L 13 SB 364/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 39 SB 1255/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 SB 364/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 12.11.2021 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur Beweiserhebung und Entscheidung an das Sozialgericht Köln zurückverwiesen.

Die Revision wird zugelassen. Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Verurteilung des Beklagten zur Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mehr als 30 mit Wirkung ab März 2020. Hintergrund dieses Begehrens ist der Umstand, dass die Feststellung eines GdB von mindestens 50 im Ergebnis für den Kläger die Möglichkeit zum Wechsel in eine andere Rentenart mit geringeren Abschlägen bietet.

 

Der Beklagte hatte ursprünglich bei dem 00.00.0000 geborenen Kläger mit Bescheid vom 23.01.2008 einen GdB von 30 anerkannt. Am 27.03.2020 stellte der Kläger bei dem Beklagten einen Verschlimmerungsantrag.

 

Der Beklagte zog Befundberichte bei dem behandelnden HNO-Arzt R. und dem Psychiater P., den Entlassungsbericht der U. über eine im Jahr 2019 durchlaufende stationäre Reha-Maßnahme im Fachbereich Psychosomatik sowie eine versorgungsärztliche Stellungnahme bei. Auf dieser Grundlage lehnte er mit Bescheid vom 03.06.2020 die Feststellung eines höheren GdB ab.

 

Hiergegen legte der Kläger am 25.06.2020 Widerspruch ein, welchen die Bezirksregierung A. mit Widerspruchsbescheid vom 15.07.2020 als unbegründet zurückwies.

 

Hiergegen richtet sich die zum Sozialgericht (SG) Köln erhobene Klage vom 28.07.2020.

 

Der Kläger hat ausgeführt, in den letzten zehn Jahren habe sich sein Gesundheitszustand ganz erheblich verschlechtert. Er sei nicht mehr in der Lage, seinen Beruf als Gruppenleiter in einer Werkstatt für behinderte Menschen auszuüben. Er leide unter häufigen depressiven Episoden und unter einer Gehbehinderung.

 

Der Kläger hat beantragt,

 

den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 03.06.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.07.2020 zu verurteilen, bei ihm ab Antragstellung einen höheren GdB als 30 festzustellen.

 

Der Beklagte hat beantragt,

 

            die Klage abzuweisen.

 

Das SG hat Befundberichte eingeholt bei dem behandelnden Allgemeinmediziner M., dem Pneumologen C. und dem Gastroenterologen W.. Sodann hat das SG Beweis erhoben durch Einholung eines psychiatrischen Haupt-Gutachtens bei Frau L. und eines orthopädischen Zusatz-Gutachtens bei Y.. Die Hauptgutachterin hat den GdB von 30 für zutreffend gehalten  Der Kläger hat demgegenüber insbesondere eingewandt, seine Suchterkrankung sei nicht hinreichend berücksichtigt worden. Er hat dazu zuletzt einen Bescheid der Rentenversicherung über die Gewährung einer 15-wöchigen stationären Rehabilitation zur Suchtentwöhnung vorgelegt.

 

Eine ergänzende Stellungnahme der Gutachterin L. hat das SG danach nicht mehr eingeholt, sondern die Beteiligten mit Schreiben vom 30.09.2021 zu der beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Ein Gerichtstermin mit einer persönlichen Anhörung des Klägers oder der Vernehmung von Zeugen aus seinem persönlichen Umfeld zu seinem Tagesablauf und seinem Suchtmittelkonsum hat nicht stattgefunden.

 

Das SG hat vielmehr - gestützt auf die eingeholten Gutachten – im schriftlichen Verfahren entschieden und die Klage durch Gerichtsbescheid vom 12.11.2021 als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt

 

„Das Gericht kann den Rechtsstreit gem. § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da der Sachverhalt geklärt ist und die Rechtssache über keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art verfügt.

 

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 03.06.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.07.2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Dem Kläger steht gegen den Beklagten kein Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 30 zu.

 

Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt gem. § 48 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Bescheid des Beklagten vom 23.01.2008, mit welchem dieser bei dem Kläger einen GdB von 30 feststellte, ist ein solcher Dauerverwaltungsakt. Eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ist nach Erlass dieses Bescheides hingegen nicht eingetreten. Der GdB des Klägers ist weiterhin mit 30 angemessen und ausreichend bewertet.

 

Rechtsgrundlage für die Feststellung des GdB ist § 152 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX), der zum 01.01.2018 an die Stelle des § 69 SGB IX getreten ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden danach gem. § 152 Abs. 1 S. 5 SGB IX als Grad der Behinderung nach 10er-Graden abgestuft festgestellt.  § 153 Abs. 2 SGB IX ermächtigt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung, die Kriterien für die Bewertung des Hilflosigkeit und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe der im Schwerbehindertenausweis einzutragenden Merkzeichen maßgeblich sind. Von dieser neu geschaffenen Ermächtigungsgrundlage ist bislang kein Gebrauch gemacht worden. Die aktuellen Beurteilungskriterien sind in der auf Grundlage des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung geregelt. Für die Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung über Grundsätze, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, verbleibt es gem. § 241 Abs. 5 SGB IX bei der bisherigen Regelung, d.h. der Anwendung der Versorgungsmedizin-Verordnung, einschließlich der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (abgekürzt VMG), die in der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung niedergelegt sind.

 

Nach diesen Grundsätzen ist bei dem Kläger als führendes Leiden eine seelische Störung im Sinne einer rezidivierenden depressiven Störung und einer Alkoholabhängigkeit zu beachten. Die Kammer stützt sich insoweit wie auch hinsichtlich der übrigen medizinischen Feststellungen und ihrer sozialmedizinischen Bewertungen auf die ausführlichen und in sich schlüssigen Darlegungen in den Gutachten der neurologisch- psychiatrischen Sachverständigen Frau L. und des orthopädischen Sachverständigen Y.. In Anwendung von Nr. 3.7 VMG sind diese seelischen Leiden als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Die Schilderung des Tagesablaufes des Klägers lässt eine höhergradige Störung nicht erkennen. Der Kläger war – wenn auch mit Einschränkungen und vermehrten Krankheitszeiten – bis zu seiner Verrentung im Juli 2021 weiter in der Lage, einer sozial und von der nervlichen Belastung her anspruchsvollen beruflichen Tätigkeit in Vollzeit nachzugehen. Er führt eine funktionierende Beziehung, hält soziale Kontakte zu Freunden und Kollegen und geht in seiner Freizeit verschiedenen Hobbies wie paddeln, Gitarre spielen und lesen nach. Auch unternimmt er zusammen mit seiner Ehefrau Reisen und hält die eigenen administrativen Angelegenheiten nach. Ein Einzel-GdB von 40 oder mehr lässt sich in Ansehung dieser etwas eingeschränkten, aber durchaus noch gut vorhandenen Kompetenzen nicht begründen. Nicht relevant für die Bewertung des seelischen Leidens im Rahmen des Schwerbehindertenrechts ist demgegenüber die Menge des täglich konsumierten Alkohols oder die gegenwärtig noch beabsichtigten therapeutischen Maßnahmen.

 

Des Weiteren leidet der Kläger unter einer fortgeschrittenen Arthrose des linken Hüftgelenkes, wobei die Beweglichkeit noch gut erhalten ist: Bei voller Streckbarkeit lässt sich das linke Bein noch bis 110 Grad beugen und das rechte Bein bis 120 Grad. Ein vollständig gesunder Mensch erreicht 130 Grad. Bei gutwilliger Betrachtung lässt sich mit dem Sachverständigen Y. hierfür nach Nr. 18.14 VMG ein Einzel-GdB von 20 vergeben, welche jedoch nur soeben erreicht ist.

 

Ferner besteht bei dem Kläger eine Einschränkung der Beweglichkeit der Schultergelenke. Die Abduktion ist auf beiden Seiten auf 90 Grad an Stelle physiologischer 180 Grad beschränkt. Der rechte Arm kann vorwärts bis auf 120 Grad angehoben werden, der linke Arm nur bis auf 90 Grad. Die Dreh- und Spreizfähigkeit ist nach den Feststellungen des Y. jedoch nicht eingeschränkt. Der von Y. hierfür vorgeschlagene Einzel-GdB von 20 ist nach Nr. 18.13 VMG so gerade erreicht.

 

Schließlich leidet der Kläger noch an leichten degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, einem Bluthochdruck, einer leichten COPD sowie an einer unter Pantozol 20 mg eingestellten Refluxkrankheit ohne weitere Einschränkungen. Die vorgenannten Leiden sind als leichtere Behinderungen mit Einzel-GdB von jeweils 10 angemessen und ausreichend bewertet.

 

Bei Ermittlung des Gesamt-GdB dürfen die Einzel-GdB gemäß Teil A, Ziffer 3 a VMG nicht addiert werden. Maßgebend sind vielmehr die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderungen größer wird. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen hierbei nach den Vorgaben in Teil A Ziffer 3 Buchstabe d ee zusätzliche Leistungsstörungen, die nur einen Einzel-GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Auch sind unter Berücksichtigung aller sozialmedizinischen Erfahrungen Vergleiche mit Gesundheitsschäden anzustellen, zu denen in den VMG feste GdB-Werte angegeben sind (ausführlich zu den Kriterien der Gesamt-GdB-Bildung auch Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen (NRW), Urteil vom 29.06.2012, Az. L 13 SB 127/11; nachfolgend Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.04.2013, Az. B 9 SB 69/12 B).

 

Danach ist bei dem Kläger von dem höchsten Einzel-GdB von 30 für die psychiatrische Erkrankung ausgehen. Dieser Einzel-GdB wird durch die soeben erreichten Einzel-GdB von jeweils 20 für die oberen und unteren Extremitäten nicht erhöht. Auch die daneben bestehenden leichteren Behinderungen mit Einzel-GdB von jeweils 10 sind bei Betrachtung des Gesamtzustandes des Klägers nicht geeignet, den Gesamt-GdB weiter zu erhöhen.“

 

Gegen diesen Gerichtsbescheid richtet sich die rechtzeitige Berufung des Klägers, der an seinem erstinstanzlichen Begehren festhält und ergänzende Unterlagen, insbesondere den Bericht über die zwischenzeitliche stationäre Rehabilitation vorgelegt hat. Der Kläger hat mitgeteilt, dass er inzwischen – allerdings mit Abschlägen – berentet wurde und weiterhin das Ziel verfolgt, durch die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft mit Wirkung ab Antragstellung in die mit geringeren Abschlägen belastete Rente für Schwerbehinderte wechseln zu können.

 

Das erkennende Gericht hat (auch) dieses Verfahren in seine generellen Ermittlungen zu den Qualitätsanforderungen an medizinische Gutachten nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) einbezogen. In diesen Musterverfahren ist gemäß § 106 Absatz 2 Nr 4 SGG die Beauftragung einer interdisziplinären Gruppe von rund 25 Sachverständigen zu den Maßstäben für Gutachten nach der oben genannten Versorgungsmedizinverordnung (VMG) erfolgt.

 

Rechtlicher Hintergrund dieser Ermittlungen ist, dass die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nach den rechtlichen Vorgaben der §§ 103, 106 SGG zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen verpflichtet sind und dabei nach der Rechtsprechung des BSG und des BVerfG auch generelle Fragen bzw. Erfahrungssätze nach dem aktuellen Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft ermitteln, bewerten und feststellen müssen, soweit diese entscheidungserheblich sind (vgl. zuletzt BSG Urteil vom 28.6.2022 – B  2 U 9/20 R- sowie Bundesverfassungsgericht  - BVerfG - Entscheidungen vom 23.10.2018 – 1 BvR 2523/13 und 1 - BvR 595/14 -). Von solchen Ermittlungen dürfen die Sozialgerichte nach der Rechtsprechung des BVerfG auch aus Kostengründen nicht absehen (vgl. BVerfG amtliche Entscheidungssammlung – Band 50, 32).

 

Tatsächlicher Hintergrund dieser Ermittlungen ist der Umstand, dass in jüngerer Zeit zunehmend offenbar wird, wie stark die Gesundheitsdaten, die die deutschen Sozialgerichte regelmäßig von den behandelnden Ärzten, Kliniken und Therapeuten gemäß § 106 SGG in Verbindung mit § 377 Abs. 3 der Zivilprozessordnung (ZPO) im Rahmen sogenannter Befundberichte erhalten, mittlerweile gezielt manipuliert („hochcodiert“) werden. Dies geschieht zum Teil, weil die Leistungserbringer durch lukrativere Diagnosecodes nach dem geltenden deutschen Recht höhere oder längerfristigere Erlöse erzielen (vgl. dazu zB BSG Urteil vom 18.12.2018 – B 1 KR 40/17 – R).

 

Zum Teil geschehen diese Manipulationen von Gesundheitsdaten auch, weil Antragsteller durch simulierte Erkrankungen in den Genuss von ihnen nicht zustehenden Sozialleistungen gelangen wollen. Dies kann bis zum strategischen Aufbau von ganzen Krankheitslegenden und Vorlage von kriminell gefertigten falschen medizinischen Gutachten reichen, insbesondere durch Vorspiegeln empirisch schwer fassbarer Erkrankungen wie Depressionen oder Schmerzen. Es gibt mittlerweile sogar ärztliche und juristische Berater, die auf ein entsprechendes „Coaching“ für das Vortäuschen von Erkrankungen mit dem Ziel von Rentenbetrug spezialisiert sind und die damit extrem hohe Schäden in der Sozialversicherung verursachen (vgl.zB: www.fruehrente.net; exemplarisch zu einem solchen Fall aus NRW: Frigelj, Die Welt, 20.4.2017: Millionenschwerer Sozialbetrug - Der Kaputtschreiber aus dem Ruhrgebiet). Der durch manipulierten Diagnosen bei den Sozialleistungsträgern des deutschen Gesundheitswesens entstehende Schaden beläuft sich auf viele Milliarden Euro jährlich (vgl. Drucksache des Deutschen Bundestages 16/3930 Seite 191, 17/14575 Seite 1).

 

Allerdings ist in der jüngeren Zeit auch zu beobachten, dass selbst die deutschen gesetzlichen Krankenkassen (die als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfasst sind) den dysfunktionalen Anreizen im deutschen Gesundheitssystem erliegen und Druck auf behandelnde Ärzte ausüben, die Erkrankungen von Versicherten zu Unrecht hochzucodieren. Dies geschieht nach den jüngsten Feststellungen des deutschen Bundesamtes für soziale Sicherung, weil die deutschen gesetzlichen Krankenkassen so in den Genuss von ihnen nicht zustehenden Ausgleichszahlungen nach dem sogenannten Morbiditäts-Risiko-Strukturausgleich gelangen können. Auch das Schadensvolumen aus diesen – sogar von staatlichen Dienststellen - zu Unrecht manipulierten Daten beläuft sich auf mehrere Milliarden Euro jährlich  (vgl. dazu: Deutsches Ärzteblatt vom 6.12.2022). Auch gehen die Sozialversicherungsträger seit der Corona-Pandemie verstärkt dazu über auch wesentliche Leistungs-Entscheidungen auf der Grundlage von Telefon-Befragungen ohne körperliche Befunderhebungen zu treffen, so zB in der Pflegeversicherung oder bei Krankschreibungen. Auch das ist ein Einfallstor für erhebliche Manipulationen.

 

Wirksame Instrumente zur Kontrolle und zur Aufdeckung dieser Manipulationen im deutschen Gesundheitssystem fehlen bislang, was wohl damit zusammenhängen dürfte, dass praktisch alle Akteure des Systems mit Ausnahme der Beitragszahler davon profitieren (vgl. dazu: Schirmer/Sielaff: Zusammenarbeit der Kranken- und Pflegekassen in der Fehlverhaltensbekämpfung, in G + S 2023, 29 ff; Benstetter,/Schirmer: Betrug und Missbrauch in der Krankenversicherung, in Grinblat/Etterer/Plugmann – Hrsg – Innovationen im Gesundheitswesen, 2022, 33 ff, 49 ff.).

 

Die deutschen Sozialgerichte sehen sich  damit als einzige neutrale Instanz im Sozialsystem und als Hüter des sozialen Rechtsstaates bei ihren medizinischen Ermittlungen, wie sie nun (auch) im Ausgangsverfahren erforderlich sind, mittlerweile einem Zustand gegenüber, in dem die früher zuverlässigen Daten aus der Behandlung von Patienten im deutschen Gesundheitswesen heute in weitem Umfang durch fehlgeleitete Interessen kontaminiert und damit unrichtig, verfälscht, unbelastbar oder sogar gänzlich unbrauchbar sind.

 

Ziel der Ermittlungen des erkennenden Gerichts in den oben genannten Musterverfahren und Inhalt der daraus auch hier in das Verfahren der Klägerin eingeführten Gutachten ist daher einerseits genau herauszufinden, in welchem Maß es überhaupt noch belastbare Gesundheitsdaten aus Quellen des deutschen Gesundheitssystems gibt bzw. wie sich diese für sozialgerichtliche Verfahren ermitteln und nutzbar machen lassen (hier geht es insbesondere um die sog. Primärdokumentation der Leistungserbringer, die üblicherweise noch unabhängig von späteren Codierungen erfolgt und daher vergleichsweise zuverlässig ist (vgl. dazu zum Beispiel jüngst Tintner und Böwering-Möllenkamp, Tagungsbericht: Workshop des Deutschen Sozialgerichtstages vom 20.4.2023 „Psychische Störungen im Sozialrecht – Begutachtung, Konsistenzprüfung und Beschwerdevalidierung“, Unterlagen abrufbar auf der Internetseite des Deutschen Sozialgerichtstages e.V. unter Tagungsbericht: Workshop „Psychische Störungen im Sozialrecht – Begutachtung, Konsistenzprüfung und Beschwerdevalidierung“ – Deutscher Sozialgerichtstag)..

 

Andererseits haben die gerichtlichen Ermittlungen in den o.g. Musterverfahren das Ziel, bessere Maßstäbe für möglichst fälschungssichere gerichtliche Gutachten zu gewinnen und damit auch einen Qualitätsstandard zu setzen, der Manipulationen künftig einen Riegel vorschiebt.

 

Die Zusammenfassung der insoweit bislang ermittelten Ergebnisse erfolgte in dem Gutachten des Sachverständigen E.. (der auch als korrespondierender Autor der in Deutschland für die allgemeine medizinische Begutachtung geltenden ärztlichen Leitlinien wirkt (vgl. Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung, AWMF Registriernummer 094/001 Entwicklungsstufe 52 k Stand 1/2019). E. hat im Wesentlichen Folgendes dargelegt:

 

„Anders als in Frankreich, wo Sachverständige in einem gesonderten Verfah­ren und nach Absolvierung einer spezifischen Ausbildung tätig werden, oder in Ös­terreich, wo die gerichtlichen Sachverständigen einer Zertifizierungspflicht durch die Ärztekammern unterliegen, sind die fachlichen Voraussetzungen für die „Gehilfen“ bzw. „sachkundiger Berater“ in Deutschland nur fragmentarisch normiert. Eine ge­nerelle Legaldefinition des „ärztlichen/medizinischen Sachverständigen“[1] fehlt ebenso wie - von Ausnahmefällen abgesehen - normative Vorgaben für deren Auswahl. Die einschlägigen Regelungen in Strafprozessordnung (StPO) und der ZPO, wobei letztere bekannt­lich auch durch Verweisungsvorschriften im Sozialgerichts- und Verwaltungspro­zess gelten, stellen die Auswahl explizit oder implizit im Wesentlichen in das Ermessen des Gerichts. Nichts Anderes gilt für die vorgelagerte Auswahlentscheidung etwa im Sozialverwaltungsverfahren.

Die gesetzlichen Regelungen knüpfen hinsichtlich der Übernahmepflicht an die ärztliche Approbation an (§ 407 Abs. 1 ZPO), in der forensischen Praxis wird darüber hinaus regelhaft die Facharztqualifikation vorausgesetzt. Lediglich in einzelnen Rechtsgebieten finden sich zusätzliche Anforderungen im Gesetz verankert, wie etwa im Betreuungsrecht (§ 280 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit oder bei der fachkundigen Überprüfung der gesundheitlichen Eignung im Zusammenhang mit der Fahrerlaubnisverordnung (§11 Fahrerlaubnisverordnung).

Umso wichtiger erscheint es, bei der konkreten Auswahlentscheidung (auch) inhalt­liche Qualitätsanforderungen einfließen zu lassen. In der Gerichtspraxis finden nach Kenntnis des Verfassers gerichtsinterne Listen Anwendung oder es wird bei den Landesärztekammern nachgefragt. Beides kann fehlerbehaftet sein. Interne Listen orientieren sich zwangsläufig an mehr oder minder subjektiven Erfahrungen mit einzelnen Gutachtern, was der tatsächlichen Qualität entsprechen kann, aber nicht muss. Insbesondere wenn sich die positiven Erfahrungen vor allem an der Schnelligkeit der Gutachtenerstattung orientieren, was prozessökonomisch Sinn macht, jedoch nicht zwangsläufig die inhaltliche Güte zu belegen vermag, ist eine dadurch geprägte Auswahl kritisch zu hinterfragen. Die Verständlichkeit der argumentativen Herleitung des Ergebnisses ist fraglos ein sinnvolleres Kriterium, allerdings kann auch ein inhaltlich unsinniges Ergebnis dem medizinischen Laien vermeintlich „verständlich“ erscheinen. Die gesetzlich angelegten Kontrollmechanismen durch das Gericht selbst oder die Verfahrensbeteiligten/Parteien sind in ihrer Effektivität - soweit dem Verfasser zugänglich - empirisch nicht ausreichend belegt. Die allein existierenden Analysen von Stichproben etwa in der gesetzlichen Rentenversicherung[2] zeigen einen Schwerpunkt der Divergenzen im neurologisch-psychiatrischen Bereich, listen allerdings nur in allgemeinen Kategorien die Gründe für die Abweichung auf (z.B. Verschlechterung, weitere Erkrankungen, divergente Wertung etc.), beschreiben aber nicht den Argumentationsweg der Gerichte in der Entscheidung zwi­schen den gutachtlichen Positionen. Immerhin wird aber auch hier, die Bedeutung der spezifisch gutachtlichen Qualifikation/Ausbildung als Garant für die inhaltliche Güte hervorgehoben.

Die Ärztekammern als Ansprechpartner für die Gutachterauswahl haben über die Weiterbildungs- und eventuell Fortbildungsqualifikation ihrer Mitglieder hinaus keine Kenntnisse zu einer besonderen gutachtlichen Expertise, z.B. zu einzelnen Krank­heitsentitäten oder Rechtsgebieten. Erschwerend kommt hinzu, dass das Erstellen von Gutachten früher explizit zum Weiterbildungsinhalt verschiedener Fachgebiete gehörte, seit geraumer Zeit aber aus den Weiterbildungsordnungen der Ärztekammern in den klinischen Bereichen herausgenommen wurde. Dies soll und wird sich (hoffentlich) zukünftig wieder ändern, da das Sachverständigenwesen als Ausbildungsgegenstand sowohl wieder in die Weiterbildung wie auch - in Grundzügen - bereits ins Medizinstudium implementiert werden soll. Diese Perspektiven in Aus- und Weiterbildung garantieren aber gegenwärtig und wohl auch auf absehbare Zeit nicht die erforderlichen methodischen Kenntnisse in der Begutachtung. Vielmehr gilt weiterhin der Erfahrungssatz, dass ein erfahrener und medizinisch qualifizierter (Fach-)Arzt aus klinischen Fächern nicht zwangsläufig auch ein guter Gutachter ist.

Einige Ärztekammern, so etwa im Land Berlin, versuchen diesen Informati­onsdefiziten zu begegnen führen Listen von Fachärzten, die die dortige Ausbildung entsprechend der strukturierten curricularen Fortbildung „medizinische Begutachtung“ der Bundesärztekammer absolviert haben, an deren Entwicklung der Verfasser ebenfalls federführend mitwirken durfte. In diesen Kursen werden methodische Grundkenntnisse in der Begutachtung vermittelt und auch - soweit gutachtlich relevant - die rechtlichen Rahmenbedingungen einzelner Rechtsgebiete erläutert. Ähnliches gilt für diejenigen Ärztinnen und Ärzte, die neben ihrer Facharztbezeichnung die Zusatz-Weiterbildung „Sozialmedizin“ absolviert haben. Der bisher dort anzutref­fende Schwerpunkt im Bereich der Zustandsbegutachtung qualifiziert insbesondere für die Rentenversicherung oder das Schwerbehindertenrecht, während Kausalitäts- Fragestellungen in den Hintergrund traten. Mit dem Bemühen, die sozialmedizini­sche Ausbildung an das strukturierte Curriculum der Bundesärztekammer anzunä­hern und auch die Grundzüge der Kausalitätsbegutachtung einzubeziehen, wird hier zumindest mittelfristig eine Änderung zu erwarten sein. Allerdings bleibt dann das Problem bestehen, dass diese Zusatz-Weiterbildung außerhalb der inneren Medizin und der Traumatologie wenig Verbreitung besitzt, z.B. in den nervenärztlichen Fächern.

