SG beauftragte sodann mit Schreiben vom 17.12.2018 den S1 mit der Erstellung eines psychiatrischen Fachgutachtens. Nachdem dort ein zweiter Untersuchungstermin notwendig geworden war, wurde die Frist zur Erstellung des Gutachtens verlängert. Am 26.04.2019 lag das Gutachten dann vor und wurde am 08.05.2019 der Rentenversicherung zur Stellungnahme übersandt. Nach einmaliger Erinnerung durch das SG legte diese mit Schreiben vom 23.07.2019 einen Vergleichsvorschlag dahingehend vor, dass eine Rehabilitationsmaßnahme gewährt werden könne. Diesen Vorschlag nahm der Antragsteller nicht an und wies mit Schreiben vom 30.07.2019 darauf hin, dass er auf ein baldiges Ende des schon vier Jahre andauernden Rechtsstreit hoffe. Das SG bestimmte sodann einen Erörterungstermin auf den 08.10.2019. Nachdem der Antragsteller mitgeteilt hatte, diesen aufgrund eines Urlaubes nicht wahrnehmen zu können, wurde er wieder aufgehoben. Der Antragsteller wies sodann mit Schreiben vom 10.09.2019 darauf hin, dass er sich aufgrund der „völlig inakzeptablen Verfahrensdauer“ des sich seit vier Jahren schleppenden Rechtsstreites, gezwungen sehe, einen Prozessbevollmächtigten (VdK) zu beauftragen, der sich sodann mit Schreiben vom 02.10.2019 legitimierte und nach beantragter Akteneinsicht am 17.10.2019 weiter vortrug. Nachdem die Gerichtsakten kurzfristig ans LSG zu einem anderen Verfahren übersandt worden waren, wies das SG mit Schreiben vom 26.02.2020 nach einer Sachstandsanfrage des Antragstellers darauf hin, dass das Verfahren zur Terminierung vorgemerkt sei, ein genauer Termin aber noch nicht genannt werden könne. Nach weiteren Sachstandsanfrage am 17.08.2020 und 15.01.2021 wurde nochmals auf die beabsichtigte Terminierung sowie die durch die Coronapandemie eingetretenen Verzögerungen hingewiesen. Mit Verfügung vom 19.05.2021 wurde schließlich ein Termin zur mündlichen Verhandlung am 16.06.2021 bestimmt. 


Das SG wies die Klage sodann mit Urteil vom 16.06.2021 aufgrund mündlicher Verhandlung ab. Hiergegen erhob der Antragsteller Berufung zum LSG Baden-Württemberg (- L 13 R 2369/21-). Das LSG befragte, nachdem Berufungsbegründung und Berufungserwiderung vorlagen, die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Diese Aussagen und die vom Antragsteller vorgelegten medizinischen Unterlagen legte das Gericht der beklagten Rentenversicherung vor und bat zum Ergebnis der Beweisaufnahme um Stellungnahme. Diese wurde dem Antragsteller mit Schreiben vom 28.01.2022 vorgelegt und das Verfahren zur Terminierung vorgemerkt. Bereits mit Schreiben vom 16/19.08.2021 hatte der Antragsteller ausgeführt, dass die „Verschleppung und Hinauszögerei (des Rechtsstreits)“ seinen psychischen-seelischen Zustand zusätzlich und nachhaltig schwer belastet hätten. In einem weiteren Schreiben vom 12.10.2021 wies er darauf hin, dass „der jahrelange Rechtstreit gegen die DRV BUND seit 2010“ „zusätzlich psychisch-seelische Schäden“ bei ihm hinterlassen hätten. Dafür mache er die DRV BUND mit verantwortlich.
Mit Schreiben vom 30.05.2022 bat der Kläger „aufgrund des seit 2010 andauernden Rechtstreits“ um „Auskunft zum Sachstand des Rechtstreits“. Mit Terminbestimmung vom 22.06.2022 wurde dann einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 26.07.2022 bestimmt. Nachdem das Gericht den vom Antragsteller am 13.07.2022 gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 14.07.2022 mangels Erfolgsaussicht abgelehnt hatte, nahm der Antragsteller die Berufung am 25.07.2022 zurück.