Es wäre daher wünschenswert, sich bereits vor der Bestellung eines Sachverstän­digen über dessen gutachterliche Kompetenz zu vergewissern. Einige Fachgesell­schaften, wie z.B. die Deutsche Gesellschaft für neurowissenschaftliche Begutachtung (DGNB), bieten für die dort kooperierenden Fachgebiete (Neurologie, Psychiatrie, Neurochirurgie) gesellschaftsbezogene „Zertifikate“ an, die sowohl in theoretischer wie auch in praktischer Hinsicht besondere Erfahrungen in einem Supervisi­onsprozess prüfen, ln anderen Bereichen, so etwa bei der Fachgesellschaft für in­terdisziplinäre medizinische Begutachtung (FGIMB) oder die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) sind solche Zertifizierungsprogramme in der Vorbereitung. Ferner existieren mittlerweile auch universitär angesiedelte Aus­bildungsprogramme, so zum Beispiel das an der „Dresden International University (DIU)“ angesiedelte Ausbildungsprogramm „Qualifizierung zum medizinischen Sachverständigen (CPU)“, welches allerdings schon auf Grund des erheblichen Zeit- und Kostenaufwands eher von Ärztinnen und Ärzten besucht wird, die aus­schließlich oder doch schwerpunktmäßig gutachterlich tätig werden wollen. All diese Qualifizierungsinstrumente können im Vorfeld der Beauftragung von den Gerichten erfragt werden.

Um einem möglichen Einwand vorzubeugen: Eine solche Ausbildung oder ein „Zertifikat“ ist kein Garant für ein fachadäquates Gutachten. Erst recht sind damit krimi­nelle Aktivitäten, wie sie in - allerdings wirtschaftlich bedeutsamen - Einzelfällen in den vergangenen Jahren bekannt wurden, auszuschließen. Beides ist jedoch aus Sicht des Verfassers kein Grund, bei der Auswahl der Sachverständigen im Rechtsstreit auf ein solches Kriterium zu verzichten, wird doch zumindest das Be­mühen belegt, sich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen sowie den inhaltlichen Anforderungen in den einzelnen Rechtsgebieten ausbildungsmäßig zu befassen.

In nahezu allen Stellungnahmen der Fachgutachter wird die Bedeutung der Vollständigkeit der Anknüpfungstatsachen hervorgehoben. Die gerichtliche Praxis trägt dem aus ihrer Sicht nur sehr partiell Rechnung.

Die Verwaltungsakten beschränken sich zumeist auf etwaige Abschlussberichte von stationären Behandlungen in Akutkrankenhäusern oder Reha-Kliniken, hinzukommen eventuell noch vorgelegt ärztliche „Atteste“ von Behandlern. Soweit der Verfasser die Praxis nach Klageerhebung im Sozialgerichtsprozess überblickt, werden routinemäßig die Behandler von der Klägerseite listenmäßig erfasst und jeweils Be­fundberichte eingeholt, um dann das Gutachten mit einer entsprechenden Beweisanordnung in Auftrag zu geben, wobei auch hier in der Regel Formblätter mit diver­sen gesetzlichen oder von der Rechtsprechung definierten Definitionen Verwen­dung finden.

Eine Beiziehung der kompletten Behandlungsdokumentation ist die Ausnahme. Gleiches gilt für behandlungsunabhängige medizinische Informationen, soweit sie nicht bereits aktenkundig geworden sind, wie etwa ein Vorerkrankungsverzeichnis etc. Die vom Sachverständigen als Kernaufgabe geforderte Konsistenzprüfung ei­nes Beschwerdebildes wird dadurch zwangsläufig erschwert. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Zusammenstellung sämtlicher medizinischer Unterlagen unter Ergänzung nicht-medizinischer Unterlagen etwa zur Berufslaufbahn etc. zeitintensiv und auf Grund der Inanspruchnahme entsprechender personeller Ressourcen auch kostenaufwendig ist. Andererseits ist nur so dem Sachverständigen wie auch den übrigen Prozessbeteiligten eine Kontrolle möglich, ob die im Gutachten beweisrechtlich und leitlinienmäßig geforderte Konsistenzprüfung sich auf die aktu­elle Gutachtensituation mit einer mehr oder minder vollständigen Aktengrundlage beschränkt oder weitere, bislang nicht verarbeitete Informationen in einem zeitlichen Längsschnitt zur Verfügung stehen. In Bereichen, in denen der psychischen Komponente eine besondere (z.B. Schmerzbegutachtung) oder sogar die ausschlaggebende Bedeutung zukommt (z.B. Depression, PTBS), sind, so unisono die Fachgutachter aus den betroffenen Fächer,n solche Informationen auf Grund der methodenimmanent eingeschränkten Objektivierbarkeit von Beschwerden essentiell. Interessanterweise wird aber auch in den somatischen Fächern sowohl von den Sachverständigen wie auch in der Umfrage die Vollständigkeit der medizinischen wie außermedizinischen Anknüpfungstatsachen angemahnt.

Zwar bleibt es dem Sachverständigen unbenommen, auch nach Erhalt des Auftrags etwaige Unterlagen nachzufordern, was aber ebenfalls Interaktionsprobleme auf­werfen kann, insbesondere wenn das Gutachten aus vermeintlich prozessökonomi­schen Gründen schnell erstellt werden soll oder der Sachverständige aus anderen Gründen eine mehrwöchige Verzögerung zu vermeiden möchte. In Fällen, in denen nicht nur der Proband, sondern womöglich auch die Begutachtenden sich von sachfremden Erwägungen in der Informationsverarbeitung leiten lässt, wirken sich derartige Defizite bei den Anknüpfungstatsachen erst recht negativ aus, entfallen damit doch auch wichtige Kontrollinstrumente für die übrigen Prozessbeteiligten.

 

ln Rechtsgebieten, in denen (auch) Kausalitätsfragen gutachtlich zu prüfen sind, kommt als weiteres Problem die Aufklärung des situativen Kontextes hinzu. Bei vermeintlich traumatischen Ereignissen ist die Frage der Eignung der Einwirkung ein zentraler Aspekt im Argumentationsgefüge. Eine per se ungeeignete Einwirkung für den beklagten (Primär) Schaden beendet in der Regel die gutachtliche Prüfung. Informationen zum primären Ereignis sind im medizinischen Bereich fehleranfällig, da etwa Beschreibungen zum Unfallhergang in Arztbriefen unter therapeutischem Blickwinkel verfasst werden und nicht der nachträglichen gutachterlichen Objektivie­rung dienen. In anderen Bereichen (z.B. im sozialen Entschädigungsrecht) kann man auf Zeugenaussagen angewiesen sein. In solchen Fällen kann vorgeschaltete Zeugenvernehmung durch das Gericht die Qualität der gutachterlichen Beurteilung erhöhen, wenngleich unter verfahrensökonomischen Aspekten ein solcher Ablauf zwangsläufig mit Verzögerungen einhergehen muss. Andererseits wird nur so das Gericht in die Lage versetzt, seinen Aufgaben nach § 404 a Abs. 2, 3 u. 4 ZPO zu genügen und die Sachverständigen - fallbezogen - in ihre Aufgaben einzuweisen, gegebenenfalls Tatsachen vorzugeben und - falls bereits ex ante erkennbar - die Befugnisse in der Beweiserhebung klarzustellen (z.B. Anwesenheitsrecht Dritter bei der Untersuchung, Erheben von Fremdanamnesen).

Als weitere Folge dieser Vorarbeiten ist dann eine gezielte, auf die Gegebenheiten des Einzelfalls abgestellte Beweisanordnung möglich, statt sich nur auf die allge­meinen Vorgaben der üblichen Formblätter zu beschränken.

Nach Erstattung des Gutachtens eröffnen sich unterschiedliche Möglichkeiten der Kontrolle.

 

So ist darauf zu achten, dass die Anknüpfungstatsachen im Akteninhalt vollständig aufgeführt sind und - symmetrisch - in der Beurteilung verarbeitet werden. Hier wirkt es sicherlich kontraproduktiv, wenn dem Sachverständigen - letztlich aus Kostengründen - explizit aufgegeben wird, auf die Wiedergabe des Akteninhalts zu verzichten, da deren Kenntnis bei allen Verfahrensbeteiligten unterstellt werden könne. Der erfahrene Sachverständige wird dies zum Anlass nehmen, den benötigten Akteninhalt in die Beurteilungsabschnitte einzuarbeiten, der weniger erfahrene Sachverständige wird sich möglicherweise veranlasst sehen, es bei einer oberflächlichen Lektüre der Akte zu belassen. Da das Gericht auf Grund fehlenden medizinischen Sachverstands nicht immer die Entscheidungsrelevanz bestimmter Anknüpfungstatsachen beurteilen kann, wird im erstgenannten Fall die Kontrolle erschwert, im letzteren Fall nahezu unmöglich gemacht. Das gilt auch und erst recht für den Fall, dass bestimmte Indizien bewusst ausgeklammert bleiben, um die gutachtliche Argumentationslinie stringenter zu gestalten. Einen weiteren möglichen Schwachpunkt bilde die für die Bearbeitung hinzugezogene Literatur als Ausfluss des - in der Terminologie des BSG - „aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstands“, einschließlich einzubeziehender Leitlinien.

Bei allgemeinen Fragen kann gänzlich auf Literatur verzichtet werden, soweit sich ein Gutachter aber in seiner Beurteilung explizit hierauf beruft, dient es ebenfalls der externen Qualitätskontrolle das korrekte Zitat zu fordern, gegebenenfalls unter Beifügung der entsprechenden Studien bzw. Literaturauszüge. Hiervon wird nach der Erfahrung des Verfassers bedauerlicherweise in der Praxis nur selten Gebrauch gemacht, stattdessen belässt man es bei Literaturverzeichnissen als Textbaustein am Ende des Gutachtens, zuweilen sogar mit veralteten Auflagen.

Einen besonderen Stellenwert besitzen in diesem Zusammenhang die Leitlinien der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften, der Sozialversicherungsträger sowie Nationalen Versorgungsleitlinien.

 

Erstere sind Ausfluss des fachmedizinischen Kenntnisstandes zum Verabschie­dungszeitpunkt. Spezifisch begutachtungsbezogen Leitlinien erreichen methodenimmanent mangels randomisierter klinischer Studien (CRT) nicht den höchsten Evidenzlevel, bilden aber in einem formalisierten interdisziplinären Diskurs die Meinun­gen der beteiligten Fachgesellschaften ab. Sie sollen einerseits den medizinischen Lesern die rechtlichen Rahmenbedingungen der Begutachtung allgemein oder in Bezug auf einzelne Erkrankungen/Funktionsstörungen näherbringen, andererseits der Standardisierung im Ablauf dienen, um so die Vergleichbarkeit sicherzustellen. Sie sind im Internet bei der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften abrufbar und damit auch dem medizinischen Laien zugänglich.

Die sozialmedizinischen Leitlinien oder sonstigen Empfehlungen der Sozialversi­cherungsträger dienen ebenfalls der Standardisierung der Begutachtung - hier im Sozialverwaltungsverfahren - und zeichnen sich aus Sicht des Verfassers durch die spezifische Sachkunde der beteiligten Beratungsärzte aus. Der weitere Vorteil liegt in der stärkeren Berücksichtigung ökonomischer Aspekte, da aufgrund der zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht bei jeder Begutachtung alle Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns genutzt werden können (z.B. Leistungsdiagnostik mittels Funktional Capacity Evaluation, FCE = Evaluation der funktionalen Leistungsfähigkeit, EFL).

Die Nationalen Versorgungsleitlinien zu einzelnen Krankheitsbildern haben eher eine kurative Zielsetzung, enthalten aber auch Hinweise zu Epidemiologie und Diagnostik, die auch für die Begutachtung relevant sind. Ungeachtet der Frage, ob und welche dieser „Leitlinien“ die Voraussetzung des nicht minder unscharfen Begriffs „antezipierter Sachverständigengutachten“ erfüllen und auch ungeachtet der von einigen Sachverständigen kritisierten Lücken oder Widersprüchen, denen durch die zwingende periodische Überarbeitung zu begegnet werden soll, sind sie für den medizinischen Laien ein taugliches Kontrollinstrument, sind sie doch überwiegend im Internet abrufbar und bergen gegenüber der Lehrbuchliteratur weniger die Ge­fahr einer Perpetuierung von Irrtümern der jeweiligen Autoren als der vermeintlich „herrschenden Meinung“.

Schließlich, jedoch aus Sicht des Verfassers nicht zuletzt, ist die mündliche Interaktion von Verfahrensbeteiligten und Gerichten in der Inhaltskontrolle anzusprechen. Verständlicherweise herrscht hier bei den Sozialgerichten auf Grund ihrer besonderen organisatorischen Struktur wie auch bei den insbesondere klinisch tätigen Ärzten eine gewisse Zurückhaltung bis zur Ablehnung. Die gegenteilige Praxis der Zivilgerichte im Verkehrsunfall- und noch mehr in Arzthaftungssachen, in denen es nahezu regelhaft zur Anhörung der Sachverständigen zwecks Erläuterung ihrer schriftlichen Gutachten kommt, belegt allerdings, dass so Missverständnisse eher und rascher aufgeklärt werden können als durch bloße „Textexegese“ der Prozess­beteiligten.

Ein Gutachter hat es in der Bewertung biologischer Sachverhalte im Regelfall nicht mit einer homogenen, in sich schlüssigen Indizienstruktur zu tun. Vielmehr haben viele der gehörten Sachverständigen den „Mosaik-Charakter einer medizinischen Bewertung hervorgehoben, schon bei der Zustandsbegutachtung, aber erst recht in der Kausalitätsbewertung. Selbst dort, wo es objektive und semiobjektive Untersuchungsmethoden gibt, wie etwa in der Augen-, der HNO-Heilkunde oder der Urologie, ist Vorsicht geboten. So können Beschwerden und Funktionsstörungen tagesabhängig sein oder von äußeren, in der Begutachtungssituation nicht nachstellbaren Bedingungen abhängig sein. Nicht - zumindest nicht erkennbar - eingehaltene Standardbedingungen in der Untersuchungstechnik (z.B. Angabe der Raumtemperatur bei elektrophysiologischen Untersuchungen in der Neurologie) oder gar trivia­len Geräteunterschieden (z.B. in der optischen Kohärenztomografie, OCT, in der Augenheilkunde) sind weitere Quellen fehlender Reliabilität gutachterlicher Feststellungen. Im Gutachten sind derartige Limitierungen ebenso offenzulegen wie etwaige Messungenauigkeiten, ggf. sind diese vom Gericht zu erfragen.

 

Es bleibt als in an allen Fächern das Kernelement der Begutachtung, die für die Schlussfolgerungen relevanten Indizien (1.) möglichst vollständig zusammenzutragen und (2.) in ihrer Aussagekraft gegeneinander abzuwägen (z.B. Röntgen- versus intraoperativen Befund, Ergebnisse der Testpsychologie versus klinischer Beobachtung etc.). Ob dieses gegeneinander „Abwägen“ überzeugend auf sachlicher und vollständiger Grundlage geschieht, ist im schriftlichen Gutachten schon aufgrund terminologischer und methodischer Differenzen in Medizin und Rechtswissenschaft nicht immer und nicht ohne weiteres erkennbar (auch nicht bei den beliebten ergänzenden Stellungnahmen), ist aber im Zivilprozess erfahrungsgemäß den wesentlichen Gegenstand der Erörterungen mit den Sachverständigen.

Die Auseinandersetzung mit einander widersprechenden Gutachten geschieht, soweit anhand von Urteilsgründen erkennbar, häufig recht oberflächlich, wenn etwa pauschal auf die Schlüssigkeit des Gutachtens und/oder die Bekanntheit des Gutachters verweisen oder die mangelnde Überzeugungskraft aus vermeintlich unberücksichtigt gebliebenen Tatsachen abgeleitet wird, ohne dass geklärt ist, inwieweit dieser Umstand für das abweichende Ergebnis überhaupt ursächlich war. All dies sollte Anlass sein, über die Option der mündlichen Anhörung (nicht etwa des münd­lich erstatteten Gutachtens!) stärker als bisher nachzudenken und Kriterien für eine Balance zwischen Aufwand und Nutzen zu entwickeln. Nicht nur am Rande bemerkt; Das Risiko, die eigenen Wertungen mit den Beteiligten und womöglich noch mit Fachkollegen anderer Meinung erörtern zu müssen, kann sogar die Qualität schon des schriftlichen Gutachtens erhöhen und einer allzu oberflächlichen Argu­mentation (erst recht mit bewussten Fälschungstendenzen) Vorbeugen.

Während der Gesetzgeber im Instanzenzug die Wertigkeit des Diskurses für die Wahrheitsfindung schon quantitativ in der Besetzung der Spruchkörper berücksichtigt hat, blieb es im Sachverständigenbeweis seit jeher bei der Vorstellung einer außerhalb des Rechts liegenden - einzigen - Wahrheit, deren Ermittlung grundsätzlich nur eines Sachverständigen bedarf, dessen Objektivität und Unabhängigkeit durch die Bestellung des Gerichts zu gewährleisten ist. Seit den Ursprüngen unserer Prozessordnungen in einer Zeit überschaubarer Lebenssachverhalte und wissenschaftlicher Gedankengebäude hat die Komplexität sowohl der Krankheitsbilder selbst als auch und in besonderem Maße der Kenntnisstand über Ursache- Wirkungs-Beziehungen zugenommen. Parallel sind die Möglichkeiten in der Diag­nostik exponentiell gewachsen, damit aber auch die Probleme von Sensitivität, Spezifität, Reliabilität und Validität von Einzelergebnissen.

Das schon erwähnte Wertungselement in medizinischen Gutachten lässt unter­schiedliche Meinungen nahezu unvermeidlich erscheinen. Nicht immer sind Mängel hierfür die Ursache, vielmehr gibt es offenbar in vielen Fallkonstellationen nicht (mehr) die „einzige Wahrheit“ außerhalb des Rechts, wie sich immer wieder bei Falldemonstrationen auf Gutachterkongressen zeigt. Maßnahmen der Qualitätssicherung und - Verbesserung in der Begutachtung betreffen daher zuvorderst die Prozessqualität, nicht aber zwangsläufig auch die Ergebnisqualität.

Das Bemühen gerade in der Sozialgerichtsbarkeit durch Rückkoppelung der Sachverständigen etwa an die üblichen Klassifikationssysteme des ICD 10/11 oder DSM IV/V sowie ganz allgemein an den „aktuellen wissenschaftlich-medizinischen Er­kenntnisstand“ erhöht die Vergleichbarkeit gutachtlicher Aussagen, garantiert aber gleichfalls nicht deren inhaltliche Richtigkeit. Zudem haben mehrere im vorliegen­den Fall gehörte Sachverständige darauf aufmerksam gemacht, dass ein bloßes Klassifikationssystem von Diagnosen schon auf Grund der „Resteklassen“ die Spielarten einer pathologischen Störung nicht ausreichend abzubilden vermag. Selbst die aus Sicht des Verfassers grundsätzlich zu beachtenden Leitlinien als Ausfluss des medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes, die ein Abweichen erlauben, aber einer verstärkten Begründungspflicht unterwerfen, sind hinterfragungsfähig. Beispielhaft sei hier die Rolle der testpsychologischen Begutachtung genannt, zu deren Bedeutung unterschiedliche Wertungen in Leitlinien existieren.

 

So war auch zwischen den beigezogenen Sachverständigen bereits die Frage strit­tig, inwieweit diese Methodik - wenigstens in der Hand des Sachkundigen - bereits für sich genommen Aussagen erlaubt oder nur als zusätzliche Informationsquelle im Einzelfall dazu dienen kann, dem Primat des klinischen Eindrucks zusätzliche Sicherheit zu verleihen. Gerade die Testpsychologie belegt darüber hinaus exemplarisch die Gefahr, dass durch eine Quantifizierung dem Nichtfachmann eine Pseudoobjektivität vermittelt werden kann, die jedoch schon durch die Auswahl der angewandten Testverfahren und nicht zuletzt durch die Kompetenz des jeweiligen Gutachters zahlreichen - ggf. verschleierten - Einflussfaktoren unterliegt, die den beteiligten Sachverständigen und erst recht den Auftraggebern bewusst sein muss. Eine Beschwerdevalidierung gehört bei Inkonsistenzen sicherlich zum gutachterlichen Repertoire, entsprechende Kompetenz in Auswahl und Auswertung vorausge­setzt. Ein häufig geforderter Automatismus kann wiederum eher einem unkritischen Einsatz Vorschub leisten, mit falsch negativen wie positiven Ergebnissen für die Betroffenen.

Ein weiterer Beitrag zur Qualitätsverbesserung kann dadurch geleistet werden, dass in der Formulierung der normativen Vorgaben stärker die Möglichkeiten und Grenzen medizinischer Erkenntnis in den Blick genommen und kaum bzw. gar nicht operationable Begriffe nicht dem Gutachter überantwortet wird. So kann die mögliche Gehstrecke vom Mediziner allenfalls geschätzt werden, wobei jedwede „Schätzung“ des Sachverständigen Abgrenzungsprobleme zur Beweiswürdigung aufwirft, eine objektive „Ermittlung“ ist nicht möglich. Erst recht gilt dies für die Einbeziehung normativer, für den Mediziner fachfremder Elemente wie etwa bei der Frage der „zumutbaren Willensanstrengung“. Im Idealfall sollte sich die Beweisanordnung auf medizinische messbare bzw. zumindest fachlich beurteilbare Fakten beschränken.

Einen ebenfalls nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Qualität medizinischer Gutachten hat schließlich die Vergütungsstruktur der Sozialgerichte. Die kontrapro­duktive Vorgabe in Bezug auf die Wiedergabe des Akteninhalts war bereits angesprochen worden. Die in den Bundesländern unterschiedlichen Vorgaben im Zeitaufwand für das Aktenstudium sind - soweit für den Verfasser ersichtlich - empirisch nicht belegt, sondern resultieren offenbar allein aus der Spruchpraxis der Kostensenate der Landessozialgerichte.[3] Die Vorgabe, nur solche Aktenbestandteile als berücksichtigungsfähig einzustufen, die mindestens 50% medizinischen Inhalt aufweisen, ist weder überprüf- noch inhaltlich begründbar. Wie wird diese Quote ermittelt und warum beeinflusst der Anteil medizinischer Informationen den Zeitauf­wand für das Aktenstudium? Ferner wird übersehen, dass auch nichtmedizinische Aktenbestandteile u.U. für die medizinische Beurteilung bedeutsam sein können, man denke etwa an die schul- und berufliche Karriere zur Beurteilung der Kausalität eines bestimmten Ereignisses für eine nachfolgende psychische Störung. Ähnliches gilt für die in dieser Apodiktik unzutreffenden Aussage, dem Sachverständigen müsse die einschlägige Literatur bekannt sein, weshalb es im Regelfall keines Aktenstudiums bedarf. Die Fragestellungen an die Gutachter ist derartig vielfältig, dass es nicht nur in Ausnahmenfällen einer Auseinandersetzung mit dem jeweils aktuellen Kenntnisstand bedarf, um die - zu Recht - gestellten Anforderungen der Recht­sprechung zu genügen. Auch die Einordnung der Gutachten in die Vergütungsklassen (M1 bis M3) erfordert schon eine gewisse medizinische Expertise, weshalb die hier nicht selten anzutreffende Schematisierung in der Begründung vorgenommener Kürzungen erstaunt.

Man sollte trotz des schon jetzt erheblichen Kostenaufwands schließlich nicht aus dem Blick verlieren, dass derartige, im medizinischen Schrifttum immer wieder kriti­sierten Restriktionen zu qualitätsmindernden Fehlanreizen führen können, wie etwa der Versuch einer Zeitersparnis durch Oberflächlichkeit im Aktenstudium oder durch Verwendung von Textbausteinen zur Erleichterung der gutachterlichen Argumenta­tion. Beides kann nicht im Interesse der Sozialgerichtsbarkeit, der Prozessbeteiligten wie auch der Gesellschaft insgesamt liegen.    

 

Zusammenfassend ist festzustellen, dass aus Sicht der beigezogenen Sachverständigen die möglichst vollständige Ermittlung der Anknüpfungstatsachen einen unverzichtbaren Beitrag zur Qualitätssicherung medizinischer Gutachten darstellt. Auch wird eine stärkere Kommunikation mit den Gerichten gefordert, sei es durch Einweisung vor, sei es durch Übersendung von Abschriften nach Abfassung der Sachentscheidung.

 

Aus Sicht des Verfassers bietet auch eine stärkere Abklärung der gutachterlichen Kompetenz im Vorfeld sowie die mündliche Erörterung eines Gutachtens im Termin eine verlässlichere Gewähr dafür, dass medizinische Sachverständige (1.) die Grundlagen der Begutachtungsmethodik beherrschen und (2.) bei der Abfassung des Gutachtens größere Sorgfalt walten bzw. sich etwaige Missverständnisse/ Fehlinterpretationen bereinigen bzw. vermeiden lassen.“

 

Bezogen rauf diese allgemeinen Ermittlungen des erkennenden Gerichts zu Qualitätsanforderungen an Gutachten nach den VMG haben die Bevollmächtigten des Klägers zu dessen konkretem Fall Folgendes vorgetragen:

 

Der Senat hat umfangreiche Ermittlungen zur Qualitätssicherung von Begutachtungen durchgeführt. Hieraus ergeben sich Anforderungen an die Durchführung der Begutachtung, die im vorliegend unseres Erachtens nicht erfüllt sind.

 

Hinzuweisen ist aus hiesiger Sicht insbesondere auf die folgenden Gesichtspunkte:

 

1.

 

Relevante Anknüpfungstatsachen sind der Sachverständigen L. nicht vor der Beauftragung zur Begutachtung verbindlich vorgegeben worden.

 

S. hat darauf hingewiesen, dass dem medizinischen Sachverständigen nicht-medizinische Sachverhalte konkret vorzugeben sind, etwa das sog. A-Kriterium (nach DSM-5) im Falle der Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Die Diagnose einer PTBS oder (künftig) Komplexen PTBS „kann nicht gestellt werden ohne Vorgabe des zugrunde liegenden Traumas gerade aufgrund der weitreichenden forensischen Bedeutung der Diagnose PTBS“ (S. 7 der Stellungnahme). Dies entspricht auch der Sichtweise des erkennenden Gerichts (Urteil vom 03. Juli 2020 – L 13 SB 33/20 -, Rn. 126 f., zit. n. juris). Das auslösende Ereignis der PTBS ist unter F43.1 des ICD-10 definiert als „belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“. Dieses Lebensereignis muss zunächst festgestellt sein, bloße eigenanamnestische Angaben reichen nicht.

 

Entsprechendes muss auch für eine Suchterkrankung gelten. Auch diese setzt einen gesicherten Konsum der schädlichen Substanz über bestimmte Zeiträume voraus. Einleitend wird zu den Diagnosen F 10 bis F 19 im ICD-10 ausgeführt:

 

„Die Identifikation der psychotropen Stoffe soll auf der Grundlage möglichst vieler Informationsquellen erfolgen, wie die eigenen Angaben des Patienten, die Analyse von Blutproben oder von anderen Körperflüssigkeiten, charakteristische körperliche oder psychische Symptome, klinische Merkmale und Verhalten sowie andere Befunde, wie die im Besitz des Patienten befindlichen Substanzen oder fremdanamnestische Angaben.“

 

Bei einigen dieser Kriterien, insbesondere den fremdanamnestischen Angaben, handelt es sich um nicht-medizinische Tatsachen, die zunächst zu ermitteln sind, etwa durch Befragung von Zeugen, bei strafbarem Verhalten Beiziehung der entsprechenden Ermittlungsakten, bei arbeitsrechtlichen Konsequenzen Befragung des Arbeitgebers oder Beiziehung von Gerichtsakten zu Kündigungsschutzverfahren oder ähnlichem.

 

Es hätte vorliegend nahegelegen, insbesondere die Ehefrau oder den Arbeitgeber zu Ausmaß und Folgen des Alkoholkonsums zu befragen. Diese Tatsachen hätten dann der Sachverständigen mit der Beauftragung verbindlich vorgegeben werden müssen.

 

Vorliegend hat die Sachverständige L. bei dem Kläger eine Alkoholabhängigkeit auch in Zweifel gezogen. Sie hat im Gutachten vom 08.07.2021 ausgeführt, dass sich „aus der Anamnese Hinweise auf eine Missbrauchsproblematik oder auch mögliche Abhängigkeitsproblematik“ ergeben würden, „die aber nicht nachgewiesen werden“ könne. Die Abhängigskeitserkrankung sei „durch die Aktenlage nicht ausreichend dokumentiert“ (S. 37). Die Alkoholproblematik sei „medizinisch nicht ausreichend dokumentiert, kann also nicht als nachgewiesen gelten“ (S. 39).

 

Zur Klärung hätten jedoch Methoden zur Sachverhaltsaufklärung zur Verfügung gestanden.

 

Zu den körperlichen Untersuchungsmethoden bei chronischem Alkoholkonsum kann etwa auf die Ausführungen in der einschlägigem Leitlinie der Deutschen Rentenversicherung verwiesen werden (Sozialmedizinische Beurteilung bei Abhängigkeitserkrankungen, Stand Dezember 2018, S. 14 f.):

 

„Der Alkoholkonsum in der mittelfristig zurückliegenden Periode kann durch die Messung des carbohydratdefizienten Transferrins (CDT) festgestellt werden. Wenn täglich über eine Dauer von zwei bis drei Wochen 60 Gramm Alkohol pro Tag konsumiert werden, treten erhöhte CDT-Werte auf. Langfristiger Alkoholkonsum äußert sich darüber hinaus in erhöhten Werten für y-GT, GPT (ALAT), GOT (ASAT), MCV und Äthylglucuronid (EtG). Als Marker für kurzfristigen hohen Alkoholkonsum innerhalb der letzten drei Tage steht EtG im Urin zur Verfügung. Chronischer Alkoholkonsum kann durch die Bestimmung von EtG in Haaren nachgewiesen werden.“

 

In diesem Sinne hat V. in seinem Anschreiben vom 13.04.2021 (unter Ziff. 1 auf S. 2) darauf verwiesen, dass die Bestimmung von Alkoholmarkern wie bspw. CDT von Nervenfachärzten unzureichend genutzt wird. In seiner Stellungnahme vom 29.06.2021 (S. 13) führt er aus, dass das Protein CDT besonders aussagekräftig sei, da es nicht nur den unmittelbar vorangegangenen Alkoholkonsum abbilde, sondern einen Zeitraum von ca. 2-3 Wochen. Alkoholabhängige Personen könnten zwar unmittelbar vor der gutachterlichen Untersuchung abstinent bleiben, jedoch nicht für einen derart langen Zeitraum. Zudem betrage die Spezifizität des Alkoholmarkers CDT bis zu 98 %, so dass bei festgestellt erhöhtem Wert ein Alkoholkonsum von mind. 50 g reinem Alkohol in annährend jedem Fall feststehe.

 

Es hätte also eine zuverlässige naturwissenschaftliche Methode zur Klärung der Frage zur Verfügung gestanden, ob und in welchem Ausmaß bei dem Kläger eine Suchterkrankung objektiviert werden kann.

 

Die nötigen Ermittlungen sind nachzuholen.

 

Abgesehen verschleiert die Sachverständige mit der Feststellung bei den Diagnosen (S. 32 des Gutachtens), dass der Kläger „derzeit abstinent“ sei, das Problem. Der Kläger hat zwar im Gespräch angegeben, seit 8 Wochen keinen Alkohol mehr getrunken zu haben. Es ist aber auch seine Schilderung festgehalten, dass er sich täglich auf dem Heimweg von der Arbeit 2 Flaschen Wein kaufe, um „abzustressen“ (S. 19).

 

Selbst wenn der Kläger nur eine Flasche davon täglich trinkt (und seine Ehefrau die andere), nimmt er damit 72g reinen Alkohol zu sich (750 ml x 12/100 x 0,8). Dies liegt weit oberhalb eines kritischen Wertes: In Deutschland liegen die Grenzwerte für einen „risikoarmen Alkoholkonsum“  bei bis zu 24 g Reinalkohol pro Tag für Männer (z.B. zwei Gläser Bier à 0,3 l) und bis zu 12 g Reinalkohol für Frauen (z.B. ein Glas Bier à 0,3 l). Darüber hinaus liegt ein riskanter Alkoholkonsum vor (vgl. AWMF-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“, Stand: 28.02.2016, S. 4 f.).

 

Der Kläger überschreitet diesen Wert deutlich. Von Abstinenz kann, jedenfalls im Längsschnitt, auf den es ankommt, überhaupt keine Rede sein.

 

Entsprechendes gilt für den Dauerkonsum des Klägers von Benzodiazepin. L. führt insofern aus, dass die Dauermedikation „nicht mehr zeitgemäß“ sei und nur „in Ausnahmefällen“ erfolgen sollte (S. 40). Gleichzeitig hat der Kläger angegeben, dieses Medikament seit Jahrzenten einzunehmen. L. hätte insofern den Medikamentenspiegel durch eine Blutuntersuchung feststellen können und müssen. Auch dies ist nachzuholen.

 

2.

 

Es sind nicht alle notwendigen Unterlagen bei der Begutachtung berücksichtigt worden.

 

Dr. Abels (Stellungnahme vom 23.04.2021, S. 8) empfiehlt im Fall schmerzmedizinischer-psychischer Fragestellungen, dass dem Gutachter die gesamte Schmerzdokumentation aus der Zeit vor dem laufenden Verfahren vorliegt, z.B. Schmerzfragebögen, Verlaufs- und Kopfschmerzfragebögen. Bei psychischen Fragestellungen sei insb. die Originaldokumentation der psychotherapeutischen Behandlungen – inkl. Mitschriften der behandelnden Psychotherapeuten – erheblich zur Plausibilisierung der gestellten Diagnosen und der abgeleiteten Beeinträchtigungen.

 

Entsprechend empfiehlt der Facharzt für Mund-Kiefer- Gesichtschirurgie J., „von vorneherein die vollständige Praxisdokumentation beizuziehen, zumal nur derart die tatsächliche Konsultationsfrequenz offenbar wird“ (Stellungnahme vom 23.06.2021, S. 9).

Er empfiehlt, eine möglichst breite Datenlage bei der Begutachtung zugrunde zu legen (ebd., S. 11), sogar „von vorneherein vollständige Krankenblätter nach stationären Behandlungen und komplette, unselektierte Praxisdokumentationen der gesamten fachärztlichen Befunderhebungen beizuziehen“ (ebd., S. 15). Im Falle etwa stationärer Behandlungen sollten dem Sachverständigen anstelle des i.d.R. aus Textbausteinen zusammengesetzten Entlassungsbriefs das vollständige Krankenblatt inkl. der Aufnahme- und Laborbefunde, OP-Berichte und Narkoseprotokolle, Pathohistologien sowie ggfs. Physiotherapie- und Logopädieberichten zur Verfügung stehen (Stellungnahme vom 30.03.2021, letzte Seite). Auch K. (Stellungnahme vom 31.03.2021, S. 1) merkt an, dass bereits im Vorfeld der Begutachtung sichergestellt werden sollte, dass Atteste, die nur eine Diagnose enthalten, um die erhobenen ausführlichen psychopathologischen Befunde ergänzt werden. S. betont (Stellungnahme vom 13.04.2021), dass es im psychiatrischen Fachgebiet ganz entscheiden auf die „bis in jedes Detail gehende Kenntnis der Aktenlage“ ankomme (S. 3), was auch die Beiziehung der Primärdokumentationen sämtlicher Behandler erfordere (S. 5).

 

Dieser einzuhaltende Standard wird vorliegend nicht erreicht.

 

Vorliegend befindet sich der Kläger u.a. seit 1993 (!) in psychiatrischer Behandlung bei P.. Dessen Behandlungsdokumentation hätte beigezogen werden und der Sachverständigen mit der Gerichtsakte zur Verfügung gestellt werden müssen.

 

L. schreibt (S. 39 des Gutachtens):

 

„Die vom Behandler diagnostizierte und offenbar in der psychosomatischen Rehabilitationsbehandlung übernommene Diagnose einer Persönlichkeitsstörung kann nicht gestellt werden. Hierzu ergeben sich keine ausreichenden Hinweise, worauf sich die Diagnose des Behandlers stützt, wird nicht bekannt.“

 

Allein diese Passage verdeutlicht die Notwendigkeit der Beiziehung der vollständigen Aufzeichnungen des Behandlers. Ohne vollständige Unterlagen kann die Begutachtung den Qualitätsanforderungen ansonsten nicht gerecht werden und bleibt, wie die Ausführungen von L. zeigen, lückenhaft.

 

3.

 

Die bei der Begutachtung erhobenen Befunde sich nicht gesichert worden.

 

Wie schließen uns den Ausführungen des Berichterstatters im Vortrag beim Sozialmedizinertag in Bad Sassendorf 2012 an. Dort sind unter Nrn. 7 und 11 die Thesen aufgestellt, dass häufig im Strengbeweis verwertbare Befunde, etwa Tonbandprotokolle, fehlen würden. Hierzu wird dann näher ausgeführt:

 

„(…) das Gespräch zwischen Proband und Arzt ist sicherlich ein psychiatrischer Befund. Umso erschreckender ist es, dass in der forensischem Praxis so gut wie kein psychiatrisches Gutachten diesen zentralen Befund objektiv dokumentiert. (…) [E]s gilt aber ganz generell: Sie müssen als Gutachter Ihren Befund dokumentieren. Eigentlich ist es vollkommen simpel. Sie lassen ein Tonbandgerät mitlaufen. (…) Ein Befund ohne Dokumentation ist demgegenüber wertlos.“

 

Dies scheint inzwischen auch dem Stand der Wissenschaft zu entsprechen. Die klinische Neuropsychologin Z. weist darauf hin, dass es bei der freien Exploration für den Sachverständigen keine Möglichkeit gibt, den Befund so abzusichern, dass die Validität tatsächlich geprüft werden kann (Stellungnahme vom 18.05.2021). in dem vor ihr dem Gericht überreichten Aufsatz von Dohrenbusch et. Al. (RPsych 7. Jg. 1/2021, S. 43) wird u.a. folgendes Fazit gezogen:

 

„Es kann erwartet werden, dass psychologische Befundsicherungsmaßnahmen v.a. dann angemessen sind, wenn das Gericht Tatsachen (Gesundheitsschäden) im Sinne des Vollbeweises sichern muss, um daraus Leistungsansprüche der Betroffenen abzuleiten. Besondere Anforderungen an die Befundsicherung können erforderlich sein bei deutlichen Vorteilen durch den Nachweis von Gesundheitsschäden, bei Hinweisen auf invalide Angaben oder Testergebnisse in früheren Untersuchungen, bei Zweifeln am Krankheitswert von Beschwerden und Beeinträchtigungen und bei erheblichen Differenzen zwischen Krankheitswert und Krankheitsverhalten“.

 

Da im Sozialrecht generell (mit Ausnahmen bei der Kausalitätsbeurteilung) der Maßstab des Vollbeweises gilt, hat demzufolge notwendigerweise in jedem sozialgerichtlichen Verfahren eine Befundsicherung stattzufinden.

 

Die Sachverständige L. hat von dem Gespräch mit dem Kläger während der ambulanten Untersuchung jedoch weder eine vollständige Tonaufzeichnung noch ein Wortprotokoll erstellt.

 

4.

 

Es ist kein testpsychologisches Verhalten nach aktuellem wissenschaftlichen Standard durchgeführt worden.

 

Die klinische Neuropsychologin Z. weist darauf hin (Stellungnahme vom 18.05.2021), dass es bei der freien Exploration für den Sachverständigen keine Möglichkeit gibt, den Befund so abzusichern, dass die Validität tatsächlich geprüft werden kann. Sie stellt fest (S. 4 der Stellungnahme):

 

„Um – gegenüber klinischen Urteilen – einen realen Erkenntnisgewinn über die Ausprägungen psychischer Eigenschaften zu erzielen, sollten Testinstrumente eingesetzt werden, die erstens Breitbandcharakter besitzen und zweitens testimmanente Validierungskennwerte aufweisen. (…) Testpsychologisch besteht kein Zweifel daran, dass geeignete Testverfahren notwendig sind, um Befunde zu objektivieren und Verzerrungen entgegenzuwirken.“

 

Außerdem (S. 17 der Stellungnahme):

 

„Testpsychologische Verfahren können dabei eine zufalls- und valenzkritische Absicherung von Eigenschafts- und Fähigkeitsausprägungen liefern, anhand derer die tatsächliche Ausprägung von Funktionen und Funktionsbeeinträchtigungen weit treffender und zuverlässiger bestimmt werden kann, als dies durch freie Erhebungsverfahren (zum Beispiel Exploration, freie Verhaltensbeobachtung, klinischer Befund) möglich ist.“

 

Zu den Mindestanforderung an valide („fälschungssichere“) Begutachtungsergebnisse zählt Z., dass durchgeführte testpsychologische Untersuchungsmaterialien (d.h. Rohwerte und Auswertungen) testpsychologisch geschulten Gutachtern auf Anfrage zur Verfügung gestellt werden sollten (Stellungnahme vom 18.05.2021, S. 23). Diese Möglichkeit der weiteren Beweisführung wird der klagenden Partei abgeschnitten, wenn solche Rohdaten und Auswertungen gar nicht erst ermittelt werden.

 

Auch das eingesetzte Testinstrument selbst muss zudem dem Stand der Wissenschaft entsprechen.

 

Z. geht, einem Vorschlag der American Psychiatric Association folgend, davon aus, dass bei der Untersuchung psychischer Funktionen nur sog. Validierende Breitband-Instrumente geeignet sind, den Vollbeweis zu liefern, wenn die/der Versuchsleiter/in kenntnisreich mit ihnen umgeht. Folgende drei in deutscher Sprache vorhandenen Persönlichkeitsinventare kommen ihr zufolge in Betracht: Minnesota Multiphasic Personality Inventory-2 (MMPI-2), Minnesota Multiphasic Personality Inventory-2 Restructured Form (MMPI-2-RF) und das Verhaltens- und Erlebnisinventar (VEI) entsprechend dem Personality Assessment Inventory (PAI).

 

Als nicht geeignet wird – neben vielen anderen Persönlichkeitsfragebögen ohne testimmanente Validierungskennwerte – bspw. das Becksche Deppresions-Inventar (BDI) wegen der fehlenden Kontrollskala angesehen. I. führt aus (S. 20 der Stellungnahme):

 

„Deshalb sollte bei klinisch-psychologischen/psychiatrischen Fragestellungen grundsätzlich ein Breitbandpersönlichkeitsinstrument mit validierenden Kontrollskalen zum Einsatz kommen (…). Solche Inventare überprüfen die Selbstbeschreibungen des Probanden in verschiedenen Tendenzrichtungen. Dabei müssen die Inventare testintern so konzipiert sein, dass sie die zu erwartenden, spezifischen antwortverzerrenden Richtungen in der Gutachtensituation abbilden.“

 

Ergänzend hierzu ist auf die Stellungnahme von N. (Stellungnahme vom 23.04.2021) hinzuweisen, der mit Verweis auf diverse Studienergebnisse ausführt, dass die häufig genutzten Fragebögen „Becksches Depressions-Inventar“ (BDI) und „Freiburger Persönlichkeitsinventar“ (FPI-R) letztlich nur eine subjektive Selbstzuschreibung des Probanden erfassen. Diese Fragebögen seien daher alleine nicht geeignet, valide psychiatrische Aussage zur Diagnose z.B. einer Persönlichkeitsstörung oder depressiven krankhaften Störung zu treffen (S. 4). Besonders negativ bewertet X. das BDI in seiner Stellungnahme vom 20.05.2021, dort S. 6: „suggestive Antwortkategorien (…) Frageformulierung ist schwammig und unspezifisch (…) Verzerrte Messungen sind hier ebenso wie Manipulation quasi unvermeidbar“.

 

Die Sachverständige L. hat zwar eine testpsychologische Untersuchung bei dem Kläger durchgeführt, jedoch hierbei das ungeeignete Freiburger Persönlichkeitsinventar verwendet. Dieses enthält, wie ausgeführt, keine testimmanenten Validierungskennwerte, entspricht also nicht aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

 

5.

 

Es sind keine leistungsbezogenen Ermittlungstools zur Anwendung gekommen.

 

O. weist in seiner Stellungnahme vom 28.05.2021 darauf hin, dass zur Ermittlung von Funktionsbeeinträchtigungen das EFL-Verfahren (Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit) zur Verfügung steht sowie auch das Arbeitssimulationsgerät ERGOS oder das Saphir-System. Diese ermöglichen es, im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates das Ausmaß von Gebrauchs- oder Belastungsbeeinträchtigungen zu ermitteln. Der Vorteil gegenüber etwa der Neutral-Null-Methode liegt darin, dass nicht unter Ruhebedingungen gemessen wird, sondern unter den Belastungen eines Arbeitstages. O. weist darauf hin, dass selbst die im Röntgenbild erkennbaren Verschleißerscheinungen nicht zwangsläufig mit den tatsächlich vorhandenen Beschwerden eines Probanden korrelieren (S. 1-2 der Stellungnahme).

 

Um eine Beeinträchtigung der Teilhabe i.S.v. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zu ermitteln, erscheint es unabdingbar, das tatsächliche Ausmaß der Funktionsminderung möglichst genau zu objektivieren. Hierfür steht als internationaler Standard die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) zur Verfügung. Unter die einzelnen Codes können sämtliche Beeinträchtigungen nachprüfbar subsummiert werden. Die abstrakte Bezifferung von GdB bloß anhand der Werte der VersMedV wird dem nicht gerecht, zumal oft erhebliche Spannen zur Verfügung stehen, in die eine konkrete Teilhabebeeinträchtigung nicht allein anhand medizinischer Diagnosen eingeordnet werden kann.

 

Diesen Anforderungen ist die Begutachtung vorliegend nicht gerecht geworden. Streitentscheidend sind vorliegend auch Beeinträchtigungen des Stütz- und Bewegungsapparates, die nicht vollumfänglich ermittelt sind. Wir regen eine umfassende Prüfung der Funktionsfähigkeit wie von O. vorgeschlagen dringend an.

 

6.

 

Es ist nicht ersichtlich, dass die vorliegenden Begutachtungen unter Zugrundelegung des aktuellen wissenschaftlichen Standes erfolgt sind.

 

Generell zu fordern, dass gerichtliche Sachverständigengutachten nach aktuellen Wissensstand erstellt werden. Für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung fordert das BSG, die Beurteilung auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu basieren. Hierfür wiederum müssen Ausgangsbasis die Fachbücher und Standardwerke insb. zur Begutachtung im jeweiligen Bereich sein, außerdem, soweit sie vorliegen und einschlägig sind, die jeweiligen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Hinzu kommen aktuelle Veröffentlichungen aus Fachzeitschriften (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 – B 2 U 1/05 R -, BSGE 96, 196-209, SozR 4-2700 § 8 Nr 17, Rn. 25-26). Außerdem ist die Nachvollziehbarkeit von Gutachten generell zu fordern (vgl. etwa Giesbert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 128 SGG (Stand: 15.07.2017), Rn. 55 m.w.N.). Aus diesen beiden Anforderungen folgt, dass der Sachverständige dem Leser mitteilen muss, auf welcher Literaturgrundlage seine Ausführungen basieren.

 

Im Gutachten von L. sind für Begriffsdefinitionen und allgemeine medizinische Ausführungen keine Belege aus aktueller Fachliteratur wie vom BSG gefordert aufgeführt. Auch am Ende des Gutachtens findet sich kein Literaturnachweis. Im Fall des Klägers hätte es nahegelegen, sich an den AWMF-Leitlinien zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen sowie zu alkoholbezogenen Störungen zu orientieren.

 

Y. zitiert nur den Kommentar von Wendler/Schillings, ohne allerdings die benutzte Auflage zu benennen. Auch dies wird den Anforderungen an ein gerichtliches Gutachten nicht gerecht.

 

Für keines der beiden Gutachten lässt sich daher nachvollziehbar feststellen, auf welchem Kenntnisstand die Ausführungen basieren.

 

7.

 

Nach alledem ist die Beweisaufnahme zu wiederholen. Insbesondere das Gutachten von L. entspricht nicht den Anforderungen und kann daher nicht die Grundlage für eine abweisende Entscheidung bilden.“

 

Zur weiteren Aufklärung ist vom erkennenden Gericht sodann zunächst versucht worden den Kläger und die Sachverständige L. persönlich in einem Gerichtstermin anzuhören. Nachdem sich dies als organisatorisch undurchführbar erwies, ist Frau L.  gebeten worden ihr Gutachten unter Berücksichtigung der oben genannten generellen Beweisergebnisse zu Qualitätsanforderungen an medizinische Gutachten näher zu erläutern.

 

Sie hat dazu Folgendes ausgeführt:

„Im Berufungsvorbringen … wird erneut Kritik bezüglich der Qualität meines Gutachtens geäußert, auf die ich bereits in großen Teilen in meiner Stellungnahme vom 15.09.2022 eingegangen bin. Neue medizinische Sachverhalte werden mit dem genannten Schreiben nicht vorgelegt.

 

Die Ausführungen im Entlassungsbericht bezüglich der nach meiner Begutachtung stattgehabten Entwöhnungsbehandlung stützen vollumfänglich die Einschätzung des Einzel-GdB von 30 (im unteren Ermessensspielraum) für das seelische Leiden inklusive der Abhängigkeitserkrankung.

 

Um auch auf die erneut vorgetragene Kritik bezüglich meiner handschriftlichen Notizen noch einmal einzugehen, möchte ich betonen, dass meine Notizen im Sinne eines Protokolls, sich nah auf den Wortlaut des Probanden beziehen und dazu dienen, zeitnah, in Abschnitten, im Beisein des Probanden und damit seiner Kontrolle unterliegend, das Diktat des Gesagten zu verfassen. Das erfolgt selbstverständlich indirekter Rede (wie bei Gutachten und medizinischer Anamnese nicht nur üblich sondern lege artis). Sicherlich finden dabei gewisse Änderungen des genauen Duktus statt, was die Verständlichkeit des Gesagten für den Leser des Gutachtens fördert. Auch gehört es zu meiner Routine dabei wiederholt rückzufragen, ob die Wiedergabe korrekt war bzw. der Inhalt des Gesagten von mir erfasst wurde. Dieses Vorgehen ist für den Probanden besonders transparent, daher praktiziere ich dieses seit Jahren. Die komplette Anamnese aufzunehmen ist in Deutschland nach meiner Kenntnis und nach einem stetigen Austausch mit zahlreichen gutachtlich tätigen Kollegen meines Fachgebietes nicht üblich, so wie es sich zum Beispiel derzeit in der Schweiz etabliert. Die Kritik, dass ich nicht fachgerecht vorgegangen bin, möchte ich somit ganz entschieden zurückweisen.