Bereits am 23.06.2022 hat der Antragsteller mitgeteilt, dass er die „Einleitung Verzögerungsrüge mit Ziel Entschädigung wegen Verzögerung“ anstrebe. Da er sich bereits über das lange Verfahren beim Sozialgericht Heilbronn beschwert habe, wünsche er nach Möglichkeit, dass die gesamte Zeit seit Einreichung der Klage am 28.06.2018 berücksichtigt werde. Er habe sich schon in erster Instanz beim VdK wegen der langen Verfahrensdauer beschwert. In der Zwischenzeit befinde er sich nun im Berufungsverfahren am LSG und es sei kein Ende in Sicht. Seine Nerven lägen völlig blank. Unabhängig vom nervenzerreißenden Rechtstreit mit der DRV BUND um volle Erwerbsminderungsrente seit 2010, seiner Forderung auf Entschädigung von der Rentenversicherung wegen langem Verfahren vom 18.06.2022, reiche er nun offiziell diese Verzögerungsrüge ein.
Den hier maßgeblichen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat er am 10.08.2022 gestellt und ausgeführt, dass er bei Gewährung von Prozesskostenhilfe direkt eine Klage auf Entschädigung erheben wolle.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streit-stands im Übrigen wird Bezug genommen auf die Akten des Ausgangsverfahrens in erster und zweiter Instanz.  


II.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen.

Nach § 73a SGG i.V.m. § 114 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist gegeben, wenn unter Berücksichtigung aller Umstände der mit der Klage vertretene Standpunkt in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht vertretbar erscheint oder anders formuliert, bei summarischer tatsächlicher und rechtlicher Prüfung eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit des Rechtsmittels besteht (B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 73a Rn. 7 f. m.w.N.); im tatsächlichen Bereich müssen Tatsachen erweisbar sein; ein günstiges Beweisergebnis darf nicht unwahrscheinlich sein. Prozesskostenhilfe ist zu verweigern, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber eine nur entfernte ist (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 13.03.1990 - 2 BvR 94/88 - juris; Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 17.02.1998 - B 13 RJ 83/97 R = SozR 3-1500 § 62 Nr. 19, juris; Beschluss vom 4.12.2007 - B 2 U 165/06 B - juris Rn. 11). Das heißt nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG konkret, dass die für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht zu bejahen ist, wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil der die Prozesskostenhilfe begehrenden Partei ausgehen wird. Die nach verfassungsrechtlichen Maßstäben grundsätzlich unbedenkliche Prüfung der Erfolgsaussicht soll nach dem BVerfG nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vor zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.09.2004 - 1 BvR 1281/04 -; Beschuss vom 14.04.2003 -1 BvR 1998/02 -; Beschluss vom 12.01.1993 - 2 BvR 1584/92 - alle in juris). Das BSG (Urteil vom 17.02.1998 - B 13 RJ 83/97 - a.a.O.) hat sich - ebenso wie die überwiegende Literatur (vgl. nur B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.O., § 73a Rn. 7 f. m.w.N.) - dieser Rechtsprechung angeschlossen. Für die damit geforderte Erfolgsprognose ist auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts - hier des Senats - abzustellen (vgl. nur B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt a.a.O., § 73a Rn. 7d m.w.N.).

Ausgehend hiervon bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Das LSG Baden-Württemberg wäre für die beabsichtigte Klage zwar zuständig (§ 51 Abs. 1 Nr. 10, § 202 Satz 2 SGG i.V.m. den §§ 198 ff. GVG), da es sich bei dem Ausgangsverfahren um ein Verfahren aus dem Bereich der Sozialgerichtsbarkeit handelt.

Die Klage wäre auch zulässig. Eine Entschädigungsklage ist als allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 21.02.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL) statthaft und könnte auch im Übrigen noch zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben werden. Die Einlegungsfrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG, wonach die Klage spätestens sechs Monate nach Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, erhoben werden muss, ist noch nicht verstrichen.

Die beabsichtigte Klage wäre jedoch unbegründet.

Nach § 198 Abs. 1 GVG in der seit 3.12.2011 geltenden Fassung gem. Art. 23 des Gesetzes vom 24. November 2011 (BGBl. I, 2302) wird, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Gem. § 198 Abs. 2 GVG wird ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Absatz 4 ausreichend ist. Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen. Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter gem. § 198 Abs. 3 GVG nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). Die Verzögerungsrüge kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird; eine Wiederholung der Verzögerungsrüge ist frühestens nach sechs Monaten möglich, außer wenn ausnahmsweise eine kürzere Frist geboten ist. Kommt es für die Verfahrensförderung auf Umstände an, die noch nicht in das Verfahren eingeführt worden sind, muss die Rüge hierauf hinweisen. Anderenfalls werden sie von dem Gericht, das über die Entschädigung zu entscheiden hat (Entschädigungsgericht), bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer nicht berücksichtigt. Verzögert sich das Verfahren bei einem anderen Gericht weiter, bedarf es einer erneuten Verzögerungsrüge. Nach § 198 Abs. 4 GVG ist Wiedergutmachung auf andere Weise insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Die Feststellung setzt keinen Antrag voraus. Sie kann in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung ausgesprochen werden; ebenso kann sie ausgesprochen werden, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Absatzes 3 nicht erfüllt sind.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Eine wirksame Verzögerungsrüge ist hier aber erst mit Schreiben vom 20.06.2022, beim LSG eingegangen am 23.06.2022, mithin also erst während des Verfahrens beim LSG erhoben worden. Während des Verfahrens in erster Instanz beim SG ist keine wirksame Verzögerungsrüge erhoben worden. Eine solche ist nach Überzeugung des Senats weder im Schreiben vom 13.11.2018, vom 30.07.2019, 10.09.2019, Schreiben vom 26.02.2020 noch im Schreiben 15.01.2021 zu sehen.