 

Da nun vom Rechtsvertreter erneute Kritik bezüglich des Literaturstudiums für das Gutachten vorgebracht wird, möchte ich darauf ebenfalls erneut eingehen: Für die Begutachtung war kein besonderes Literaturstudium nötig, da ich über die entsprechende Expertise verfüge. Eine Liste der weitergehenden Fachliteratur, die ich gelegentlich im Zweifel zu Rate ziehe, hänge ich gerne an (siehe unten). Auch wenn sich nicht nachvollziehen lässt, was das zur Sache tut, möchte ich versichern, dass ich über diese Fachliteratur auch durchaus verfüge, was vom Rechtsvertreter ebenfalls angezweifelt wird.

 

Bei der Annahme, ich habe mich auf den Standpunkt gestellt, die alleinige Exploration reiche zur Beschwerdevalidierung, handelt es sich um ein Missverständnis, so wurde dies von meiner Seite nicht formuliert. Selbstverständlich ist die Beschwerdevalidierung oder Konsistenzprüfung nur unter Zusammenführung der in der Exploration spontan und auf Nachfrage gemachten anamnestischen Angaben unter besonderer Berücksichtigung der Tagesablaufschilderung, der durchgehenden fachärztlichen geschulten Beobachtung in der Gutachtensituation (bei Anamnese, Durchführung der Test, der körperlichen Untersuchung, des „unbeobachteten“ Verhaltens etc.), der objektivierbaren Untersuchungsergebnisse und der Aktenlage möglich.

 

Zusammenfassend kann hier zum Berufungsvorbringen festgestellt werden, dass mit damit keine weiteren medizinischen Aspekte zur Sprache kommen und auch keine weiteren medizinischen Unterlagen vorgelegt werden, die einer Diskussion bedürfen beziehungsweise Anlass gäben zu einer Neubewertung, sodass meine gutachtliche Bewertung vollumfänglich aufrechterhalten werden kann.“

 

Weil diese Stellungnahme von Frau L. auch aus Sicht des erkennenden Gerichts angesichts der klägerischen Einwände als nicht ausreichend erschien, ist Frau S. zum konkreten Fall des Klägers sodann gem. § 106 Abs. 2 Nr. 4 SGG um ein Gutachten nach Aktenlage gebeten worden. Frau S. hat folgendes dargelegt:

 

„Nachfolgend erstatte ich Ihnen das mit Schreiben vom 02.05.2023 (hier eingegangen am 10.05.2023) angeforderte Gutachten zu der Frage,

 

• ob das Gutachten von Frau L. dem aktuellen wissenschaftlichen Standard entspricht und,

• ob es die Beweisfragen des Gerichts fälschungssicher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beantwortet.

 

Mit übersendet waren im Nachgang zum einen der Schriftsatz des Beklagten, des Ü. Kreises vom 02.05.2023, des DGB vom 11.05.2023 und sodann wurde unter dem 13.06.2023 das Gutachten E. übersendet. Im Hinblick auf die stark eingegrenzte Fragestellung wurden keine weiteren Unterlagen beigezogen.

 

Mein Gutachten stützt sich

 

• auf die Leitlinie der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften zur Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Störungen (Leitlinienregister 051-029),

• des Weiteren auf das Sachverständigengutachten und die dort aufgeführten Kriterien von E. und

• auf das sorgfältige Studium der mit übersendeten Akten:

 

1. der Hauptakte, im Folgenden HA, Blatt 1 — 334,

2. der Beiakte, im Folgenden BA, Blatt 1 — 39.

 

Medizinischer Sachverhalt nach Aktenlage (gemäß Leitlinienanforderung chronologisch aufgearbeitet):

 

1983 Beginn der Inanspruchnahme psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung (Angabe Blatt 168 der Akte Klinikum Q.).

 

1993 Beginn der Behandlung bei dem Oberarzt P. aufgrund einer „erheblichen Krise". Es wird weiter ausgeführt, dass damals auch eine Zwangssymptomatik mit einem deutlich depressiven Zustand bestanden habe. Durch Gespräche und eine svmptomorientierte Gabe von adäquaten Dosen von Psvchopharmaka sei es gelungen, den Patienten im Arbeitsleben zu halten.

„Er strebte sogar nach Höherem, schaffte die Position eines Heimleiters zu ergattern. Damit war er aber zunehmend überfordert, bis es dann 2008 zum Zusammenbruch kam." Er sei dann degradiert worden und arbeite seither als Gruppenleiter in einer Werkstatt für geistig Behinderte.

 

12/96 Beginn der Behandlung bei dem Hausarzt G. (Blatt 12 — 13 der HA).

 

11/98 Am 10.11.1998 stellt der Kläger erstmals einen Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft.

 

03/99 Mit Bescheid vom 02.03.1999 wird ein GdB 30 erkannt (Blatt 8 der BA). Als Hauptleiden wird ein „depressives Syndrom bei besonderer Persönlichkeitsstruktur" angegeben. Die zugrundeliegende gutachterliche Stellungnahme und die zugrunde liegenden medizinischen Befund- und Behandlungsdaten zum damaligen Verfahren liegen in der Beiakte nicht vor.

 

2008 Nach Angaben von P. (Blatt 168 der Akte) Tätigkeit als Gruppenleiter im Umgang mit Klienten mit Mehrfachbehinderungen. Zweimal im Jahr Kontaktaufnahme zu P. wegen Erschöpfungszuständen mit Unruhe, dysphorischer Missmutstimmung, vegetativen Symptomen einschließlich Schlafstörungen.

 

11/12 Möglicherweise wurde bereits vor dem aktuellen Antrag ein Antrag auf Höherstufung des GdB beim Ü. Kreis gestellt, aber mit dem Verwaltungsakt vom 07.11.2012 wohl abgelehnt (Blatt 9 der HA).

 

04/18 Beginn der Arbeitsunfähigkeit am 03.04.2018, zunächst unter der Diagnose einer Bronchitis und ab 14.05.2018 unter der Diagnose einer sonstigen depressiven Episode sowie R53 (Unwohlsein und Ermüdung).

 

12/18 Ab dem 07.12.2018 sind Beschwerden und Befunde des Oberarztes P. (Blatt 163 ff. der HA) angeführt. Es wird über eine leichte Erschöpfung, einen dysphorischen Zustand berichtet, unter Spannungszuständen, aber auch Auflockerung im Gespräch. Zum Alkoholkonsum heisst es qeleqentlich Alkoholkonsum. P. verordnet neben der Gabe von unterschiedlichen Antidepressiva auch das potenziell abhängigkeitserzeugende Medikament Rivotril 2 mg abends eine Tablette.

 

02/19 Jetzt wird niedergelegt, dass Zwänge kaum noch vorhanden seien, schon seit Jahren nicht mehr. Es wird aber über Probleme am Arbeitsplatz und in der Beziehung berichtet. Dann komme es zu Alkoholkonsum, Nulllösung sei anzustreben. Es wird ein Versuch gemacht mit Campral.

 

02-04/19 Im Vordergrund bei P. steht der Arbeitsplatzkonflikt, Verzicht auf Alkohol. „Dürfe nicht an die Arbeit denken, dann rege er sich auf. Konflikte am Arbeitsplatz weiterhin. 4'/2 Jahre müsse er noch durchhalten." Dann heißt es, er wolle eine Kur absolvieren.

 

04/19 Datiert vom 26.04.2019 ist der ärztliche Befundbericht zum Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation von P. auf Blatt 28 ff. der BA mit der Hauptdiagnose einer sonstigen Persönlichkeitsstörung, klassifiziert nach F60.9, diverse gastrointestinale Beschwerden, Übergewicht Grad 3, wiederkehrende depressive Episoden, aktuell mittelgradig. Es wird über eine teilweise ausgeprägte Erschöpfung berichtet, verbunden mit Antriebsminderung, teilweise auch Konzentrationsstörung und Schlafstörungen. Dann heißt es: „Die Funktionsbeeinträchtigungen haben sich in den letzten 2 Jahren verschlechtert." Eine Abhängigkeitserkrankung wird nicht angeführt und ausdrücklich angegeben, es würden „adäquate Dosen von Psychopharmaka verordnet. Der Patient sei ihm persönlich seit 1993 bekannt. Es würden konfliktzentrierte Gespräche stattfinden die Situation am Arbeitsplatz betreffend, die Arbeitsverdichtung. Der Patient selbst erlebe dort auch eine mangelnde Anerkennung. Der Allgemeinzustand sei reduziert.

 

06/19 Am 21.06.2019 notiert P., dass die Reha genehmigt sei. Der Patient hoffe darauf, dass er dort Ansätze bekomme, um seine Konflikte besonders am Arbeitsplatz besser ertragen zu können.

 

07/19 Vom 09.07. bis zum 19.08.2019 befindet sich der Kläger in der U. in D. mit Bericht auf Blatt 25 ff. der HA unter der Hauptdiagnose einer bei Entlassung gebesserten mittelgradigen depressiven Episode (wiederkehrend), einer bei Entlassung gebesserten kombinierten Persönlichkeitsstörung mit selbstunsicheren, narzisstischen, depressiven und ängstlichen Anteilen, einer Somatisierungsstörung und Dysphorie, ebenfalls bei Entlassung gebessert sowie einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung, einer Refluxösophagitis mit Barett-Ösophagus, einem Bluthochdruckleiden, einem Hüftgelenkleiden links und einer Übergewichtigkeit. Die bei Aufnahme erhöhten Leberwerte waren bei Alkoholabstinenz bis zur Entlassung rückläufig. Es bestand eine erhebliche Übergewichtigkeit mit 136,5 kg bei 1.77 Körpergröße. Darüberhinaus wurden keine Medikamente wie Rivotril oder Diazepam in der Medikamentenliste angeführt.Es werden keine kognitiven/hirnorganischen Auffälligkeiten dokumentiert. Der neurologische Untersuchungsbefund ist unauffällig und weist keine alkoholtoxische Nervenschädigung auf. Der Kläger wird aus dieser Behandlung als sofort arbeitsfähig entlassen für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit des Gruppenleiters in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Es heißt dazu in der sozialmedizinischen Epikrise: Man halte Herrn H. „noch für vollschichtig leistungsfähig". Aufgrund der sehr schwierigen Arbeitsbedingungen sei er jedoch in der Vergangenheit bereits mehrfach an seine Belastungsgrenzen gestoßen und habe bei dadurch bedingter erhöhter Reizbarkeit subjektiv aggressive Durchbrüche befürchten müssen. Zwar sei es unwahrscheinlich, dass der Patient die Impulskontrolle verliere, dennoch sehe man die vollschichtige Leistungsfähigkeit in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als gefährdet an. Qualitative Einschränkungen werden hinsichtlich der Arbeitsschwere und der Arbeitshaltung gemacht. Sodann wird mitgeteilt, dass bei Dysphonie keine erhöhten Anforderungen an Sprechen oder Stimme abverlangt werden könnten. Aus der Anamnese geht hervor, dass der Kläger angegeben habe, seit etwa 3 Jahren an einer Dysphonie zu leiden.

 

Aufgrund seiner Beschwerden sei es ihm nicht mehr möglich, den Haushalt selbständig zu führen. Seine Ausdauer sei schlechter geworden. Es bestehe eine schwierige berufliche Situation. Hilfe und Unterstützung finde er z. B. in der Familie. Er musiziere gerne, spiele verschiedene Instrumente. Seit vielen Jahren würden depressive Episoden bestehen mit deutlichem Bezug zu lebensgeschichtlichen Ereignissen. Die Erkrankung bestehe seit mindestens 15 Jahren. Es wird über einen regelmäßigen Alkoholkonsum von 2 — 3 Flaschen Bier abends berichtet. Seit 1999 sei er in fester Beziehung, seit 2000 in erster Ehe verheiratet. Es bestehe ein GdB von 30 aufgrund von Gehbeschwerden seit einem Motorradunfall und aufgrund von Depressionen. Im psychischen Befund heißt es. Herr H. habe in angemessener Weise von den Belastungen berichtet. Affektiv habe er ausgeglichen gewirkt, etwas distanziert und unterschwellig belastet. Die emotionale Schwingungsfähigkeit sei etwas beeinträchtigt gewesen, Anhedonie, Lustlosigkeit, Grübelneigung deutlich geworden, der Antrieb sei etwas reduziert gewesen. Introspektionsfähigkeit und Psychogeneseverständnis seien gut gewesen. Der Patient sei sehr motiviert. Im therapeutischen Fokus standen die Dynamik innerhalb der Herkunftsfamilie und beruflich belastende Aspekte. Es wird ein positiver Therapieverlauf beschrieben. Dann heißt es, dass die Vormedikation mit antidepressiv wirksamen Medikamenten fortgesetzt worden sei.

„Eine Laborkontrolle zeigte bei Alkoholabstinenz rückläufige Leberwerte."

Es wird ein gutes Ergebnis bei Entlassung beschrieben, die als sofort arbeitsfähig erfolgte.

 

08/19 P. notiert: Sein Patient habe einen erholten Eindruck gemacht, habe 12 kg innerhalb von 6 Wochen abgenommen. Er sei quasi geheilt entlassen worden. Bezogen auf die Arbeit in der Werkstatt habe sich nichts geändert.

 

11/19 Logopädischer Bericht (Blatt 23 — 24 der BA) mit der Diagnose einer Dysphonie und hypotoner Stimmführung mit hyperfunktioneller Kompensation und Atem-/ Sprechkoordinationsstörungen. Herrn T. sei es inzwischen gelungen, seinen Räusperzwang zu reduzieren. In dem beruflichen Umfeld sei aber eine stimmliche Belastung nicht zu reduzieren. Um die Stimme dauerhaft belastbarer zu machen, wird empfohlen, die Therapie fortzusetzen.

 

11/19 Am 15.11.2019 heißt es: Er sei wieder dabei auszubrennen und resignativ. Der Bericht über die Reha sei besprochen worden. Weiterhin werden Sertralin und Elontril als Antidepressiva verordnet, auch Rivotril.

 

02/20 Am 03.02.2020 notiert P., es würden viele Konflikte am Arbeitsplatz bestehen. Sein Patient habe nun Arbeitszeitreduktion beantragt, eine 4-Tage-Woche, was die oberen Chefs jedoch nicht wollen würden. Er sei jetzt 00.00.0000 Jahre alt und denke oft an Vorruhestand. Kaum an der Arbeit zurück, seien wieder die alten Zustände da, der Effekt der Kur sei weg. „Alte Verhaltensmuster. So wie er es schildert, wirkt er gereizt, zumindest fühle er sich herabgesetzt. Er kontert dagegen, das ganze schaukelt sich auf." Am 21.02.2020 heißt es: Er wolle jetzt versuchen, ganz vom Alkohol wegzukommen. Nach wie vor werde gelegentlich Alkohol konsumiert. Er wolle jetzt auch zum Blauen Kreuz gehen: „Krankschreibung. Beim Rentenberater: Arbeitgeber lehnt seinen Vorruhestand ab."

 

03/20 Am 25.03.2020 stellt der Kläger erneut einen Änderungsantrag und begründet diesen mit wiederkehrenden depressiven Störungen, einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, einer funktionellen Dysphonie, einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung, einer Speiseröhrenentzündung, eines Bluthochdruckleidens, eines Hüftgelenksleidens links und rechts, einer Übergewichtigkeit und einer chronischen Gastritis.

 

05/20 P. notiert: Es gehe ihm nicht gut. Er habe Sorgen. Es wird eine Stellungnahme für das Versorgungsamt gefertigt. Zurzeit „relativ entspannter Eindruck".

 

05/20 In seinem Bericht zur Vorlage beim Ü. Kreis teilt P. mit (soweit lesbar, Anmerkung der Unterzeichnerin): Unruhe, dysphorischer Missmut, vegetative Symptome, Schlafstörungen. Zurzeit sei der Patient wieder einmal krankgeschrieben. Er sei seit ca. 2 Jahren an der Grenze der Belastbarkeit. Es bleibe abzuwarten, ob er beruflich wieder eingegliedert werden könne.

 

05/20 Am 08.05.2020 notiert P.: Sein Patient sei zurzeit Coronakrank, aber wegen Depressionen krankgeschrieben. Zur häuslichen Situation heißt es: Das Ehepaar komme derzeit gut miteinander klar.

 

05/20 In der gutachtlichen Stellungnahme vom 28.05.2020 (Blatt 31 — 32 der Akte) wird für ein depressives Syndrom bei besonderer Persönlichkeitsstruktur ein Einzel-GdB 30 gesehen.

 

06/20 In Anbetracht von vier Zehnerwerten erhöht sich der Gesamt-GdB nicht und mit Bescheid vom 03.06.2020 wird eine Höherbewertung abgelehnt.

 

06/20 Hiergegen richtet sich der Widerspruch.

 

07/20 P. legt am 21.07.202 nieder. Es bleibe bei 30 %. Der Patient sei enttäuscht und wolle jetzt klagen. Auf der Arbeit herrsche das absolute Chaos. Seit 5 Wochen sei er wieder dabei. Er hätte nichts dagegen, wenn man ihm kündige mit einer Abfindung. Er sei sich sicher, dass man nicht ohne weiteres rausschmeißen könne, er sei ja Schwerbehindertenbeauftragter. P. notiert: Erschöpft, verbittert, ausgebrannt. Der Wunsch nach unbezahltem Urlaub sei abgelehnt worden ebenso wie die 4-Tage-Woche.

 

07/20 Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung A. (Blatt 38 ff. der BA).

 

07/20 Datiert mit Eingangsstempel vom 28.07.2020 ist die Klage gegen den Ü. Kreis.

 

08/20 P. legt nieder. Der Arbeitgeber gehe auf nichts ein. Der Patient sei nervös, ärgerlich, angespannt. Eine Teilerwerbsminderungsrente sei ins Gespräch gebracht worden. Bis zum 31.08. werde der Patient krankgeschrieben.

 

09/20 P. notiert am 08.09.2020: Sein Patient sei deutlich angespannt und schon in Kampfesstimmung. Es wird über einen Konflikt mit dem Chef am Arbeitsplatz berichtet, dieser habe ihm einen Screenshot über Urlaub, Fortbildung und Krankheitszeiten präsentiert und kommentiert, es werde schwierig: „ Sie sind ja kaum noch anwesend." Es sei ein ernsthaftes Gespräch angekündigt worden, aber noch kein BEM-Verfahren eingeleitet worden. Seit 14 Tagen sei er wieder am Arbeiten.

 

09/20 Am 12.09.2020 teilt Herr T. dem SG Köln mit, dass die psychische Gesundheitsstörunq sich erheblich verschlechtert habe. Er nehme bei Bedarf täqlich neben antidepressiv wirksamen Medikamenten auch Valium. Es würden deutlich soziale Anpassungsschwierigkeiten vorliegen während der wiederkehrenden Depressionen und der Persönlichkeitsstörung. Die Einschätzung des Ü. Kreises könne er nicht verstehen.

 

10/20 P. notiert, das Eingliederungsgespräch habe begonnen. Der Patient sei davon überzeugt, dass seine Krankheit mit der Arbeitssituation zusammenhänge. Im Betrieb stände er unter ständiger Beobachtung. Man sei jetzt am Sammeln. Zu den Medikamenten wird angeführt, dass er Elontril und Sertralin als Antidepressiva einnehme und gelegentlich Diazepam. Er wolle spätestens in zwei Jahren in Rente gehen. Wenn er im Mai 2021 in Rente gehe, müsse er einen Abschlag hinnehmen. Bedingt durch den Stress zu Hause sei er oft dysphorisch, müde, erschöpft, wenig Antrieb, oft auch ärgerlich. Um Spannungen überhaupt auszuhalten, benutze er wieder Alkohol (allerdings kein Kontrollverlust).

 

11/20 Der Hausarzt berichtet auf Blatt 12 — 13 der HA über ein Reizdarmsyndrom, mittelgradige Depression, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Bluthochdruck, Koxarthrose links, schlafbezogenes Atempausensyndrom ohne Therapieindikation seit

2018, Refluxösophagitis mit Barrett-Schleimhaut, Refluxlaryngitis mit Heiserkeit, Alkoholkrankheit und fügt die AU-Bescheinigungen seines Patienten bei sowie den Rehabilitationsentlassungsbericht. Auf keiner AU Bescheinigung findet sich als AU Diagnose eine Alkoholabhängigkeit.

 

11/20 P. notiert, dass sein Patient eine Woche krankgeschrieben worden sei. Der Patient denke an Vorruhestand.

 

12/20 P. notiert. Sein Patient sei deutlich angespannt und niedergeschlagen. Er sei weiter degradiert worden. Er befinde sich jetzt auf der untersten Hierarchiestufe und sei im Vertreterpool. Er solle jetzt im Pflegebereich arbeiten. Sein Wunsch sei aber, er wolle einen Dienstort. Fahrtkosten solle man ihm erstatten, die Fahrtzeit als Arbeitszeit werten: „Der Fehdehandschuh ist wieder einmal geworfen worden." Therapeutischerseits sei ihm empfohlen worden, diesen nicht aufzunehmen und klug zu sein und daran zu denken, dass er eventuell im Juli 2021 in den Vorruhestand gehen wolle.

 

01/21 P. notiert: Sein Patient sei im Laufe des Gesprächs angespannt gewesen, erschöpft, müde, aber nicht mehr so erregt. Er sei gerade von der Arbeit gekommen. Dann heißt es, dass sein Patient noch regelmäßig Elontril und Sertralin sowie Campral gegen Sucht einnehme, außerdem Diazepam.

 

01/21 Parallel wird mit Beweisanordnung vom 18.01.2021 Frau L. als Sachverständige ernannt und Y. als chirurgischer Zusatzgutachter.

 

03/21 P. notiert: Sein Patient sei zurzeit krankgeschrieben, wolle am Donnerstag einen Arbeitsversuch starten. In der letzten Zeit habe er brav gearbeitet, dann sei der Anruf der Chefin gekommen, er solle die Heimarbeiter betreuen, das habe eine weitere Degradierung bedeutet. Er denke an Rente, wolle zukünftig an seine Gesundheit denken, habe sich im Keller eine Hantelbank eingerichtet. Er sei noch sehr gekränkt, dass man seine Leiden beim Versorgungsamt nicht ausreichend gewürdigt hätte. Wenn er 50 % bekommen würde, bedeute dies, dass er nur 5,4 % Abzug von seiner Rente bekäme. Anstehend sei eine Begutachtung und der Patient sei dabei, das Diazepam zu reduzieren.

 

04/21 P. notiert: Heute sei der letzte Arbeitstag. Er sei leicht angespannt gewesen, enttäuscht von der Firma habe er kein Wort des Dankes erhalten. Er sei auch enttäuscht über einen Pflegesohn, der plötzlich wieder aufgetaucht sei. Er mache insgesamt keinen zufriedenen Eindruck.

 

05/21 Chirurgisches Fachgutachten Y. (Blatt 88 ff. der HA) mit den Diagnosen Verschließerscheinungen der Schultergelenke, der Halswirbel und Brustwirbel sowie Lendenwirbelsäule, der Hüftgelenke, der Kniegelenke, der Füße. Hier gibt der Kläger an, er sei seit 1 112 Jahren trockener Alkoholiker.

 

07/21 Nervenärztliches Hauptgutachten Frau L. (Blatt 109 ff. der HA). Es wird niedergelegt, dass der Proband angegeben habe, schon lange eine Alkoholkrankheit zu haben und er nehme seit 20 Jahren Benzodiazepine. Sein Psychiater, der 00.00.0000 Jahre alt sei und nur noch jede zweite Woche arbeite, finde, dies sei eine angemessene Behandlung und er selbst finde das auch. Herr P. sage, das sei besser als Neuroleptika zu versuchen, die nicht abhängig machen würden. Früher habe er 2 mg Clonazepam eingenommen, dann 15 mg Diazepam, nun nehme er nur noch 10 mg Diazepam. Er habe mit Lorazepam begonnen, das habe er gegen Zwangsgedanken bekommen, dagegen habe es direkt gewirkt. Er habe 150 Sitzungen einer ambulanten psychologischen Verhaltenstherapie gehabt zwischen 1996 bis 1997. Der Therapeut praktiziere nicht mehr. Stationäre oder teilstationäre psychiatrische Behandlungen seien bisher nicht erfolgt. Es seien zwei psychosomatische stationäre oder teilstationäre Rehabilitationen erfolgt, eine stationäre Psychotherapie habe er noch nicht gemacht. Zur Behandlung in Zwesten wird angeführt, dass es ihm dort gutgetan habe, nicht Alkohol zu trinken und auch nicht in den Ort habe gehen dürfen wie die anderen. Zweimal habe ein Alkoholtest stattgefunden. Auf Blatt 10 wird eine umfassende Anamnese erhoben und ausdrücklich vermerkt: „Er wird gebeten, bei der Beschreibung nicht bezüglich meines Fachgebiets zu selektieren." (Blatt 118 der HA) Zum Untersuchungszeitpunkt war der Kläger angabegemäß seit 8 Wochen abstinent, „sonst habe er seit 40 Jahren vermehrt Alkohol getrunken." Auf Vorhalt der Gutachterin, dies sei von psychiatrischer Seite nicht dokumentiert, habe er angegeben, sein Psychiater wolle da nicht ran. Dann heißt es zum Alkoholkonsum auf Vorhalt der Gutachterin, er habe 1 — 2 Flaschen Wein getrunken und in der Reha-Behandlung untertrieben, nachdem die Gutachterin ihm vorgehalten hatte, dass er dort angegeben hatte. 2 — 3 Flaschen Bier pro Abend zu trinken. Zur Medikation wird niedergelegt, dass er zwei Antidepressiva erhalte und zudem 10 mg Diazepam täglich, vorangehend habe er Clonazepam eingenommen.

Letzteres verschreibe P. nicht mehr und habe gesagt, das sei für seine Probleme nicht zugelassen, während er regelmäßig Diazepam erhalte. Seit 2020 nehme er auch dreimal zwei Tabletten Campral gegen seinen Suchtdruck, des Weiteren werden die übrigen Medikamente angeführt aufgrund der internistischen Erkrankungen. Der Besuch einer Selbsthilfegruppe wird einmal pro Woche niedergelegt. Nach Erhebung der biographischen neurosenspezifischen Anamnese und Arbeitsanamnese folgen Niederlegungen zum Grund der Klage. Zur familiären Situation heißt es. er habe Spannungen mit seiner Frau aufgrund von Problemen mit einem Pflegekind, sie seien schon angemeldet zur Paartherapie. Es wird ein strukturierter Tagesablauf niedergelegt, eine umfassende Anamnese bezogen auf den Arbeitsplatz. Der neurologische Untersuchungsbefund weist keine Auffälligkeiten auf, insbesondere nicht im Hinblick auf psychovegetative Symptome im Sinne einer Entzugssymptomatik oder neurologische Auffälligkeiten mit Nachweis einer alkoholbedingten Schädigung. Es wird ein erhöhter Blutdruck mit 150:100 gemessen. Von den durchgeführten Testverfahren wird das Freiburger Persönlichkeitsinventar mit einer ausreichenden Offenheit ausgefüllt, der Rey-Test ergibt keine Hinweise auf Simulation oder Aggravation. Diagnostiziert wird eine wiederkehrende depressive Störung, ein Alkoholmissbrauch mit derzeitiger Abstinenz und ein Benzodiazepin-Missbrauch, wobei unter Punkt 1 der Beantwortung der Beweisfragen auf Blatt 145 der Akte angegeben wird, dass Alkohol- und Benzodiazepin-Missbrauch durch die Akte nicht ausreichend dokumentiert seien. Es wird unter Einbeziehung der Ergebnisse des fachchirurgischen Gutachtens ein Gesamt-GdB 30 auch weiterhin empfohlen. Als Leidensbezeichnung vorgeschlagen wird seelisches Leiden im Sinne einer wiederkehrenden depressiven Störung, Alkoholabhängigkeit. Die Störung wird eingeordnet unter Punkt 3.7 der Anlage zu § 2 der VersMedV. Zur Alkoholproblematik wird vorangehend angeführt, diese sei medizinisch nicht ausreichend dokumentiert,

könne damit nicht als nachgewiesen gelten, werde aber vom Probanden glaubhaft dargestellt. Passend zu einem Alkoholproblem würden sich im vorliegenden Labor eine Leberwerterhöhung finden, aber noch keine Zeichen einer Blutbildveränderung, wie sie häufig bei hohem Konsum gesehen werden könnten. Bei der Untersuchung hätten sich auch keine Hinweise für körperliche Stigmatisierung oder eine wesentliche alkoholbedingte Polyneuropathie gezeigt. Auch die tägliche Einnahme von Benzodiazepinen sei nicht aktenkundig; der behandelnde Psychiater erwähne eine Bedarfsmedikation und in seinem Schreiben an die Rentenversicherung auch eine Bedarfsmedikation mit Rivotril. Zur Evaluierung der Problematik solle die Verlaufsdokumentation des Psychiaters beigezogen werden und die ärztlichen Bescheinigungen zum laut Probanden erfolgten Antrag auf eine ambulante Entwöhnung. Die vom Probanden vorgelegten Sammelquittungen bezogen auf Zuzahlungen für Medikamente würden immerhin dokumentieren, dass er zwischen Februar 2011 bis Dezember 2014 750 Tabletten Rivotril 2 mg verschrieben bekommen habe, was einer Einnahme von 16 Tabletten Rivotril pro Monat entsprechen würde. Der Proband habe von einer Umstellung der Medikation von Rivotril auf Diazepam berichtet, was sinnvoll erscheine, weil durch die längere Halbwertzeit ein geringeres Abhängigkeitspotential bestehe und mit Hilfe von Diazepamsubstitution eine schrittweise Entgiftung erfolgen könne. Es sei bereits eine Reduktion von 15 auf 10 mg möglich gewesen. Von einer weiter geplanten Reduzierung spreche er allerdings nicht. Sein behandelnder Psychiater halte die bestehende Medikation für angemessen. Mangels Verlaufsdokumentation könne den vorliegenden Unterlagen nicht entnommen werde, dass anderweitig keine Stabilität zu erzielen sei. Andererseits sei ein plötzliches Absetzen der Medikation bei möglicher körperlicher Abhängigkeit durch Dauereinnahme nicht anzuraten.

 

07/21 Fachärztliche Stellungnahme P.. Hieraus geht ergänzend zu den bereits referierten Angaben hervor, es sei ihm am 01.06.2021 gutgegangen. Er sei zurzeit vom Dienst befreit, seit dem 01.07. in Rente. Er setze große Hoffnung in die Begutachtungen, die vom Gericht angeordnet worden seien.

 

07/21 Bescheinigung der Caritas Suchthilfe, danach befindet sich Herr T. seit Januar 2021 in der Beratung. Es sei ein Antrag für eine ambulante Entwöhnungstherapie gestellt worden. Beigelegt ist eine Mitteilung der Deutschen Rentenversicherung Bund datiert vom 07.07.2021. Des Weiteren beigefügt sind Unterlagen aus der H.-Apotheke mit Dokumentation der Verschreibungen von Rivotril und weiteren Medikamenten.

 

08/21 Herr T. teilt mit, er sei nicht seit 1 % Jahren ein trockener Alkoholiker, sondern er habe mit Hilfe seines Hausarztes Herrn M. ab Juni 2021 ambulant entqiftet und einen Antrag auf eine entsprechende Entwöhnungstherapie bei der Deutschen Rentenversicherung Bund gestellt. Seit 2014 habe er in jedem Jahr bis 2020 400 Stück Rivotril 2 mg erhalten. Seit 2020 bekomme er 10 mg Diazepam verordnet. Diese habe er immer morgens eingenommen und nach der Arbeit regelmäßig Wein getrunken, die letzten zwei Jahre zwischen 1 Y2 bis 2 Liter jeden Tag.

 

08/21 Kostenzusage für eine ambulante Suchttherapie (Blatt 582 der HA). Dann wird am 04.09.2021 mitgeteilt, es sei eine stationäre Suchttherapie erforderlich. Vorgelegt wird der Bescheid der DRV Bund (Blatt 186 der HA) über eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation.

 

11/21 Gerichtsbescheid, danach enthält der Sachverhalt keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art und sei geklärt.

 

Führendes Leiden sei eine seelische Störung im Sinne einer wiederkehrenden depressiven Störung und einer Alkoholabhängigkeit. Die Kammer stütze sich auf die ausführlichen und in sich schlüssigen Darlegungen der Sachverständigengutachten. Die Schilderung des Tagesablaufes des Klägers lasse eine höhergradige Störung nicht erkennen. Der Kläger sei — wenn auch mit Einschränkungen und vermehrten Krankheitszeiten — bis zu seiner Verrentung im Juli 2021 weiter in der Lage gewesen, einer von der sozialen und nervlichen Belastung her anspruchsvollen beruflichen Tätigkeit in Vollzeit nachzugehen. Er führe eine funktionierende Beziehung, halte soziale Kontakte, gehe in seiner Freizeit verschiedenen Hobbys wie Paddeln, Gitarrespielen und Lesen nach, unternehme mit seiner Ehefrau Reisen ... Ein Einzel-GdB von 40 lasse sich in Ansehung dieser etwas eingeschränkten, aber durchaus noch gut vorhandenen Kompetenz nicht begründen. Nicht relevant für die Bewertung des seelischen Leidens im Rahmen des Schwerbehindertenrechts sei demgegenüber die Menge es täglich konsumierten Alkohols oder die gegenwärtig noch beabsichtigten therapeutischen Maßnahmen.

 

12/21 Berufung.

 

01/22 Am 04.01.2022 wird der Kläger in der SC. B. aufgenommen und am 21.04.2022 entlassen. Es handelt sich um eine Entwöhnungsbehandlung (Blatt 238 ff. der HA). Es wird ein Abhängigkeitssyndrom von Alkohol, bei Entlassung gebessert beschrieben und eine wiederkehrende depressive Störung gegenwärtig remittiert, ein Abhängigkeitssyndrom von Sedativa und Hypnotika und Benzodiazepinen und eine ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung sowie ein Reizdarmsyndrom ohne Diarrhöe. Eine Leistungsbeurteilung erfolgt nicht. Es heißt, Herr H. beziehe eine vorzeitige Altersrente. Er sei in der Lage, sich selbst zu pflegen und zu versorgen, er könne seine persönlichen Angelegenheiten selbst regeln.

Zur Abhängigkeitsanamnese und Vorgeschichte lässt sich dem Bericht entnehmen: Er leide seit 1981 unter einer Zwangserkrankung, die 1998 diagnostiziert worden sei. Seitdem leide er auch unter einer depressiven Störung und habe eine Persönlichkeitsstörung. Er befinde sich seit 1998 in ambulanter psychiatrischer Behandlung bei P. in RW.. Er habe langjährig Alkohol konsumiert und ab April 2021 selbst zu Hause entzogen, jedoch im September 2021 einen Rückfall erlitten. Außerdem sei er Diazepam-abhängig. Er habe 15 Jahre lang 10 mg konsumiert, das dann eigenständig runterdosiert auf 1,25 mg bis Dezember 2021. Aktuell leide er unter Unruhe, Angstgefühlen ohne äußere Ursache und Problemen im Gedächtnis. Es wird eine ausführliche Suchtanamnese erhoben (Blatt 243 — 244) und auf der Grundlage der Angaben des Patienten niedergelegt: „Auch nach einer Rehabilitationsbehandlung wegen der Depression steigerte sich die Trinkmenge ab 2020 erneut bis auf 2 Flaschen Wein pro Tag in der Woche und 3 Flaschen täglich am Wochenende, maximaler Konsum 3 Flaschen Wein pro Tag, in den letzten 2 Jahren regelmäßiger Konsum. Dabei konsumierte Herr H. morgens Diazepam und abends Alkohol. Letzter Konsum über 3 Tage im September 2021 im Urlaub. Bisher keine stationären Entzüge. Entzugssymptome Zittern, Schwitzen, Angst, Herzrasen." Es wird angegeben, dass in den letzten 10 Monaten die ICD 10 Kriterien für Abhängigkeit erfüllt gewesen seien, Kontrollminderung, Entzugssymptomatik, Toleranzentwicklung, Einengung auf den Substanzgebrauch, anhaltender Konsum trotz schädlicher Folgen, Craving Abstinenzunfähigkeit. Bezogen auf die medikamentöse Suchtanamnese wird niedergelegt: Er habe damit im 23. Lebensjahr begonnen mit der Einnahme von Tavor, dann Umstellung auf Neuroleptika, dann Umstellung auf Clonazepam und Fluoxetin bis 2021 ohne Dosissteigerung. Aufgrund von Verlust der Zulassung von Clonazepam Umstieg auf Diazepam ab 2021 mit 10 mg ohne Dosissteigerung.

 

Weiter heißt es: Herr H. habe auch während der Reha-Behandlung 2019 heimlich Diazepam konsumiert. Auch hier werden die ICD 10 Kriterien für Abhängigkeit als erfüllt angesehen. Zum Verlauf und zu den laborchemischen Parametern heißt es: Der neurologische Befund sei unauffällig gewesen, der Blutdruck normal (unterer Wert grenzwertig erhöht). Es wird ein leicht deprimierter, leicht ängstlicher, leicht innerlich unruhig wirkender Proband beschrieben. Im Hintergrund der Abhängigkeitserkrankung werden Konfliktvermeidung, Selbstüberforderung durch hohes Erfolgsstreben angeführt. Aufgrund von Konflikten auf der Arbeit und Schwierigkeiten mit den Pflegekindern sei es bei Herrn H. zu einer chronischen Überforderung gekommen bei fehlender Selbstfürsorge mit einem Konsummuster aus Alkohol am Abend und Diazepam am Morgen. Dieses Muster habe der Patient über viele Jahre beibehalten und damit seine dysfunktionalen Schemata im Hinblick auf Leistung du Anerkennung aufrechterhalten. Im Labor wird eine Erhöhung der GPT mit 63 ull nachgewiesen bei unauffälliger Gamma-GT und GOT und Fettleber. Zur neu ropsychologischen Diagnostik wird mitgeteilt, dass keine Einschränkung der basalen Aufmerksamkeit, kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeit undloder visuell räumliche Suchfähigkeiten bestehen würden. Hier werden keine Auffälligkeiten gesehen. Im BecKschen Depressionsinventar (Anmerkung der Unterzeichnerin: Selbstbeurteilungsinstrumeno habe zu Behandlungsbeginn ein Hinweis auf eine leicht depressive Symptomatik bestanden, zu Behandlungsende kein Hinweis auf depressive Symptomatik. Eine Entzugssymptomatik wird nicht beschrieben. Es wird angegeben, dass eine Reduktion der Psychopharmaka beim Patienten verfrüht erscheine und erst in Betracht gezogen werden solle bei weiterhin gutem Behandlungsverlauf. Es wurde allerdings kein Diazepam mehr verordnet, wie der Entlassungsbericht auf Blatt 2.14 ausweist (Blatt 254 der Akte). Es wird ein psychisch ausreichend stabiler und körperlich erholter Zustand beschrieben.

 

Herr H. wolle sich überlegen, ein Rentnerstudium in Philosophie zu belegen oder als Trauerredner auf selbständiger Basis tätig zu sein, was nur erst einmal ein paar Gedanken seien. Als abstinenzgefährdend wurden Tendenzen zum sozialen Rückzug und Vermeidungstendenzen hinsichtlich der Wahrnehmung und Durchsetzung eigener Interessen gesehen. Aufgrund des komplexen Störungsbildes bestehe eine erhöhte Stressanfälligkeit. Die maladaptiven entwickelten Verhaltensmuster als Überlebensstrategie würden ein langsames und langwieriges Vorgehen erfordern. Weitere therapeutische Maßnahmen bleiben abzuwarten.

 

06/22 Unter dem Aspekt der vom Senat eingeleiteten Ermittlungen zur Qualitätssicherung von Begutachtungen erfolgt eine ausführliche Replik des DGB auf Blatt 220 ff. Der DGB teilt unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme meinerseits zur PTBS mit, dass bloße eigenanamnestische Angaben nicht ausreichen würden, um ein traumatisches Lebensereignis festzustellen und daraus die Diagnose PTBS zu folgern. Der DGB teilt mit, Entsprechendes müsse auch für eine Suchterkrankung gelten, auch diese setze einen gesicherten Konsum der schädlichen Substanz über bestimmte Zeiträume voraus. Dann wird im Hinblick auf die Diagnosekriterien für eine Suchterkrankung angeführt, dass hier auch fremdanamnestische Angaben zu berücksichtigen seien und es hätte nahegelegen, insbesondere die Ehefrau oder den Arbeitgeber zu Ausmaß und Folgen des Alkoholkonsums zu befragen. Diese Tatsachen hätten dann der Sachverständigen mit der Beauftragung verbindlich vorgegeben werden müssen. Vorliegend habe die Sachverständige bei dem Kläger eine Alkoholabhängigkeit in Zweifel gezogen und bezieht sich dann auf Ausführungen im Gutachten, die ich bereits weiter oben referiert habe.

 

Sodann teilt der DGB Rechtsschutz mit, es wäre auch möglich gewesen, entsprechende Laboruntersuchungen durchzuführen, es hätte somit auch eine zuverlässige naturwissenschaftliche Methode zur Klärung der Frage zur Verfügung gestanden, ob und in welchem Ausmaß beim Kläger eine Suchterkrankung objektiviert werden könne. Sodann wird der Dauerkonsum von Benzodiazepinen thematisiert und problematisiert, dass die Behandlungsdokumentation des P. nicht beigezogen worden sei. Das gelte auch für die Zweifel von Frau L. an der Diagnose der Persönlichkeitsstörung. Dann wird unter Bezugnahme auf Ausführungen von SW. und Frau Z. darauf hingewiesen, dass die Sachverständige zwar eine testpsychologische Untersuchung durchgeführt habe, aber das ungeeignete Freiburger Persönlichkeitsinventar verwendet habe. Dieses enthalte keine testimmanenten Validierungskennwerte.

 

09/22 Ergänzende Stellungnahme L. (Blatt 283 ff.). Frau L. räumt zunächst einen Diktatfehler ein, wonach es bei der Frage I. Punkt 5 hätte heißen müssen: „Verdacht auf Alkoholabhängigkeit". Eine laborchemische Untersuchung der CDT hätte einen höheren Alkoholkonsum für die letzten Wochen nachweisen können, ein solcher könne aber auch ohne das Vorliegen einer Sucht bzw. Abhängigkeit bestehen. Die alleinige Menge des Alkoholkonsums und die Dauer würden nicht allein das Abhängigkeitssyndrom definieren. Im Übrigen sei das Ausmaß der Teilhabestörung relevant, dies sei im Gutachten ausführlich beschrieben worden. Zur fraglichen Validität der durchgeführten Testverfahren sei anzumerken, dass die Prüfung der Validität dem Gutachter durch keine Testuntersuchung abgenommen werden könnte.

 

09/22 Der Oberbergische Kreis teilt mit, dass eine Höherbewertung des Einzel-GdB in Betracht kommen würde, wenn eine dauerhafte Behandlung mit ggf. dauerhaften Medikamenten stattfinden würde und diese Funktionsstörung gravierende Auswirkungen auf Berufs-sowie auch auf das Privatleben hätte. Anhaltspunkte für solche Auswirkungen würden laut den vorliegenden medizinischen Befunden nicht vorliegen. Zudem führe Herr H. laut der Begründung des Gerichtsbescheides ein normal funktionierendes Sozialleben.

 

10/22 Der DGB teilt mit. Frau L. habe eingeräumt, kein Wortprotokoll geführt zu haben, keine Tonaufzeichnung und sich nur handschriftliche Notizen gemacht zu haben. Zudem habe Frau L. eingeräumt, dass zur Suchterkrankung noch nicht alle Feststellungen getroffen worden seien.

 

10/22 Mit gutachtlicher Stellungnahme vom 29.10.2022 verbleibt es bei der behandelten Abhängigkeitserkrankung und seelischen Störung mit Einzel-GdB 30 und unter Berücksichtigung von lediglichen Einzel-GdB von 10 bei einem Gesamt-GdB von 30. Sodann soll Frau L. geladen werden.

 

01/23 Neuerliche Stellungnahme. Frau L. gibt zunächst an, dass sie im Beisein des Probanden diktiert habe und damit das Gesagte auch seiner Kontrolle unterlegen gewesen sei. Hinsichtlich der vom Rechtsvertreter geäußerten Kritik bezogen auf das Literaturstudium sei kein besonderes Literaturstudium nötig gewesen, da sie über die entsprechende Expertise verfüge. Eine Liste der Literatur, die sie gelegentlich im Zweifel zu Rate ziehe, hänge sie gerne an. Medizinische Aspekte seien nicht zur Sprache gekommen, es seien auch keine weiteren medizinischen Unterlagen vorgelegt worden.

 

02/23 Der DGB teilt mit, dass die Sachverständige nun mitgeteilt habe, keine Tonaufzeichnung und kein Wortprotokoll gefertigt zu haben. Sie habe auch ausgeführt, dass sie den Duktus des Gesagten „sicherlich" verändert habe, dass das Verfahren für den Probanden aber transparent sei. Dies sei jedoch nicht entscheidend, da das Gutachten für den Leser nachvollziehbar sein müsse und die Befunderhebung für die ggf. weitere Beweisaufnahme gesichert werden müsse. Vor dem Hintergrund der weiteren Ausführungen werde dabei verblieben, dass Frau L. keine Begutachtung entsprechend der Anforderungen an die Qualitätssicherung durchgeführt habe.

 

02/23 Gutachtliche Stellungnahme vom 14.02.2023. Auf das Gutachten und die Ausführungen von Frau L. wird Bezug genommen und keine Möglichkeit der Abhilfe gesehen.

 

03/23 Auf Nachfrage des Landessozialgerichts wird mitgeteilt, dass Herr H. im Besitz der Fahrerlaubnis sei. Blutwerte bezogen auf den Führerschein seien nicht erhoben worden. Beigefügt ist der vorläufige Kurzarztbrief aus der Entlassung der SC. mit der Empfehlung der Reha-Nachsorge und der Selbsthilfe, weiterer psychiatrischer Behandlungen und Leberwertekontrollen. 03123 Ärztliche Stellungnahme Frau IO. für die Beklagte. Hier wird mitgeteilt, dass der bemessene GdB für das seelische Leiden von Frau L. plausibel und nachvollziehbar begründet gewesen sei. Eine „soeben erreichte wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit" sei dargestellt worden.

 

Zusammenfassung und Beurteilung, Beantwortung der Beweisfragen:

 

Verfahrensgegenständlich ist der Änderungsantrag des Klägers vom 25.03.2020, mit dem er die Höherbewertung eines bis dato 30 festgestellten Grades der Behinderung beantragte.

 

Es ist (auch im Gutachten von Frau L.) in der Akte umfassend dokumentiert worden, dass der Kläger seit Anfang der 1980er Jahre unter psychischen Störungen z. B. Zwangsgedanken, Zwangsbefürchtungen litt, begleitet von depressiven Zuständen und bereits 1983 psychiatrisch und psychotherapeutisch betreut und behandelt wurde, seit 1993 von seinem auch aktuell noch behandelnden Psychiater P.. Während der Kläger — so geht es aus dem aktenkundigen Verlauf hervor — noch bis 2007/2008 in der Position eines Abteilungsleiters in einem Wohnverband zunächst der Lebenshilfe und dann der Diakonie tätig war, wurde er in eine andere Position versetzt und war dann als Gruppenleiter in einer Werkstatt für geistig behinderte Menschen tätig. Seit Juli 2021 bezieht Herr T. eine Altersrente.

 

Ausweislich der Dokumentation des behandelnden Psychiaters und der nunmehr auch vervollständigten Akten inklusive des Berichts aus B. begann der Kläger ab Mitte der 1980er Jahre mit der Einnahme des potenziell abhängigkeitserzeugenden und angstlösenden Medikaments Lorazepam (Tavor). Ab Mitte der 1980er Jahre und mit Übernahme einer stellvertretenden Leitungsposition in einem Wohnheim begann ein Alkoholkonsum zum Stressabbau abends. Ausweislich der Angaben in der Reha-Klinik B. trank er seit 2008 infolge der von ihm so empfundenen beruflichen Degradierung zwei Flaschen Wein pro Tag in der Woche und 3 Flaschen am Wochenende. Diese Menge und diese Regelmäßigkeit lassen sich durch die aktenkundige Dokumentation längsschnittlich nicht belegen. Was die Bezodiazepinverordnung von Rivotril und später Diazepam betrifft erfolgte diese durch Herrn P., also bei fachärztlich gesehener Indikation unter Nutzen-Risiko Abwägung. Bei Rivotril handelt es sich eigentlich um ein Medikament zur Akutbehandlung von Krampfanfällen. Das Medikament wird aber insbesondere von Menschen eingenommen, die Angst vor Versagen und Beschämung haben, vor allem wenn dies in Form körperlicher Korrelate wie Zittern zum Ausdruck kommen kann/könnte.