Der Gesetzgeber hat Form und Inhalt der als zwingenden Anspruchsvoraussetzung ausgestalteten Verzögerungsrüge gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG nicht näher bestimmt. Den Gesetzesmaterialien kann lediglich entnommen werden, dass die Verzögerungsrüge schriftlich oder mündlich und im Anwaltsprozess nur durch den bevollmächtigten Anwalt erhoben werden kann. Das Vorhandensein einer entsprechenden Rüge ist von Amts wegen zu überprüfen (BT-Drucks 17/3802, S. 20, 22). Ohne wirksame Verzögerungsrüge entsteht der Entschädigungsanspruch nicht (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.02.2016 - L 11 SF 86/16 EK SB - juris Rn. 34). Die Anforderungen an Inhalt und Form der Verzögerungsrüge sind niedrig gefasst und orientieren sich daran, dass die Rüge keinen eigenständigen Rechtsbehelf, sondern nur eine Obliegenheit als Voraussetzung für den Entschädigungsanspruch darstellt. Es ist keine ausdrücklich als "Verzögerungsrüge" bezeichnete Äußerung erforderlich. Indes kann auch nicht jegliche Bezugnahme auf die Verfahrensdauer oder jede Sachstandanfrage als Rüge i.S.d. § 198 Abs. 3 GVG angesehen werden (LSG Nordrhein-Westfalen a.a.O. juris Rn. 35 sowie Urteile vom 15.04.2015 - L 11 SF 546/14 EK KR - und 09.07.2014 - L 11 SF 333/13 EK P -; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18.02.2015 - L 38 SF 66/14 EK AS -; Bayerisches LSG, Urteil vom 23.05.2014 - L 8 SF 49/13 EK -; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 28.11.2013 - L 11 SF 25/12 EK U -). Maßgebend ist hierbei weder das Prinzip einer wie auch immer gearteten Meistbegünstigung, denn dieses kann bei einer solchermaßen überfürsorglich unterstellten Verzögerungsrüge dazu führen, dass sie unwirksam ist oder den Fristenlauf des § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG zum Nachteil des Klägers aktiviert. Eine indifferente Erklärung kann auch nicht im Zweifel als Verzögerungsrüge gedeutet werden. Eine solche Zweifelsregelung existiert nämlich nicht (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.02.2016 - L 11 SF 86/16 EK SB -). Auf der anderen Seite darf auch nicht verlangt werden, dass die Erklärung ausdrücklich als "Verzögerungsrüge" bezeichnet wird (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.12.2015 – 1 BvR 3164/13 -, Rn. 29 - 31, juris).

Die jeweilige Erklärung ist daher auszulegen. Welche Elemente vorliegen müssen, damit die Erklärung eines Beteiligten die Qualität einer Rüge erreicht, lässt sich hier letztlich der Gesetzesbegründung entnehmen. Grundvoraussetzung ist hiernach, dass der Kläger deutlich macht, mit der Verfahrensdauer nicht einverstanden zu sein (BT-Drucks. 17/3802, S. 21 <li. Spalte>; hierzu Loytved, jurisPR-SozR 3/2014 Anm. 5: "Unzufriedenheit über die lange Verfahrensdauer"). Das reicht indessen nicht, denn die Rüge soll "dem bearbeitenden Richter - soweit erforderlich - die Möglichkeit zu einer beschleunigten Verfahrensförderung eröffnen und insofern als Vorwarnung dienen" (BT-Drucks. 17/3802, S. 20). Die Warnfunktion betont die Gesetzesbegründung mehrfach (BT-Drucks. 17/3802, S. 20 f.). Sie verweist darauf, dass sich aus der präventiven Warnfunktion der "Beschleunigungsrüge" Hinweispflichten ergeben und rechnet hierzu das "Verlangen nach Beschleunigung" (BT-Drucks. 17/3802, S. 21 <li. Spalte>). Mithin muss die Erklärung eines Beteiligten damit mindestens drei Elemente enthalten, um die Qualität einer Rüge zu erreichen. Ihr muss zu entnehmen sein, dass der Beteiligte mit der Verfahrensdauer nicht einverstanden ist. Das bedingt eine Gesamtschau, die sich auf die bisherige (säumige) Verfahrensdauer bezieht und diese über den Rügezeitpunkt hinaus in die Zukunft projiziert. Sodann muss die Erklärung den Charakter einer Vorwarnung haben, wobei Gesetz und Begründung den Bezugspunkt offen lassen. Schließlich muss die Erklärung mit einem voluntativen Element versehen sein, dem "Verlangen nach Beschleunigung". Nur wenn diese drei Elemente nachweislich gegeben sind, kann die Erklärung eines Beteiligten als Verzögerungsrüge i.S.d. § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG ausgelegt werden (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen a.a.O. juris Rn.38).

Eine diesen Anforderungen genügende Verzögerungsrüge hat der Antragsteller in erster Instanz nicht erhoben.

Mit Schreiben vom 13.11.2018 und vom 26.02.2020 hat er lediglich um Sachstandsmitteilung gebeten und Schreiben vom 15.01.2021 lediglich um Mitteilung gebeten, wann mit einer Terminierung gerechnet werden könne. Diesen Erklärungen kann man weder entnehmen, dass kein Einverständnis mit der Dauer des Verfahrens besteht, noch lässt sich hier eine eindeutige Aufforderung zur Beschleunigung des Verfahrens erkennen. In den Schreiben vom 30.07.2019 und 10.09.2019 nimmt der Antragsteller zwar Bezug auf die Dauer des Rechtsstreits und bringt zum Ausdruck, dass er hiermit nicht einverstanden ist. Er bezieht die Dauer des Verfahrens aber im Wesentlichen auf das Verhalten der beklagten Rentenversicherung und damit gerade nicht auf das gerichtliche Verfahren. Bezugsrahmen eines Entschädigungsanspruchs ist zwar das gesamte gerichtliche Verfahren, auch in mehreren Instanzen, vom Zeitpunkt der Klageerhebung bis zum Eintritt der formellen Rechtskraft, nicht aber das dem Verwaltungsprozess vorangegangene behördliche Vorverfahren (vgl. so auch Oberverwaltungsgericht [OVG] für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27.04.2022 - 13 D 270/20.EK -, Rn. 19, juris), so dass hierin auch keine wirksame Verzögerungsrüge gesehen werden kann. Auch kommt in den Schreiben zwar ein gewisser Unmut über die Verfahrensdauer zum Ausdruck. Eine wie auch immer geartete Warnung bzw. eine eindeutige Aufforderung zur Beschleunigung des Verfahrens, lässt sich diesem Schreiben aber wieder nicht entnehmen. Auch wenn das Wort „Verzögerungsrüge“ nicht notwendig ist, so muss doch verlangt werden können, dass eine Beschleunigung des Verfahrens verlangt wird und dass die Feststellung einer langen Verfahrensdauer mit einer Warnung verbunden sein soll. Wie bereits oben ausgeführt, kann eine indifferente Erklärung auch nicht im Zweifel als Verzögerungsrüge gedeutet werden (s.o.). Dies gerade auch deshalb, um die Annahme einer verfrühten Rüge, die unwirksam wäre, zu verhindern (vgl. Lückemann in Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 198 GVG, Rn. 9). Aus diesem Grund kann hier auch nicht eine wirksam erhobene Verzögerungsrüge „in der Zusammenschau“ aller vorliegenden Schreiben gesehen werden. Dies mag in Einzelfällen möglich sein, scheitert hier aber nach Überzeugung des Senats bereits daran, dass die einzelnen Schreiben ohne jeglichen Bezug zueinander und jeweils in größerem zeitlichen Abstand zueinander (13.11.2018, vom 30.07.2019, 10.09.2019, Schreiben vom 26.02.2020 und 15.01.2021) eingereicht wurden.

Da in erster Instanz damit schon keine wirksame Verzögerungsrüge erhoben worden ist, muss der Senat nicht mehr prüfen, ob hier tatsächlich eine relevante Verzögerung eingetreten ist.