 

Rivotril ist ein „gutes" Lampenfiebermedikament. Bei Herrn T. wurde dieses Medikament ärztlich verordnet, es ist keine Dosiserhöhung dokumentiert, auch nicht in den Aufzeichnungen von P., in denen auch nicht der vom Kläger in B. angegebene Konsum von Alkohol seinen Niederschlag fand. Ich bin in der Aktenlage auf seine Aufzeichnungen chronologisch eingegangen. 2018 kam es ausweislich des seit 1996 den Kläger betreuenden Hausarztes M. zu einer depressiven Entwicklung, wobei ein Arbeitsplatzkonflikt und Konflikte mit Pflegekindern als Auslöser bzw. unterhaltende Faktoren angeführt wurden. Der Kläger wurde von Herrn M. dann ab April 2018 mal kürzer, mal länger wiederholt arbeitsunfähig geschrieben unter der Diagnose einer sonstigen depressiven Episode oder wegen „Unwohlsein und Ermüdung" oder aufgrund organischer Leiden, aber — was die psychiatrischen AU Diagnosen betrifft, nicht unter der Diagnose einer Abhängigkeitserkrankung. Neben der hausärztlichen Betreuung befand sich der Kläger parallel bei Herrn P. in Behandlung, dessen Dokumentation über die Termine ab Ende 2018 auf Blatt 173 ff. der Akte vorgelegt wurden: In der dritten Februarwoche 2019, so hieß es hier, habe Herr T. auf Alkohol verzichten können und - es wurde unterstützt von seinem Psychiater - eine Rehabilitationsmaßnahme beantragt, die dann auch in der U. in D. durchgeführt wurde. Der von P. ausgefüllte Rehaantrag weist weder eine Medikamentennoch eine Alkoholabhängigkeit und auch keinen Substanzmissbrauch aus. Die Indikation für eine Entgiftung/ Entwöhnung leitet sich aus dem Rehaantrag nicht ab. Aus dieser Heilmaßnahme, die bei der Entscheidung über den Änderungsantrag berücksichtigt wurde, wurde der Kläger als „sofort arbeitsfähig" entlassen, wobei der Alkoholkonsum vom Kläger gegenüber den Behandlern dort mit 2 — 3 Flaschen Bier abends angegeben wurde. Die Einnahme von Benzodiazepinen wurde vom Kläger dort nicht angegeben, während er mit der 2022 durchgeführten Entwöhnungsbehandlung in B. angab, er habe in dieser Reha-Behandlung, ohne dies den Behandlern mitzuteilen, Diazepam eingenommen.

 

In dem Rehabilitationsentlassungsbericht in D. wurde auch keine Diagnose einer Alkohol-und/oder Medikamentenabhängigkeit bzw. mindestens Missbrauchs gestellt. Kognitive, hirnorganische oder neurologische Auffälligkeiten als Ausdruck einer Organschädigung wurden nicht festgestellt und es wurden auch keine Entzugssymptomatiken dokumentiert. Als der Kläger dann den Änderungsantrag stellte, wurde unter Verweis auf den Rehabilitationsentlassungsbericht aus der U. auch kein Änderungsbedarf gesehen, eine Verschlimmerung auch nicht belegt, weil der Kläger zwar als in seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit als beruflich gefährdet angesehen wurde aber als vollschichtig leistungsfähig und, sofort arbeitsfähig entlassen wurde und der Kläger seine berufliche Tätigkeit auch wieder aufnahm. Soweit ich dies aus den hausärztlichen Unterlagen entnehmen kann, kam es dann 2019 noch zu Krankschreibungen, aber nach Entlassung aus der Rehabilitation zunächst nicht mehr unter einer (irgendeiner) psychiatrischen Diagnose. Die aufgelisteten AU-Zeiten zwischen 18. bis 20.09., 06. bis 08.11. bezogen sich nicht auf eine psychiatrische Diagnose, erst zwischen dem 22.02. bis 15.05.2020 erfolgte eine AU-Bescheinigung aufgrund einer depressiven Episode als Hauptleiden. Ab dem 22.02.2020 wiederholten sich dann AU-Zeiten aufgrund der psychischen Störung des Klägers, wie die Leistungsstatistik der Krankenkasse auf Blatt 155 ff. der HA ausweist. Am 29. und 30.06.2021 wurde der Kläger durch Frau L. fachärztlich nervenheilkundlich psychotherapeutisch untersucht und begutachtet. Das Gutachten wurde am 09.07.2021 beim Sozialgericht Köln vorgelegt. In dem Zeitraum zwischen der Untersuchung des Klägers und der Vorlage des Gutachtens beim Sozialgericht Köln wurden Einwände gegen die Durchführung der Begutachtung „an sich", d. h. Art der Befragung, Umfang der Befragung und Untersuchung vom Kläger nicht geltend gemacht. Frau L. forderte mit Einverständnis des Probanden die Dokumentation des behandelnden Psychiaters an, stellte jedoch ihr Gutachten fertig ohne den Eingang der Unterlagen abzuwarten, die sie somit nicht berücksichtigen konnte.

 

So schreibt sie auf Seite 1 ihres Gutachtens selbst:  Die im Einverständnis des Probanden angeforderte Verlaufsdokumentation des behandelnden Psychiaters hat mich zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Gutachtens noch nicht erreicht." Dieses Vorgehen entspricht nicht den im Gutachten von E. angeführten Qualitätsmerkmalen insoweit, als dass hier der Eingang dieser „Anknüpfungstatsachen" nicht abgewartet wurde, um erst dann das Gutachten abzuschliessen. Es handelte sich ja um fachärztliche Befunde, die eine Einbettung der bis dato aktenkundigen Vorinformationen erlaubt hätte und damit eine Konsistenzprüfung auf verfälschungssicherere Grundlage gestellt hätte. Sonderlich weil Frau L. ja selbst schon Inkonsistenzen gesehen hatte und dem Kläger Plausibilitätsfragen gestellt hatte, so auf Seite 11 ihres Gutachtens und Seite 12 oben bezogen auf unterschiedliche Angaben zum Alkoholkonsum. Dem Gutachten von Frau L. lässt sich eine ausführliche und von ihr nicht unreflektiert übernommene Befassung mit den anamnestischen Angaben des Klägers entnehmen ( Familienanamnese, Eigenanamnese, aktuelle Beschwerden, wobei auf Seite 10 ausdrücklich von der Gutachterin darum gebeten wurde, bei der Beschreibung der Beschwerden nicht bezogen auf das psychiatrische Fachgebiet zu selektieren). Dass der Kläger Vorbehalte oder Einwände gegen das von Frau L. offenbar konsekutiv durchgeführte Diktat der anamnestischen Angaben geltend gemacht hätte, lässt sich dem Gutachten nicht entnehmen. Ein Indiz dafür hätte eine zeitnahe Beschwerde über ein als unzureichend empfundenes Diktat der Anamnese sein können.

Zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Frau L. hatte der Kläger angegeben,

• seit 8 Wochen keinen Alkohol zu trinken, aber auch angegeben (Seite 13 von 46 / Blatt 121 der HA),

• er trinke regelmäßig 2 Flaschen trockenen Rosé, wobei er nach der Arbeit gegen 17 Uhr damit anfange und, er nehme seit 20 Jahren Benzodiazepine.

 

Es wurde ein umfangreicher psychopathologischer Befund dokumentiert. Hinsichtlich der Angaben des Klägers zum Benzodiazepin- und Alkoholkonsum wurden allerdings keine obiektivierenden Untersuchunqsmethoden eingesetzt. Diese erfolgten während der RehaBehandlung in B., aber ohne Nachweis des fortdauernden Konsums von Alkohol und/oder Benzodiazepinen (Angaben über die diesbezüglich — unauffälligen - Laboruntersuchungen finden sich auf dem Formblatt 2.8, S. 248 ff der Akte). Frau L. teilte später mit, eine laborchemische Untersuchung der sog. CDT sei ggf. unspezifisch, eine Erhöhung könne auch durch andere Faktoren bedingt sein. Möglich gewesen wäre aber auch eine Untersuchung auf Ethylglucuronid, was bis zu 72 Stunden nach Alkoholkonsum im Urin nachweisbar ist. So hätte die vom Kläger angegebene Abstinenz von 8 Wochen bei sonst angegebenem regelmäßigen Alkoholkonsum in Kombination mit der Einnahme von Benzodiazepinen überprüft werden können. Das geschah nicht und ist insofern ein methodischer Mangel im Gutachten zum Zeitpunkt der Untersuchung und Erstellung. Auch eine Urin- oder Blutspiegeluntersuchung auf Diazepam/Benzodiazepine hätte durchgeführt werden können. Gerade weil die retrospektive Betrachtung und die Aggregation aller Daten unter Einbeziehung des Berichts aus B. ergibt, dass Herr T. widersprüchliche Angaben im Hinblick auf Art und Ausmaß des Substanzkonsums gemacht hat, was aber auch zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Frau L. evident und ihr ja auch aufgefallen war, kommt der Objektivierung anamnestischer Angaben durch entsprechende Untersuchungen besondere Bedeutung zu/wäre ihnen zugekommen. Hinzu kommt ja auch, dass der Kläger die Anerkennung einer schweren Störung mit der Folge der Anerkennung einer Schwerbehinderung begehrte (Frage nach dem sekundären Krankheitsgewinn) vor dem Hintergrund rentenrechtlicher Aspekte. Das Gutachten ging am (Poststempel) 09.07.2021 beim SG Köln ein. Am 06.08.2021 teilte Herr T. mit, er sei leider nicht seit 1.5 Jahren trockener Alkoholiker (das war aber die jedenfalls niedergelegte Angabe des Klägers bei der Begutachtung durch Y.).

 

Er habe mit Hilfe seines Hausarztes Herrn M. ab Juni 2021 ambulant entgiftet. Seine Angabe bei Frau OA. im Juni 2021 stimmte dann in etwa damit überein, dass er seit 8 Wochen keinen Alkohol trinke, aber eben nicht mit der Niederlegung bei Y.. Der Dokumentation von Herrn P. ergibt sich als alkoholbezogener Eintrag der 21.02.2020, wonach er versuchen wolle, ganz vom Alkohol wegzukommen, aber nach wie vor werde „gele_gentlich Alkohol konsumiert". Dann am 21.01.2021 „in der letzten Zeit auch schon mal wieder Lust auf Alkohol. Noch könne er sich zurückhalten. ", wobei dem Kläger das gegen einen Rückfall wirksame Medikament Campral verordnet wurde. Parallel wurde niedergelegt, dass er weiterhin Diazepam eingenommen hatte. Zwei Monate vor der Begutachtung durch Frau L. und 1 Jahr vor der ambulanten Entwöhnung in B. war bei P. am 29.04.2021 nicht niedergelegt, dass der Kläger „2 Flaschen Rosé" am Tag trinke. Über den gesamten Zeitraum von Januar 2021 bis Juni 2021 findet sich gegenüber Herrn P. keine entsprechende Angabe bezogen auf den Alkoholkonsum, den er gegenüber Frau L. bis zur ambulanten Entgiftung mit seinem Hausarzt ab Mai/Juni 2021 berichtete. Liest man nun als weitere „Gegenkontrolle" die vom Kläger in B. 2022 gemachten Angaben, heißt es hier (Blatt 243 der Akte): Nach einer Reha-Behandlung wegen der Depressionen habe sich die Trinkmenge ab 2020 erneut bis auf 2 Flaschen Wein pro Tag in der Woche gesteigert und 3 Flaschen täglich am Wochenende. „In den letzten 2 Jahren regelmäßiger Konsum. Dabei konsumierte Herr H. morgens Diazepam und abends Alkohol. Letzter Konsum über 3 Tage im September 2021 im Urlaub." Der Bericht enthält auch die Angabe (ich bin darauf weiter oben zu sprechen gekommen), dass der Kläger in der Reha-Behandlung 2019 unzutreffende Angaben gemacht habe: „Herr H. habe auch während der Reha-Behandlung 2019 heimlich Diazepam konsumiert." (Blatt 244 der Akte im Rehabilitationsentlassungsbericht aus B.)

 

Es ist festzuhalten, dass Herr T. zwischen 2019 bis 2022 unterschiedliche Angaben gemacht hat zu seinem Konsumverhalten, wobei das Ausmaß dieser„ Inkongruenz" sich mit zunehmender Anreicherung der Akte einschließlich des Rehabilitationsentlassungsberichts aus B. erst ergibt aber schon zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Frau L. aktenkundig war. Im Hinblick auf die Inkonsistenzen, die bis zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Frau L. also schon zu übersehen waren, fehlt für eine „verfälschungssichere" Einschätzung

 

1.eine laborchemische Überprüfung der angegebenen 8-wöchigen Abstinenz

• Medikamentenspiegel zur Differenzierung der Diagnosen Missbrauch versus Abhängigkeit bzw. Dissimulation oder Aggravation

• CDT, Ethylglucuronid Werte zur Differenzierung von Missbrauch, Abhängigkeit bzw. Dissimulation /Aggravation was den Alkoholkonsum betrifft

2.vor Abschluss des Gutachtens eine Beiziehung der fachärztlichen Dokumentation, bestenfalls vor der Untersuchung des Klägers, um ihn mit den dortigen Niederlegungen auch zu konfrontieren.

 

Frau L. weist in ihrem Gutachten auf Seite 37 selbst darauf hin, dass sich vorrangig aus der Anamnese (also ohne befundgemäße Abklärung/Untermauerung) „urinweise" auf eine Missbrauchsproblematik oder auch mögliche Abhängigkeitsproblematik bezüglich Benzodiazepinen und Alkohol" ( ergeben), „ die aber nicht nachgewiesen werden können." Die anamnestisch angegebene Abstinenz von Alkohol hätte aber in der Untersuchung nachgewiesen werden können, ebenso hätte der Medikamentenspiegel von Diazepam untersucht und befundet werden können. Wie unsicher die Einschätzung ist wird dann auf Seite 37 des Gutachtens bei der Beschreibung der Gesundheitsstörungen durch die von Frau L. gewählte Formulierung deutlich:

 

„sowie anamnestischen Angaben eines zumindest vorliegenden Alkoholmissbrauchs und eines Benzodiazepinmissbrauchs, der aber durch die Aktenlage nicht ausreichend dokumentiert ist", obgleich auf Seite 32 / Blatt 140 der Gerichtsakte von einem bestehenden nach ICD 10 mit F 10. und F 13.1 klassifizierten (also als gesichert erachteten) „Abusus" ausgegangen wurde. Eine erneute Relativierung/Vagheit der Feststellungen ergibt sich dann auf Seite 39/147 der Akte. Hier greift die Sachverständige unterschiedliche Angaben des Klägers auf, die also mehrdeutig sind, ohne diese Mehrdeutigkeit einer Klärung zugeführt zu haben und sich „vermutungsweise" zu äußern und sodann zur „ Glaubhaftigkeit" der Angaben trotz der Diskrepanzen:

 

„Die Alkoholproblematik ist medizinisch nicht ausreichend dokumentiert, kann also nicht als nachgewiesen gelten, wird aber vom Probanden glaubhaft dargestellt." „Auch die tägliche Einnahme von Benzodiazepinen ist nicht aktenkundig ... die vom Probanden vorgelegten Sammelquittungen bezüglich Zuzahlungen für Medikamente dokumentieren immerhin, dass er zwischen 2/11 und 12/14 750 Tabletten Rivotril 2mg verschrieben bekommen hat, was einer Einnahme von 16 Tabletten Rivotril pro Monat entsprechen würde." Auf Seite 41 wird dann wieder auf die mangelnde Verlaufsdokumentation hinsichtlich der Einnahme von Benzodiazepinen verwiesen.

 

Hier fehlt also die Beiziehung der „Verlaufsdokumentation" des Facharztes und auch des Hausarztes vor Abschluss des Gutachtens und es fehlen objektivierende Messungen/ Untersuchungen im Hinblick auf Medikamente und Alkohol und die Festlegung dann auf Seite 44 des Gutachtens/ Blatt 152 darauf, beim Kläger bestehe eine „Alkoholabhängigkeit" ergibt sich nicht aus dem voran dargelegten und wird nicht belegt. Insofern ist das Gutachten auch in sich widersprüchlich.

 

Im Bericht der Median-Klinik B. wurde von einem Abhängigkeitssyndrom von Alkohol als Hauptdiagnose ausgegangen. An dritter Stelle folgt ein Abhängigkeitssyndrom von Sedativa und Hypnotika und Benzodiazepinen. Allerdings beruhen auch diese Feststellungen auf den dort getätigten diesbezüglichen Angaben von Herrn T., der um eine rückwirkende Anerkennung des GdB 50 mit Auswirkungen auf die Höhe der Rentenbezüge kämpft.

 

Aus den genannten Gründen wurden die Beweisfragen des Gerichts im Gutachten von Frau L. nicht fälschungssicher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit und nicht widerspruchsfrei beantwortet. Die (Seite 11 des Gutachtens von E.) für die Schlussfolgerungen relevanten Indizien" wurden nicht „möglichst vollständig" zusammengetragen und, in „ihrer Aussagekraft gegeneinander" nicht umfänglich ( mit dem Ergebnis einer klaren Beweisantwort) abgewogen. Die Ermittlung der Anknüpfungstatsachen war vor Abschluss des Gutachtens nicht vollständig erfolgt. So hätte auch die Patientendokumentation der Reha aus D. aus dem Jahr 2019 erbeten werden können um die Angaben des Klägers zu dort erfolgten Atemalkoholkontrollen oder Ausgangsverboten in die Stadt zu überprüfen und auch daraus klare Appsagen zu ermöglichen.

 

S.

Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie - Sozialmedizin - Verkehrsmedizinische Qualifikation ­ Medizinische Begutachtung AEKWL“

 

Der erkennenden Richter hat die Beteiligten nach Eingang dieses Gutachtens von Frau S. darauf hingewiesen, dass vor dem Hintergrund dieses Gutachtens beabsichtigt sei, den Rechtsstreit wegen erheblicher Mängel der dort eingeholten Gutachten an das SG Köln zurückzuverweisen und dem SG dabei gemäß § 159 Abs 2 SGG genaue Vorgaben für die nachzuholenden Ermittlungen zu machen.

 

Parallel sollten dazu die Ermittlungen zu den Qualitätsanforderungen an medizinische Sachverständigengutachten fortgeführt werden. Dazu war beabsichtigt, insbesondere zu der Frage, welche richterlichen Vorarbeiten für ein qualitativ angemessenes Gutachten aus medizinischer Sicht erforderlich sind und ob es – wie bisher – auch heute noch ausreicht, die behandelnden Ärzte regelmäßig nur um schriftliche Stellungnahmen  in sog. Befundberichten zu bitten oder ob sie künftig – wie im Straf- und Zivilprozess üblich – immer zur Übersendung der vollständigen Patientendokumentation aufzufordern und zu ihrer mündlichen Erläuterung auch im sozialgerichtlichen Verfahren in einem Gerichtstermin anzuhören sind, in einem nächsten Schritt eine repräsentative Befragung aller am erkennenden Gericht tätigen (rund 7000) medizinischen Sachverständigen des LSG NRW unter Leitung von X., der den Lehrstuhl für empirische Sozialforschung an der Universität Leipzig innehat, durchzuführen.

 

Grund für diese gerichtliche Absicht, war (und ist), dass es zu den ins Auge gefassten gerichtlichen Fragen bislang keine zuverlässigen Daten gibt, obwohl diese für die – auch in diesem Verfahren streitentscheidende – Verbesserung der Vorgehensweise für die optimale gerichtliche Aufklärung des Sachverhalts wesentlich sind. Das bisherige gerichtliche Vorgehen der Sozialgerichte folgt nämlich bisher noch immer der seit Einführung der Sozialversicherung im Jahre 1883 bestehenden Tradition, bloße Befundberichte einzuholen und Beweisanordnungen zu erlassen, ohne die oben geschilderten aktuellen Tendenzen zu immer stärker manipulierten Vorbefunden zu berücksichtigen.

 

Nach den Aussagen der insoweit gehörten Sachverständigen beläuft sich der Anteil der entsprechend manipulierten Diagnosen in den USA nach dortigen Studien mittlerweile auf rund 50 %. Das deckt sich mit den tatrichterlichen Erfahrungen des für dieses Urteil verantwortlichen Richters, die auf rund 30 Dienstjahren in medizinischen Fachgebieten der Sozialgerichtsbarkeit und dabei rund 60.000 ausgewerteten Gutachten beruhen. Dennoch ist angesichts der großen Bedeutung der o.g. Fragestellung weder eine individuelle tatrichterliche (Ein-)Schätzung noch eine ausländische Studie ausreichend. Denn weder sind die Erfahrungen einer einzelnen Person eine hinreichend breite Grundlage noch lassen sich die amerikanischen Studien direkt auf Deutschland übertragen. Dafür sind die jeweiligen Gesundheits- und Rechtssysteme zu verschieden. Diejenigen, die hier am ehesten in repräsentativem Umfang zur Lage medizinisch verwertbarer Daten in Deutschland auf Grund ihrer spezifischen Erfahrungen gerichtsverwertbare Antworten geben können, sind vielmehr die medizinischen Sachverständigen der deutschen Sozialgerichte. Denn diese Sachverständigen stellen eine hinreichend große Gruppe dar und sind dabei zudem neutral sowie unabhängig.

 

Folgende Fragen sollten den rund 7000 medizinischen Sachverständigen des LSG NRW daher gestellt und sodann nach den Regeln der empirischen Sozialwissenschaft durch X. ausgewertet werden:

 

„Frage 1 Wie viele Jahre (gerundet) sind Sie bereits für Sozialgerichte von Amts wegen beauftragt (d.h. gemäß § 106 SGG) gutachterlich tätig?

 

___ ___ Jahre

 

Frage 2 Wie viele Gutachten gemäß § 106 SGG haben Sie bisher für Sozialgerichte erstellt? (Eine Schätzung ist ausreichend.)

 

ca. ____ Gutachten

 

Frage 3 Haben Sie von den Sozialgerichten eine vorherige Einweisung (z.B. in einem Termin) oder nachträgliche Rückmeldungen (z.B. durch Übersendung des späteren Urteils) zu den Qualitäts-Anforderungen an Gerichts-Gutachten erhalten?

 

nie

selten 

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 4 Hätten Sie sich von den Sozialgerichten eine vorherige Einweisung oder nachträgliche Rückmeldung zu Qualitäts-Anforderungen an Gutachten gewünscht?

 

nie

selten 

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 5 Wünschen Sie sich, dass Sie Ihre Gutachten in einem Termin (in Präsenz oder elektronisch) mündlich erläutern können?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer 

 

Frage 6 Wünschen Sie sich die Beiziehung der Primärdokumentation (d.h. nicht nur von

Befundberichten, sondern der gesamten Patientenakte mit allen Daten) der medizinisch

Behandelnden (stationär und ambulant) durch das Gericht vor Erteilung des Gutachtenauftrages?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 7 Sind Sie durch organisatorische/finanzielle Vorgaben der Sozialgerichte an der optimalen Erfüllung des Gutachtenauftrages behindert?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 8 Finden Sie bei der Erstellung des Gutachtens Hinweise auf Dissimulation?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 9 Finden Sie bei der Erstellung des Gutachtens Hinweise auf Aggravation?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 10 Finden Sie bei der Erstellung des Gutachtens Hinweise auf Simulation?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 11 Finden Sie bei der Erstellung des Gutachtens Hinweise auf interessengeleitete Fehl- oder Falschangaben der Vorbehandelnden (ambulant/stationär)?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer

 

Frage 12 Sollte die Erteilung eines gerichtlichen Gutachtenauftrags - zusätzlich zum allgemeinen beruflichen Sachkundenachweis - an den Nachweis einer Zusatzqualifizierung/Zertifizierung für die Erstellung gerichtlicher Gutachten gebunden werden?

 

nie

selten

gelegentlich

häufig

immer“

 

Das voraussichtliche Kostenvolumen dieser Ermittlungen wurde von X. auf rund 60.000 Euro beziffert. Der zuständige Richter beantragte daher vorab gemäß den §§ 3 ff des deutschen Gesetzes über die Vergütung von Sachverständigen, Dolmetschern, Dolmetscherinnen, Übersetzerinnen und Übersetzern sowie die Entschädigung von ehrenamtlichen Richterinnen, ehrenamtlichen Richtern, Zeuginnen, Zeugen und Dritten (JVEG) bei der Gerichtsverwaltung eine kostenrechtliche Überprüfung. Das Justizministerium von NRW stellt die richterliche Berechtigung zur Durchführung dieser Ermittlungen indes generell in Frage vgl. Schreiben des Justizministeriums NRW zur Aktenzeichen 3132 E – z.68/23 - z vom 26.6.2023::

 

„Die Sache veranlasst mich allerdings zu dem Hinweis, dass es eine Grenze geben muss zwischen einerseits einer selbstverständlich der richterlichen Unabhängigkeit unterliegenden Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens in einem konkret zur Entscheidung anstehenden Gerichtsverfahren und andererseits einer abstrakten wissenschaftlichen Ermittlung von Begutachtungsregularien für eine gesamte Klasse von Gerichtsverfahren durch Einholung zahlloser Sachverständigengutachten, für deren Kosten dann weder die Parteien eines einzelnen konkreten Verfahrens noch der Steuerzahlen in Haft genommen werden können.“

 

An dieser Position hält die Gerichtsverwaltung von NRW bislang fest, obwohl der betroffene Richter darauf hinwies, dass dies einem unzulässigen Eingriff der Exekutive in die richterliche Unabhängigkeit darstellt (Art. 97 GG).

 

Die vom betroffenen Richter in diesem und anderen (Muster-) Verfahren beabsichtigten weiteren Ermittlungen haben sich daher bislang als nicht weiter durchführbar erwiesen. Neben diesem anhängigen Rechtsstreit sind davon seit über einem Jahr rund 220 Verfahren betroffen, die in die o.g. Ermittlungen einbezogen worden sind. Es kommt insoweit auf eine rechtliche Klärung durch das Bundessozialgericht an.