Eine wirksame Verzögerungsrüge ist hier somit vorliegend erst in zweiter Instanz erhoben worden und zwar mit Schreiben vom 20.06.2022, eingegangen am 23.06.2022. Die Schreiben vom 16.08.2021, 12.10.2021 und 30.05.2022 stellen ebenfalls keine wirksame Verzögerungsrüge dar, da zum einen lediglich nach dem Sachstand gefragt wurde (Schreiben vom 30.05.2022) bzw. zwar die Dauer des Verfahrens angemahnt wurde, aber der Bezug zum gerichtlichen Verfahren fehlt und im Wesentlichen die Verfahrensweise der beklagten Rentenversicherung kritisiert wird. Im Schreiben vom 20.06.2022 führt der Antragsteller dann aber eindeutig aus, dass er die „Einleitung Verzögerungsrüge mit Ziel Entschädigung wegen Verzögerung des Verfahrens vor den Gerichten seit 28.06.2018“ begehrt und macht letztlich mit diesem Schreiben selbst deutlich, dass er sich bereits zuvor über die Dauer des Verfahrens unzufrieden gezeigt habe, aber erst jetzt eine Verzögerungsrüge erhoben wollte.

Mit dieser in zweiter Instanz erhobenen Verzögerungsrüge kann aber eine ggf. allein in erster Instanz eingetretene Verzögerung nicht mehr gerügt werden. Denn eine Verzögerungsrüge kann nur so lange erhoben werden, wie das Verfahren bei dem Gericht anhängig ist, dessen Verfahrensdauer vom Rügeführer als unangemessen angesehen wird. Dies ergibt sich nach Überzeugung des Senats schon aus der präventiven Wirkung einer Verzögerungsrüge, wonach sie mit entschädigungsanspruchsbegründender Wirkung überhaupt nur so lange erhoben werden kann, wie das Verfahren bei dem Gericht anhängig ist, dessen Verfahrensdauer vom Rügenden als unangemessen angesehen wird und dessen Beschleunigung er verlangt. Da danach für das Ausgangsgericht keine Möglichkeit zu einer Reaktion in der Verfahrensführung besteht, ist auch eine Verzögerungsrüge sinnlos (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2020 - B 10 ÜG 4/19 R -, SozR 4-1720 § 198 Nr. 19, SozR 4-7610 § 133 Nr. 1, Rn. 48). Denn nur mit einer unmittelbar in der jeweiligen Instanz erhobenen Rüge ermöglicht sie dem bearbeitenden Richter die Prüfung, ob und welche verfahrensfördernden Maßnahmen er im Hinblick auf die geäußerte Verzögerungsbesorgnis der Beteiligten in der (jeweiligen) Sache sinnvollerweise - möglicherweise sogar sofort - einleiten muss, unabhängig von der stets bestehenden Pflicht des Richters, das Gerichtsverfahren zu fördern und auf eine Entscheidung in angemessener Zeit hinzuwirken (BSG, Urteil vom 27.03.2020 – B 10 ÜG 4/19 R –, SozR 4-1720 § 198 Nr. 19, SozR 4-7610 § 133 Nr. 1, Rn. 44).


In zweiter Instanz ist aber dann keine tatsächliche Verzögerung eingetreten. Für die Beurteilung, ob eine überlange Verfahrensdauer vorliegt, sind aktive und inaktive Zeiten der Bearbeitung gegenüberzustellen, wobei kleinste relevante Zeiteinheit zur Berechnung der Überlänge stets der Monat im Sinne des Kalendermonats ist (BSG, Urteile vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R – Rn. 34 und 07.09.2017 – B 10 ÜG 3/16 R – Rn. 24, jeweils zitiert nach juris). Dabei sind dem Ausgangsgericht gewisse Vorbereitungs- und Bedenkzeiten, die regelmäßig je Instanz 12 Monate betragen, als angemessen zuzugestehen, selbst wenn sie nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte als begründet und gerechtfertigt angesehen werden können (BSG, Urteil vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - juris Rn. 46). Angemessen bleibt die Gesamtverfahrensdauer in Hauptsacheverfahren regelmäßig zudem dann, wenn sie den genannten Zeitraum überschreitet, aber insoweit auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung des Gerichts beruht oder durch Verhalten des Klägers oder Dritter verursacht wird, die das Gericht nicht zu vertreten hat (BSG, Urteil vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - juris Rn. 27 und 47). Das Verfahren in zweiter Instanz hat ab Berufungseinlegung insgesamt 13 Monat gedauert, wobei zumindest bis Februar 2022 jeder Monat mit aktiver Verfahrensgestaltung belegt ist, so dass die Verfahrensdauer als angemessen anzusehen ist.

Der Antrag auf Bewilligung von PKH war daher mangels Erfolgsaussichten der beabsichtigten Klage abzulehnen.

Gegen diesen Beschluss findet die Beschwerde gemäß § 127 Abs. 2 ZPO in Verbindung mit § 73a Abs. 1 SGG nicht statt (§ 177 SGG).


 

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