 

Hierauf wurden die Beteiligten hingewiesen und der Kläger ist vom erkennenden Gericht abschließend persönlich gehört worden. Er hat erklärt:

 

„Zu meinem Tagesablauf könnte meine Frau, die mit mir zusammenlebt, Angaben machen. Bezüglich meiner Erkrankung war es bei meinen früheren Arbeitgebern so, dass ich zwar einmal eine Abmahnung wegen des sogenannten Organisationsverschuldens erhalten habe. Da ging es allerdings nicht um eine Erkrankung, sondern um eine Frage bezüglich der Medikamentengabe an die Bewohner. Gegen Ende meines Arbeitslebens gab es dann allerdings wegen meiner häufigen AU-Zeiten Gespräche. Den dortigen Betriebsarzt des Johannes-Werkes habe ich deswegen aber nicht eingeschaltet. Was die Gespräche angeht, so waren es die sogenannten BEM-Gespräche zur Wiedereingliederung nach längerer Krankheit. Damals war dann bei diesen BEM-Gesprächen die MAV, also die Mitarbeitervertretung mit eingeschaltet.“

 

(Anmerkung: BEM steht für: Betriebliches Eingliederungs Management)

 

Auf weitere Nachfrage des Berichterstatters hat der Kläger erklärt:

 

„Ich habe der Rentenversicherung damals schon mitgeteilt, dass dieses Verfahren läuft. In Anspruch genommen habe ich aber zunächst eine Rente ab 63 für langjährig Versicherte.“

 

Der Bevollmächtigte des Klägers hat dazu erklärt:

 

„Der Kläger dürfte deswegen die Möglichkeit haben gegebenenfalls bei Obsiegen im hiesigen Verfahren die Rentenart noch zu wechseln. Wir waren als SQ. GmbH insoweit nicht involviert.“

 

Der Berichterstatter hat im Termin darauf hingewiesen, dass er selber aufgrund seiner langjährigen ehrenamtlichen Tätigkeit bei der Lebenshilfe die beruflichen Belastungen eines Heimleiters von Wohnstätten von Menschen mit geistiger Behinderung aus eigenem Erleben kenne - ebenso wie die Umstände einer Alkoholabhängigkeit, weil er einen Patenonkel, der alkoholkrank war, über 10 Jahre betreut hat.

 

Der Kläger hat noch ergänzt, dass er über seine Alkoholkrankheit nicht immer so offen gesprochen habe, das hänge auch mit der Scham zusammen.

 

Der Bevollmächtigte des Klägers hat sodann vorab folgende Beweisanträge gestellt:

 

1.

Vernehmung der Ehefrau des Klägers Frau T., Anschrift wie die des Klägers.

 

Beweisthema:

Tagesablauf und gesundheitliche Einschränkungen im täglichen Leben des Klägers seit 1999 bis heute. Es wird in das Wissen der Zeugin gestellt, dass der Kläger in seiner Gesundheit aufgrund seiner gesundheitlicher Beeinträchtigung im täglichen Leben stärker beeinträchtigt war als es im Gutachten von Frau L. nach den Angaben des Klägers wiedergegeben ist.

 

Es handelt sich insoweit aus Sicht des Klägers um fremdanamnestische Angaben die zunächst einmal im Sinne von Anknüpfungstatsachen gerichtlich zu ermitteln sind.

 

2.

Vernehmung des früheren MAV Vorsitzenden OK., XY., früher OU., heute Studio in BU.. Ferner der Bereichsleiter der dortigen Werkstätten im Frühjahr 2021.

 

Beweisthema:

Gesundheitliche Einschränkungen die der Kläger im Rahmen von Bam-Gesprächen gegenüber den beiden vorgenannten Zeugen offenbart hat.

 

Insoweit werden die benannten Zeugen bekunden, dass der Kläger schon damals an so erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen litt, dass seine berufliche Tätigkeit dadurch eingeschränkt, bzw. dauerhaft gefährdet war.

 

3.

Beiziehung der vollständigen Patientendokumentation der den Kläger seit 1993 behandelnden Ärzte, Therapeuten und Krankenhäuser. Insoweit werden diese beizuziehenden Urkunden beweisen, dass die medizinischen Einschränkungen die schon damals und auch bis heute beim Kläger aufgrund von dessen Suchterkrankung stehen, erheblich stärker waren und sind als von Frau L. angenommen.

 

Der Berichterstatter hat darauf hingewiesen, dass aus seiner Sicht weiterhin von der Notwendigkeit der Aufhebung und Zurückverweisung ausgegangen werde. Es werde aus Sicht des Berichterstatters erforderlich sein, den vom Kläger gestellten Beweisanträgen zu entsprechen. Aufgrund des Gutachtens von Frau S. stehe fest, dass das Gutachten von Frau L. methodisch unzureichend und nicht verwertbar sei, um von einer hinreichend aufgeklärten Sachlage auszugehen. Die erforderliche Beweisaufnahme sei umfangreich und aufwändig. Auch um den Beteiligten beide Instanzen in vollem Umfang zu erhalten, sei aus Sicht des Berichterstatters die Zurückverweisung sachgerecht. Es sei erforderlich, dem Sozialgericht gemäß § 159 Abs. 2 Hinweise zur Einholung fälschungssicherer Gutachten zu erteilen und die Revision zuzulassen um insoweit eine einheitliche Klärung herführen zu können.

 

Beide Beteiligte haben sodann erklärt:

 

„Es besteht weiterhin Einverständnis zur Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter.“

 

Die Anträge wurden sodann wie folgt gestellt:

 

„Der Kläger stellt den Antrag aus der Berufungsschrift vom 28.01.2022.

 

Die Bevollmächtigte des Beklagten beantragt, die Berufung zurückzuweisen.“

 

Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Beiakten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die zulässige Berufung, über die der Berichterstatter gemäß §§ 155 Abs. 3 SGG im Einverständnis der Beteiligten als Einzelrichter entscheiden konnte, ist im Sinne einer Zurückverweisung gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG begründet.

 

Vorab ist klarzustellen, dass der Antrag aus der Berufungsschrift des Klägers vom 28.01.2022 einen – offensichtlichen – Schreibfehler enthält, insofern als die dortige Formulierung lautet, es werde für den Kläger seit dem 27.03.2020 die Feststellung eines GdB von „mindestens 30“ begehrt. Denn aus dem aus dem gesamten Vorbringen des Klägers ist klar ersichtlich, dass es ihm um die Feststellung eines GdB von „mehr als 30“ geht. Anderenfalls ergäbe seine Berufung auch keinerlei Sinn. Den GdB von 30 hat der Beklagte schließlich ohnehin schon festgestellt. Es handelt sich insofern daher um einen offensichtlichen Übertragungsfehler zwischen Diktat und Ausfertigung des Schriftsatzes, den das erkennende Gericht im Wege der sinngemäßen Auslegung des Antrages berichtigen kann (und muss - § 133, 157 BGB). 

 

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung eines Sozialgerichts durch Urteil aufheben und die Sache an die erste Instanz zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und wenn das LSG wegen aufwändiger Ermittlungen an einer Entscheidung in der Sache gehindert ist.

 

Die angefochtene Entscheidung des SG beruht hier auf solchen wesentlichen Verfahrensfehlern (hierzu unter I.). Denn auch unter Zugrunde-Legen des rechtlichen Ausgangspunkts des SG hätte das SG die medizinischen Tatsachen, auf die es sich stützt, gemäß §§ 103, 106 SGG weiter aufklären müssen.

 

Denn die anspruchsbegründenden Tatsachen - d. h. vor allem die medizinische Diagnosen - müssen von den Gerichten für das Schwerbehindertenrecht – SGB IX - (wie für alle Leistungen für die die Versorgungsmedizinverordnung gilt) gemäß §§ 103, 106, 128 SGG im sogenannten Vollbeweis festgestellt werden. Hierfür ist ein der Gewissheit nahekommender Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich (BSG vom 27.03.1958 - 8 RV 387/55; Urteil vom 15.12.2016 - B 9 V 3/15 R -). Diese volle Überzeugung ist nur dann gegeben, wenn eine Wahrscheinlichkeit besteht, die nach der Lebenserfahrung praktisch der Gewissheit gleichkommt, weil sie bei jedem vernünftigen, die Lebensverhältnisse klar überschauenden Menschen keine Zweifel mehr bestehen lässt (BSG vom 27.04.1972 - 2 RU 147/71-.). Beweiserleichterungen, wie sie das Gesetz an anderer Stelle vorsieht (zB gemäß § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung) gibt es hier nicht.

 

Für die gerichtliche Beweisaufnahme ist zudem auch für die Feststellung einzelner Behinderungen sowie für die Feststellung des Gesamtgrades der Behinderung genau zwischen Anknüpfungstatsachen, also Umständen, die nicht in das Fachgebiet des medizinischen Sachverständigenbeweises fallen, und den Tatsachen zu unterscheiden, die ein medizinischer Sachverständiger ermitteln soll. Diese nicht-medizinischen Anknüpfungstatsachen muss das Gericht vorgeben.

 

Diese Vorgaben hat das SG verkannt.

 

Die Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG ist sachgerecht, denn das erkennende Gericht kann ohne die Erhebung weiterer Tatsachen in der Sache nicht selbst entscheiden. Eine Durchführung der erforderlichen aufwändigen Beweisaufnahme in der ersten Instanz ist unter Würdigung der Schutzinteressen der Beteiligten zweckmäßig und angemessen (hierzu unter II).

 

Gemäß der Vorschrift des § 159 Abs. 2 SGG erfolgen hier daher (unter III) gemäß § 159 Abs. 2 SGG verbindliche Anweisungen über die Art der nachzuholenden tatrichterlichen Ermittlungen (vgl. dazu beispielhaft die rechtskräftigen Urteile des erkennenden Senats vom 14.12.2017 – L 13 VG 23/17 – und vom 3.7.2020 – L 13 SB 33/20 -.).  Dabei sollen gemäß den nach § 159 Abs. 2 SGG an die erste Instanz erteilten – bindenden (vgl. zB Keller in Meyer-Ladewig 14. Auflage, 2023 § 159 Randnummer 6a mit weiteren Nachweisen) -  Maßgaben auch die o.g. allgemeinen Erkenntnisse einbezogen werden, die das erkennende Gericht in mehreren parallel zum Ausgangsverfahren geführten Musterverfahren über Qualitätsanforderungen an medizinische Sachverständigengutachten für Gerichte nach der Versorgungsmedizinverordnung und über die Belastbarkeit der dabei auszuwertenden Angaben behandelnder Ärzte bzw. Ärztinnen bislang gewonnen hat.

 

Schließlich ist gleichzeitig die Revision an das Bundessozialgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, damit dieses über die Rechtmäßigkeit der vom erkennenden Gericht gemäß § 159 Abs.2 SGG erteilten Maßgaben urteilen kann (Hierzu unter IV - vgl. zu einem solchen Vorgehen zuletzt: BSG Urteil vom 14.6.2018 – B 9 SB 2/16 R).

 

I. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 2 Nr. 2 SGG, ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (zu den Voraussetzungen des § 159 SGG siehe z.B. Urteile des LSG NRW vom 20.02.2002 - L 10 SB 141/01 -, vom 22.01.2003 - L 10 SB 111/02 -, vom 19.03.2008 - L 8 R 264/07 - sowie vom 27.11.2008 - L 2 KN 165/08 -). Hier hat das SG den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und damit seiner Amtsermittlungspflicht gemäß §§ 103 und 106 SGG nicht genügt.

 

1. Das angefochtene Urteil verstößt sowohl gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 103 SGG als auch des § 105 SGG. Denn weder handelt es sich im Fall des Klägers um eine Sache, die keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art iSd § 105 SGG aufweist, noch ist der Sachverhalt geklärt. Vielmehr hätte sich das SG – auch ausgehend von seiner eigenen Rechtsauffassung - zu weiterer Beweiserhebung gemäß § 103 SGG in Verbindung mit § 106 SGG gedrängt fühlen müssen. Der in § 103 SGG normierte Untersuchungsgrundsatz ist nämlich verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen. Hierbei hat es von sämtlichen Ermittlungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen.

 

Das SG konnte hier angesichts der in Frage stehenden Beweisfrage nach dem seit Stellung des Verschlimmerungsantrages am 27.03.2020 beim Kläger bestehenden Gesamtgrad der Behinderung nicht ohne weitere Ermittlungen über den geltend gemachten Anspruch entscheiden. Das betrifft sowohl die erforderliche Sachverhaltsaufklärung bezüglich der nicht-medizinischen Anknüpfungstatsachen, das heißt bzgl. des Tagesablaufs des Klägers, (weil nur dieser Tagesablauf hinreichend sichere Feststellungen zu daraus gegebenenfalls deutlich werdenden Teilhabeeinschränkungen erlaubt) und der Menge des seitdem bestehenden Alkohol- sowie Medikamentenkonsums (weil dies für die Frage der Suchterkrankung bestimmend ist) als auch die darauf aufbauende medizinische Aufklärung bzgl. des Gesundheitszustands des Klägers

 

2. Der erste – und für alle weiteren Mängel der Ermittlungen des SG ursächliche – Fehler bestand schon darin, dass das SG weder den Kläger selbst noch die insoweit bzgl. seiner etwaigen Teilhabeeinschränkungen als nächste Angehörige und Kollegen in Frage kommenden Menschen aus seinem persönlichen Umfeld als Zeugen angehört hat. Das aber wäre angesichts der im Streit stehenden Sucherkrankung des Klägers unverzichtbar gewesen. Auch auf anderen Grundlagen (z.B. die Personalakten der Arbeitgeber bzw. des Rentenversicherungsträgers) hat das SG für seine medizinischen Ermittlungen nicht geklärt, von welchem nicht-medizinischen Sachverhalt für die medizinische Bewertung genau auszugehen ist. Insbesondere ist unklar, welche für das soziale Umfeld wahrnehmbaren Folgen die vom Kläger geltend gemachte Suchterkrankung seit seinem Verschlimmerungsantrag vom 27.03.2020 hatte – oder eben nicht.

 

Das SG hätte daher den nicht-medizinischen Sachverhalt vor der Beauftragung der Gutachterin erst einmal selbst genau aufklären müssen, insbesondere durch die persönliche Anhörung des Klägers und seines persönlichen Umfelds. In jedem Fall aber hätte das SG der Sachverständigen den nicht-medizinischen Sachverhalt präzise vorgeben müssen. Auf keinen Fall durfte das SG die richterliche Aufgabe der Aufklärung der nicht-medizinischen Anknüpfungstatsachen auf den medizinischen Sachverständigen übertragen. Das aber hat das SG hier implizit getan bzw. stillschweigend vorausgesetzt und billigend hingenommen . Schon damit sind alle darauf aufbauenden weiteren Schritte der Beweisaufnahme des SG rechtswidrig und nicht verwertbar.

 

3. Auch in rein medizinischer Hinsicht hat das SG die ihm obliegenden richterlichen Vorarbeiten nicht geleistet, die zwingend erforderlich sind, um zu der vom Gesetz gemäß §§ 103, 106 SGG geforderten sorgfältigen Aufklärung des Sachverhalts zu gelangen. So hätte das SG vor allem selbst die Vollständigkeit der medizinischen Dokumentation prüfen und ggf. für Ergänzung sorgen müssen. Auch hier fehlt Wesentliches. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der in diesem Verfahren bestehenden Erschwernisse, dass für die Beweisfrage, die bis ins Jahr 2020 zurückreicht, eine lange zurückliegende Zeit medizinisch beurteilt werden muss. Gerade deswegen hätte das SG die medizinischen Unterlagen vollständig und lückenlos beiziehen müssen, d.h. insbesondere die sogenannte Primärdokumentation aller Behandler und Kliniken ebenso wie die Personal- und Rentenakten des Klägers. Das gebietet § 103 SGG durch die dort angeordnete Ausschöpfung aller sonstiger Ermittlungsmöglichkeiten, die im konkreten Einzelfall zur Gewinnung der gerichtlichen Überzeugung sinnvoll in Frage kommen.

 

Denn gerade ein Leistungsverzeichnis der Krankenkasse stellt sicher, dass bei der Aufklärung des medizinischen Sachverhalts keine Vorbehandlungen vergessen oder gar verschwiegen werden. Denn in diesem Leistungsverzeichnis ist all das immer vollständig – und nach Diagnosen codiert sowie nach Datum sortiert – gespeichert. Das Leistungsverzeichnis der Krankenversicherung ist damit unverzichtbar für die Begutachtung.

 

Ebenso wichtig ist der unverschlüsselte Rentenversicherungsverlauf. Denn dieser enthält ergänzend die medizinischen Leistungen der Rentenversicherung und gibt zudem Aufschluss über die gesamte Erwerbsbiographie nebst ggf. daraus für die Begutachtung hervorgehender besonders kritischer Phasen.

 

Personalakten enthalten darüber hinaus Angaben über den Dienst der Probanden (ggf. mit darin enthaltenen Befunden der zuständigen Betriebsärzte aufgrund der entsprechenden arbeitsmedizinischen Untersuchungen) sowie dienstliche Beurteilungen – oder auch Abmahnungen - , die unter anderem auch Angaben über den Gesundheitszustand und die Belastbarkeit erlauben. Das gilt gerade für die Tätigkeiten des Klägers, d.h. die eines Heimleiters einer Wohnstätte bzw. eines Gruppenleiters in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderungen, weil es hier u.a. zu den Aufgaben der Betreuer gehört, die Medikamente für die Menschen mit Behinderungen zu stellen. Zu diesen Medikamenten zählen regelmäßig auch Substanzen mit hohem Suchtmittelpotenzial, so dass eine evtl. Suchtmittelabhängigkeit von Mitarbeitenden in diesem Tätigkeitsfeld vom Arbeitgeber auf Anordnung der Aufsichtsbehörden genau überwacht werden muss – und ggf. regelmäßig zur Kündigung führt. Auch das hätte das SG aufgrund der sozialgerichtlichen Zuständigkeit für die in Wohn- und Werkstätten gemäß dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) erbrachten Leistungen eigentlich wissen und durch Anforderung der Personalakten des Klägers nebst Arbeitgeberanfrage berücksichtigen müssen.

 

Dabei wäre ein solches gerichtliches Vorgehen wegen der die prozessualen Mitwirkungspflichten der Klägerin gemäß §§ 103, 106, 106a SGG ein Leichtes gewesen. Es empfehlen sich insoweit folgende Vordrucke, (die von der vom Kläger beauftragten BA. entwickelt wurden; diese Vordrucke kann man den betreffenden Beteiligten an die Hand geben; sie haben sich mittlerweile in hunderten von Verfahren des erkennenden Gerichts bewährt):

 

Vordruck Anforderung Leistungsverzeichnis Krankenkasse:

 

bitte übersenden Sie mir gemäß § 305 SGB V eine Auskunft über alle mich ^     betreffenden Leistungsdaten – Versicherungsnummer …..“

 

Vordruck Rentenversicherung

 

bitte übersenden Sie mir einen unverschlüsselten Rentenversicherungsverlauf – Versicherungsnummer …..“.

 

Des Weiteren hätte das SG gemäß §§ 103, 106, 106a SGG auch alle weiteren für die Aufklärung des Sachverhalts erheblichen Dokumente zu den Akten nehmen bzw. von den Beteiligten zu den Akten geben lassen müssen, die genauen Aufschluss über die weitere Entwicklung des Gesundheitszustands des Klägers nach dem 27.3.2020 geben können.

 

Dazu gehören neben den oben bereits genannten Quellen insbesondere die vollständigen Dokumentationen aller medizinischen Behandlungen, die seitdem beim Kläger erfolgt sind, d.h. die sogenannten Primärbefunde. Gerade bei länger andauernden seelischen Erkrankungen und Suchtleiden sind hierzu die sogenannten Befundberichte, mit denen sich das SG begnügt hat, nicht ausreichend. Denn oft sind erst die vollständigen Aufzeichnungen über die geführten Gespräche und Therapien wirklich aussagekräftig. Nicht selten stehen diese zeitnah gefertigten und von späteren rechtlichen Interessen noch eher unbeeinflussten und daher unverfälschten Aufzeichnungen auch im Gegensatz zu späteren Angaben, die bereits im Blick auf rechtliche oder finanzielle Interessen erfolgen. Auch die Berichte der Therapeuten - und selbst die von Kliniken – sind nämlich oft gefärbt von deren Interessen – z.B. an der Belegung der Reha-Einrichtung durch die Kostenträger oder an der Verlängerung einer für die Behandler lukrativen Therapie. Gerichte dürfen daher die Angaben, die in den komprimierten Kurzfassungen der sogenannten Befundberichte erfolgen nicht ohne die Kontrollmöglichkeit der beigezogenen Primärdokumentation ausreichen lassen. So handhaben es im Übrigen die Straf- und Zivilgerichte schon lange. Die Sozialgerichte dürfen hinter diesem gerichtlichen Standard sorgfältiger Ermittlungen nicht zurückbleiben – zumal wenn es um so große streitgefangene Summen wie im vorliegenden Fall geht, bei dem die im Streit stehenden bzw. davon abhängenden – lebenslangen – Rentenleistungen ein erhebliches – und für den Kläger existenziell wichtiges - Volumen erreichen.

 

Auch insoweit gibt es entsprechende (von der BA. entwickelte und vom erkennenden Gericht übernommene) Vordrucke, die den Beteiligten an die Hand gegeben werden können und die sich ebenfalls schon in hunderten von Verfahren vor dem erkennenden Gericht bewährt haben, zumal sie den gerichtlichen Aufwand schlank halten und sonst drohende Doppelermittlungen vermeiden:

 

Vordruck Anforderung der Primärdokumentation von Ärzten, Therapeuten, Krankenhäusern, etc:

 

„in einem anhängigen Berufungsverfahren hat der für Ihren Patienten zuständige 13. Senat des Landessozialgerichts dazu aufgefordert, dass die vollständigen Patientenakten sämtlicher behandelnder Ärzte, Therapeuten und Kliniken eingereicht werden. Die Patientenakten umfassen mehr als nur die Befundberichte und Arztbriefe, sondern vielmehr die vollständige Behandlungsdokumentation, sämtliche Laborbefunde usw. In diesem Umfang liegen diese Unterlagen dem Gericht derzeit nicht vor. Die gerichtliche Auflage muss also dringend erfüllt werden, um den medizinischen Sachverhalt weiter aufzuklären.

 

Nach § 630 f. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist der Behandelnde verpflichtet, zum Zweck der Dokumentation eine Patientenakte in Papierform oder elektronisch zu führen. In der Patientenakte sind sämtliche wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen (insb. Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen und deren Ergebnisse, Befunde, Therapien etc.). Die Patientenakte ist für die Dauer von zehn Jahren nach Abschluss der Behandlung aufzubewahren. Jeder Patient hat gemäß § 630 g BGB das Recht auf Einsicht in die Patientenakten. Er kann auch eine elektronische Abschrift verlangen.

 

Zur Erfüllung der oben erwähnten gerichtlichen Auflage möchte ich Sie daher bitten, dass Sie mir die gesamte Patientendokumentation über mich in Kopie übergeben.

 

Kosten für die Kopien dürfen nicht verlangt werden. Dies ergibt sich aus Art. 15 Abs. 3 der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Kosten dürfen demnach nur für weitere Kopien beanspruch werden, nicht hingegen für die erstmalige Erstellung von Kopien. Für den Fall einer rein elektronischen Übermittlung der Patientenakte dürfen gar keine Kosten geltend gemacht werden.“

 

Das SG hat aber nicht nur seiner Pflicht zur vollständigen Anforderung der Fremdbefunde nicht genügt, sondern ist auch seiner gesetzlichen Aufgabe zur Anleitung der beiden von ihm beauftragten Sachverständigen nicht hinreichend nachgekommen. Es hätte nämlich sicherstellen müssen, dass diese ihre Aufgabe als medizinischer Sachverständige und die ihnen dabei gestellten Beweisfragen rechtlich korrekt verstehen. Denn nichts ist so teuer wie ein Sachverständigengutachten, das seinen Zweck der Aufklärung des Sachverhalts nicht erfüllt. In diesem Sinne „billige“ Gutachten kann sich die öffentliche Hand nicht leisten. Mit sorgfältiger Auswahl und Anleitung der Sachverständigen muss das Gericht vielmehr für eine optimale Ausführung des Gutachtenauftrages sorgen.

 

Das Mittel der Wahl hierzu ist nach dem Gesetz die Einweisung der Sachverständigen in einem gerichtlichen Termin unter Anwesenheit der Beteiligten gemäß § 404a Abs. 2 ZPO unter entsprechenden Vorgaben gemäß § 404a Abs. 3 ZPO jeweils in Verbindung mit § 118 Abs. 1 SGG.

 

Dabei hätte das SG den beiden Sachverständigen eingehend Folgendes erklären und erläutern müssen:

 

Die Aufgabe eines medizinischen Sachverständigen unterscheidet sich grundlegend von der sonst üblichen helfenden Rolle eines Arztes gegenüber einem Patienten. Der gerichtliche Sachverständige ist allein der Feststellung der empirischen Wahrheit verpflichtet. Er dient nur dem Gericht und nicht den Beteiligten. Wie ein Richter muss der Sachverständige strikt neutral sein. Bei der wissenschaftlichen Feststellung der in sein Fachgebiet fallenden Tatsachen geht es nicht um persönlichen Meinungen, sondern allein um objektive wissenschaftliche Messdaten. Subjektive Beschwerdeangaben eines Probanden reichen für einen Beweis vor Gericht nicht aus.

 

Ein lehrreiches Beispiel dazu ist der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 23.03.2017 -  2 WD 16.16 - zu einem Attest, das vorgelegt wurde, um die Reise- oder Verhandlungsunfähigkeit eines Soldaten zu belegen. Das BVerwG verwarf die entsprechende Behauptung und führte zur Begründung aus:

 

Zu seiner Reisefähigkeit für diesen Tag enthält das truppenärztliche Attest aber gar keine Aussage. Es macht auch eine Verhandlungsunfähigkeit für den Folgetag nicht glaubhaft. Denn es gibt zwar die Behauptungen des Soldaten wieder, unter welchen Krankheitssymptomen er gelitten habe, enthält aber gar keine Erläuterung dazu, wieso diese Behauptungen aus medizinischer Sicht plausibel seien. Vor allem fehlen tatsächliche Feststellungen zur genauen Art der Erkrankung und zum Umfang der von ihr ausgehenden körperlichen und geistigen Beeinträchtigung, auf deren Grundlage hinreichend sicher auf das Vorliegen einer Verhandlungsunfähigkeit geschlossen werden könnte (vgl. OLG Braunschweig, Beschluss vom 8. Januar 2014 - 1 Ws 380/13 - juris Rn. 7). Es enthält auch keine entsprechende Diagnose. Es gibt zwar wieder, welche Untersuchungen Oberstabsarzt A. durchgeführt hat, führt aber die Ergebnisse der Untersuchung nicht an. Das Attest führt selbst zutreffend aus, dass die Frage einer Verhandlungsfähigkeit eines Verfahrensbeteiligten durch das Gericht auf der Grundlage einer aussagekräftigen medizinischen Empfehlung festzustellen ist. Dieser Aussagekraft entbehrt es allerdings und ist daher nicht geeignet, dem Senat die medizinische Einschätzung plausibel zu machen.

 

Bei der Überprüfung subjektiver Beschwerde-Angaben ist dementsprechend - schon aus Rechtsgründen - immer von der sog. "Nullhypothese" auszugehen. Das heißt alle subjektiven Angaben einer vom Sachverständigen zu beurteilenden Auskunftsperson sind solange als unwahr anzusehen, bis denkgesetzlich ein objektiver Nachweis für ihre Richtigkeit vorliegt. Subjektive Beschwerdeschilderungen eines Menschen beweisen daher für sich genommen lediglich, dass der Betreffende sie (aus-) sprechen kann. Es geht für die Gutachten vielmehr um die wissenschaftliche Prüfung des geschilderten Beschwerdeinhalts.

 

Dazu hat der Sachverständige dazu Stellung zu nehmen, ob und aufgrund welcher objektivierbaren Fakten die von dem betreffenden Menschen geklagten Funktionsbeeinträchtigungen im geklagten Umfang auch tatsächlich bestehen. Diese Abklärung erfordert eine eingehende Konsistenzprüfung durch kritische Zusammenschau von Exploration, Untersuchungsbefunden, Verhaltensbeobachtung und Aktenlage. Niemals genügt allein die Beschwerdeschilderung eines Probanden, um hieraus eine Diagnose abzuleiten. Entscheidend ist vielmehr nur der vom Sachverständigen erhobene wissenschaftlich messbare sowie validierte Befund.

 

Das bedeutet allerdings nicht etwa, dass Krankheitsbilder bzw. Krankheitssymptome, die nur schwer bzw. gar nicht direkt messbar sind (zB Schmerz) für den Nachweis ausscheiden. Vielmehr ist hierbei – wie auch sonst bei der gerichtlichen Feststellung sog. innerer Tatsachen (zB Vorsatz) - auf sog. Hilfstatsachen bzw. Indizien abzustellen, die sich objektivierbar messen lassen (näher zum entsprechenden Vorgehen: Bender/Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht 5. Auflage 2021, Randnummern 621 ff – dieses Werk ist ohnehin jedem gerichtlichen Sachverständigen ans Herz zu legen, weil es allgemeinverständlich die Grundlagen der insoweit auch für medizinische Sachverständige maßgeblichen Beweislehre erläutert).

 

Dabei ist für die Feststellung von Gesundheitsstörungen auch für Ansprüche aus dem OEG erforderlich, einen Grad an überindividuell erklärbarer Richtigkeit zu belegen, bei dem – so die übereinstimmende Formulierung aller obersten Gerichte in Deutschland - kein vernünftiger Zweifel an der getroffenen Feststellung über den Krankheitszustand besteht. Eine dazu aus der ärztlichen Praxis allgemein bekannte Entsprechung gleichen Wahrscheinlichkeits- bzw. Sicherheitsgrades ist zB die Sicherheit der Feststellung der Blutgruppe, wie sie vor jeder Blutspende gefordert wird.

 

In jedem Falle jedoch muss für die sozialgerichtliche Beweiserhebung zu Krankheitszuständen von den international anerkannten Klassifizierungssystemen ausgegangen werden, d.h. von der Klassifizierung nach der sog. ICD-Verschlüsselung der Weltgesundheitsorganisation – WHO - (bzw. hinsichtlich der daraus folgenden Funktionseinschränkungen der ICF-Verschlüsselung der WHO) oder dem international anerkannten Manual der (amerikanischen) medizinischen Fachgesellschaften (DSM). Dies ist schon deswegen zwingend erforderlich, um eine Vergleichbarkeit und Einheitlichkeit der verwandten Begriffe und Begriffsbestimmungen zu gewährleisten. Das bedeutet, dass gerichtliche Gutachten vor den Sozialgerichten, die nicht die von der WHO anerkannte Klassifizierung der ICD bzw. ICF oder dem DSM zugrunde legen, nicht gerichtlich verwertbar sind.

 

Auch was die wissenschaftliche Methodik angeht, sind für die Beweiserhebung vor deutschen Sozialgerichten nur die in der Naturwissenschaft anerkannten, d.h. evidenzbasierten, empirischen und wissenschaftlich auf der rationalen Aufklärung beruhenden Methoden anzuerkennen. „Alternative“ Methoden, die sich der rationalen wissenschaftlichen Überprüfung entziehen, scheiden von vorneherein für eine gerichtliche Beweiserhebung aus, weil diese gemäß § 128 SGG immer vernunftgeleitet und von den Beteiligten sowie den höheren Instanzen überprüfbar sein muss. Dementsprechend sind vor und für Sozialgerichte auch nur solche Sachverständige zuzulassen, die uneingeschränkt auf dem Boden der wissenschaftlichen evidenzbasierten Schulmedizin stehen und die mit den in dieser Schulmedizin wissenschaftlich anerkannten Methoden arbeiten sowie ihre Ergebnisse transparent im wissenschaftlichen Diskurs nachprüfbar zur Diskussion stellen.

 

Wie später auch das Gericht so kann und muss auch der Sachverständige dabei in medizinischen Gutachten von bestimmten Grundannahmen und Beweiswürdigungs- bzw. Vermutungsregeln ausgehen, die aufgrund der geltenden Rechtsordnung sowie aufgrund allgemeiner Erkenntnisse als Erfahrungssätze zugrunde gelegt werden müssen.

 

Die wichtigste Grundannahme ist dabei die, dass Gesundheit als Regelzustand eines Menschen vermutet und Krankheit als Ausnahmezustand nur bei Vorliegen entsprechender nachprüfbarer Beweise angenommen werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die alters- und geschlechtsentsprechende Konstitution von Menschen eine erhebliche Band- und Streubreite aufweist, so dass nur Zustände, die sich jenseits der natürlichen Band- bzw. Streubreite befinden, als fraglich krank angesehen werden können. Regelhafte Zustände, die mit dem Veränderungsprozess des menschlichen Körpers von der Geburt bis zum Tod sowie wie mit natürlichen Veränderungsprozessen des menschlichen Körpers bzw. der menschlichen Seele zusammenhängen und die sich noch innerhalb der o.g. Streubreite bewegen, gelten daher grundsätzlich nicht als Krankheit im Sinne des Sozialrechts

 

Eine weitere wichtige zentrale Vermutungsregel im medizinischen Gutachten für Sozialgerichte besteht darin, dass grundsätzlich davon auszugehen ist, dass eine Krankheit nur dann angenommen werden kann, wenn sich im klinischen Bild Hinweise für einen entsprechenden Leidensdruck ergeben. Es gilt die generelle Vermutung, dass es keine Krankheit ohne Leid gibt, so dass bei Abwesenheit von Anzeichen für einen Leidensdruck vom Fehlen einer Erkrankung ausgegangen werden muss. Wichtigstes Indiz für den Leidensdruck ist die Inanspruchnahme fachlicher medizinischer Hilfe im gebotenen Umfang.

 

Nur in Ausnahmefällen und auch dort nur bei hinreichend sicheren Nachweisen kann eine klinisch stumme Erkrankung als sicher gegeben zugrunde gelegt werden. Ebenso wie in diesen Fällen ist auch bei einem Arbeiten auf Kosten der Gesundheit im Einzelnen anhand messbarer Daten nachzuweisen, dass eine Erkrankung tatsächlich vorlag aber nicht erkannt und nicht leidensgerecht behandelt wurde. Ansonsten gilt die Vermutung, dass bei Nichtausschöpfen der vom Gesundheitswesen angebotenen Behandlungsmöglichkeiten kein hinreichender Nachweis für einen der Krankheit entsprechenden Leidensdruck vorliegt. Insofern ist auch das Fehlen von therapeutischen Maßnahmen ein Beweiszeichen für das Fehlen einer Erkrankung. Auch von diesem Grundsatz gibt es in bestimmten Fällen Ausnahmen, nämlich insbesondere dann, wenn die Nicht-Inanspruchnahme therapeutischer Hilfen Teil des Krankheitsbildes ist. Allerdings muss dann in diesen Fällen aufgrund anderer Umstände der Nachweis für die Erkrankung objektivierbar geführt werden. Die bloß theoretische Möglichkeit, dass ein solcher Fall vorliegen könnte reicht zum Nachweis nicht aus.

 

Bei der Würdigung von Fremdbefunden ist regelmäßig davon auszugehen, dass ausschließlich das Dokumentierte auch tatsächlich durchgeführt wurde. Bei lückenhafter Dokumentation bedeutet dies grundsätzlich, dass nur die Teile berücksichtigt werden können, die ausdrücklich dokumentiert worden sind.

 

Diese Beweisregel kann im Einzelfall allerdings erschüttert werden, wenn festgestellt werden kann, dass die entsprechenden Maßnahmen trotz unvollständiger Dokumentation real durchgeführt wurden. Eine solche Feststellung ist aber regelmäßig Aufgabe des erkennenden Gerichts, das dazu in aller Regel die entsprechenden Lücken der Dokumentation durch Zeugenvernehmung der Therapeuten aufklären bzw. schließen muss. Der medizinische Sachverständige darf und muss eine medizinische Dokumentation ausschließlich medizinisch bewerten. Das aber bedeutet, dass er fremde Diagnosen nicht ohne eigene Prüfung übernehmen darf. In der entsprechenden Analyse muss der Sachverständige genau herausarbeiten, ob die betreffende Diagnose leitliniengerecht und gesichert gestellt wurde, oder ob es sich eine lediglich auf anamnestischen Eigenangaben des Patienten beruhende Verdachtsdiagnose handelte. Letztere hat nur dann einen gesichert(eren) Beweiswert, wenn sich ihre Richtigkeit im späteren Behandlungsverlauf herausgestellt haben sollte („Wer heilt hat recht“).

 

Bei alledem muss der medizinische Sachverständige in seinem Gutachten die Grenzen seiner Fachkompetenz wahren und darf daher nie Ausführungen jenseits davon machen – insbesondere Rechtsausführungen und aussagepsychologische Bewertungen sind einem Mediziner strikt verboten. Das heißt allerdings nicht, dass Aussagen nicht zu würdigen seien – nur eben strikt beschränkt auf die Frage, ob das Ausgesagte medizinisch glaubhaft ist oder nicht, d.h. ob es sich mit den Erkenntnissen der Medizin generell und den Befunden im konkreten Fall erläutern lässt, ggf. mit welchem Gewissheitsgrad.

 

Bei der abschließenden medizinischen Beurteilung (sog. Epikrise) sind nach alledem immer folgende zwei Leitfragen zur Berücksichtigung zugrunde zu legen:

 

Erstens: Sind die beklagten Erkrankungen und Funktionsstörungen ohne vernünftige Zweifel nachweisbar (Konsistenzprüfung)? 

 

und

 

Zweitens: Sind die Schilderungen von Krankheiten und Funktionsstörungen sowie ihrer Entwicklung bzw. Verursachung auch alternativ erklärbar, ggf. mit welcher wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeit bzw. Sicherheit (Alternativprüfung)?.

 

Bei der wissenschaftlich und rechtlich immer gebotenen ausdrücklichen Alternativprüfung muss drittens immer dazu Stellung genommen werden, ob eine willentliche Steuerung der geklagten Beschwerden und Beeinträchtigung in Betracht kommt. Hierbei geht es um die folgenden immer in Betracht zu ziehenden (Selbst-bzw. Fremd-) Täuschungsphänomene Simulation, Aggravation oder Dissimulation.

 

Simulation ist das bewusste und ausschließliche Vortäuschen einer Gesundheitsstörung zu bestimmten, klar erkennbaren Zwecken.

 

Aggravation ist die bewusste, verschlimmernde bzw. übertreibende Darstellung einer Gesundheitsstörung zu erkennbaren Zwecken.

 

Dissimulation beschreibt das absichtliche Herunterspielen bzw. das Verbergen von Krankheitsanzeichen um für gesund gehalten zu werden.

 

Verdeutlichungstendenzen sind dem gegenüber legitime Bemühungen einer Probandin / eines Probanden, der Gutachterin oder dem Gutachter das Krankheitsempfinden klarzumachen.

 

Aspekte, die bei einem medizinischen Gutachten in die Abwägung einbezogen werden müssen, sind dabei insbesondere:

 

a) Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem Verhalten des Betroffenen in der Untersuchung und subjektiver Beschwerdeschilderung.

b) Die subjektiv geschilderte Intensität der Beschwerden steht im Missverhältnis zur Vagheit der Schilderung der einzelnen Symptome.

c) Angaben zum Krankheitsverlauf sind wenig oder gar nicht präzisierbar.

d) Das Ausmaß der geschilderten Beschwerden steht nicht in Übereinstimmung mit einer entsprechenden Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe.

e) Ungeachtet der Angabe schwerer subjektiver Beeinträchtigungen erweist sich die Alltagsbewältigung des Betroffenen als weitgehend intakt.

f). Die Angaben des Probanden weichen erheblich von fremdanamnestischen Informationen und der Aktenlage ab.

 

Gerade die Frage des Vorliegens und des Verlaufs von Suchterkrankungen, um die es im vorliegenden Fall zentral geht, ist dabei eine besonders täuschungsanfällige Diagnose. Denn es liegt in der Natur dieser Erkrankungen, dass die Betroffenen aus Scham oder aus Furcht vor den Konsequenzen einer Aufdeckung ihrer Erkrankung versuchen sich und anderen etwas zu verbergen oder sogar vorzumachen. Das führt nicht selten dazu, dass auch Angaben der Probanden gegenüber medizinischen Behandlern nicht zuverlässig sind. Auch das ist im Übrigen ein allgemeiner Erfahrungssatz, den jeder Sachverständige bei der Beurteilung von Suchterkrankungen in Rechnung ziehen muss – ebenso wie später die Gerichte, die deren Gutachten auswerten. Auf den Abgleich der in den Akten enthaltenen Angaben mit den Wahrnehmungen des sozialen Umfelds sowie auf objektive Messdaten von süchtig machenden Substanzen im Körper (bzw. von deren Abbauprodukten) kann für ein Gutachten daher in der Regel nicht verzichtet werden.

 

Das Vorliegen dieser Erkrankungen muss in jedem Fall vor Gericht besonders kritisch überprüft werden. Gefordert ist im Ergebnis immer eine eingehende sozialmedizinische Epikrise: Sie ist eine zusammenfassende und kritische Interpretation der Krankengeschichte und der veranlassten Therapie. Diese sozialmedizinische Epikrise muss alle wichtigen Angaben zur Vorgeschichte und Beschwerdeschilderung, zum Verlauf, zu den erhobenen Befunden und zu den endgültig festgestellten Krankheiten bzw. Diagnosen sowie zu den möglichen Differentialdiagnosen, zur empfohlenen Therapie und/oder Medikation, zur Heilung oder Linderung der Krankheit sowie auch zur Prognose enthalten. Sozialmedizinisch muss der Mensch, der aus Leib und Seele besteht, dabei unter Mitberücksichtigung der Gesamtpersönlichkeit in Längsschnittbetrachtung von Biographie und Lebenssituation betrachtet werden.

 

Zur wissenschaftlichen Redlichkeit jedes Gutachtens gehört dabei aber auch, die jeweiligen Messgenauigkeiten der verwandten Messmethoden sowie ihren jeweiligen Messfehler offenzulegen. Das bedeutet, dass zu jeder angewandten Methode anhand der dazu wissenschaftlich veröffentlichten Daten anzugeben ist, in wie vielen Fällen falsch positive bzw. falsch negative Ergebnisse gemessen werden.

 

Es gibt schließlich schon denkgesetzlich keine Messung ohne Messfehler. Das gilt sowohl hinsichtlich des Messinstruments, des Messvorgangs einschließlich der messenden Person sowie schließlich hinsichtlich der gemessenen Probe bzw. der untersuchten Person: Auf jeder dieser Ebenen kommt es immer zwingend zu Messfehlern. Je nach Qualität der Messinstrumente- und Verfahren, nach dem Ausbildungsstand der Messpersonen und der Konstitution und Mitarbeit der untersuchten Personen sind diese Messfehler größer oder kleiner. Ganz vermeiden lassen sie sich nie. Dieses Maß unvermeidlicher Messfehler ist daher auch in medizinischen Gutachten für Gerichte immer offen zu legen und bei jeder Messung durch entsprechenden Sicherheitszuschlag zu berücksichtigenden (Beispiel bei der in orthopädischen Gutachten zugrunde gelegten Neutral-Null-Methode: plus/minus 10 Grad Winkelabweichung).

 

Zudem ist jedes Messverfahren regelmäßig immer nur auf eine spezifische Frage zugeschnitten und für andere Fragestellungen daher sinnlos oder sogar irreführend. In der Sprache der Medizin wird dies mit dem Maß dafür ausgedrückt, wie sensitiv bzw. wie spezifisch die jeweilige Messmethode für eine in Betracht gezogene Erkrankung ist.

 

Schließlich müssen medizinische Messwerte immer mit Blick auf die sogenannte Prävalenz, dh die Normalverteilung des Messwerts in der gesunden Durchschnittsbevölkerung gewichtet und interpretiert werden. Denn sonst kommt es durch die o.g. unvermeidlichen Messfehler - ebenso unvermeidlich - zur Fehlinterpretation der Messwerte und zu medizinischen Fehlurteilen. Diese allgemeinen Aussagen zur (Nicht-)Eignung und zur relevanten Validität der jeweiligen Messverfahren der Medizin sind auch keine allgemein bekannten Tatsachen, die ein Gericht ohne sachverständige Hilfe einordnen kann oder darf – ganz gleich wie viel tatrichterliche Erfahrung ein Richter in medizinischen Fragen haben mag.

 

Bei allen Begutachtungen, bei denen es um eine retrospektive Analyse geht, hat der Sachverständige zudem zu bedenken, dass nicht der Befund zum Untersuchungszeitpunkt ausschlaggebend ist. Vielmehr besteht seine Aufgabe darin, aufgrund aller erreichbaren Informationen retrospektiv eine möglichst sichere Diagnose für den zu beurteilenden Zeitraum zu stellen. Bei allen Begutachtungen, die prognostische Überlegungen beinhalten, muss anhand der zum Untersuchungszeitpunkt erhobenen Befunde umgekehrt eine möglichst sichere Prognose für die Zukunft erstellt werden.

 

Bei der abschließenden sozialmedizinischen Beantwortung der Beweisfragen ist ferner auf die Frage einzugehen, ob alternativ zu medizinischen Ursachen auch andere, z. B. im sozialen Bereich oder in der Beziehungswelt liegende Ursachen für die geklagten Beschwerden in Frage kommen. Darüber hinaus ist abzuklären, ob Erkrankungen vorliegen, welche noch behandelbar sind und ggf. durch welche Therapien und / oder therapeutischen Maßnahmen und / oder Hilfsmittel sowie ob bzw. mit welchem genauen Ergebnis. D. h. es ist immer auch zu prüfen, ob die von der gesetzlichen Krankenversicherung für die betroffenen Leiden vorgesehenen Behandlungsmöglichkeiten und/oder Hilfsmittel innerhalb von sechs Monaten bei motivierter Mitwirkung eines betroffenen Patienten zu einer Heilung oder Linderung des betreffenden Leidens führen können. Für den Fall, dass sich eine solche Heilung oder Linderung allgemein nicht sicher ausschließen lässt, liegt - unabhängig von der Motivation des konkret untersuchten Klägers - ein sogenanntes Behandlungsleiden vor, das für die Feststellung eines sozialmedizinischen Dauerzustandes grundsätzlich außer Betracht bleiben muss. Nur dann also, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass der Zustand des Betroffenen auch bei optimaler Therapie unveränderbar ist, darf er als Dauerzustand bewertet werden.

 

Es ist schließlich darzulegen, ob bzw. inwieweit die getroffenen Aussagen auch dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zutreffen, falls den Eigenangaben des Betroffenen nicht gefolgt werden kann. Denn auch insoweit ist die Beurteilung der Glaubwürdigkeit allein Sache des erkennenden Gerichts. Dem gegenüber ist es Aufgabe von sachverständigen Gutachtern, sich allein auf evidenzbasierte, d. h. wissenschaftliche vor Gericht anerkannte Messergebnisse zu stützen.

 

Sofern keine sichere Diagnose gestellt und/oder die Beweisfragen des Gerichts nicht sicher beantwortet werden können, ist darzulegen, ob sich die gestellte Beweisfrage des Gerichts anhand ergänzender weiterreichender Untersuchungsverfahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beantworten lässt, z. B. durch stationäre Beobachtung. Sollte dies aber nach dem heutigen Stand der medizinischen Erkenntnisse schlechthin unmöglich sein, so ist auch dies unter der genauen Angabe der Gründe darzulegen.

 

Der medizinische Sachverständige hat sich stets bewusst zu sein, dass auch eine solche Antwort im Sinne einer Nicht-Beantwortbarkeit der gerichtlichen Beweisfragen legitim – und sogar geboten sein kann, wenn die medizinische Wissenschaft nach heutigem Stand eben (noch) keine seriöse Antwort mit dem vom Gericht erfragten Gewissheitsgrad erlaubt. In einer solchen Antwort liegt im Übrigen für ein Gericht kein rechtliches Problem, weil durch die rechtlichen Regeln der (materiellen) Beweislast am Ende jede Frage vor einem Gericht rechtlich für den Urteilsspruch nach den Beweislastregeln entscheidbar ist. Der Sachverständige muss sich mit seinen Antworten daher immer auf dem wissenschaftlich fundierten Gebiet bewegen und darf nie jenseits davon Vermutungen anstellen. Auch nach persönlichen Meinungen oder Einschätzungen ist ein naturwissenschaftlicher Sachverständiger vor Gericht nie gefragt, sondern einzig und allein nach empirischen Messungen und naturwissenschaftlichen Wahrscheinlichkeitsgraden.

 

4. Diesen grundlegenden Anforderungen an ein medizinisches Sachverständigengutachten genügt das neurologisch-psychiatrische Gutachten von Frau L. nicht – und das hätte das SG auch erkennen können und müssen.

 

Insoweit wird auf das ausführliche und uneingeschränkt zutreffende Berufungsvorbringen der vom Kläger bevollmächtigten SQ. GmbH sowie auf das hieraufhin eingeholte Sachverständigengutachten von Frau S. Bezug genommen. Beides macht sich das erkennende Gericht in vollem Umfang zu eigen. Die Bevollmächtigten des Klägers haben substantiiert auf die Mängel des Gutachtens von Frau L. hingewiesen. Frau S. hat darauf aufbauend mustergültig und überzeugend herausgearbeitet, dass und warum das Gutachten von Frau Dr.OA. den (Mindest-) Anforderungen an ein wissenschaftliches medizinisches Gutachten nach den VMG nicht entspricht. Diese Mängel sind gravierend und springen unmittelbar auch für jeden medizinischen Laien erkennbar ins Auge:

 

Schon dass sich Frau L. auf die anamnestischen – und noch dazu in sich widersprüchlichen - Angaben des Klägers über dessen Drogenkonsum und seinen Tagesablauf stützte, wobei sie diese Angaben für ihr Gutachten ohne entsprechende gerichtliche Anordnung als wahr unterstellte, ist nämlich ein schwerer Fehler. Denn bei den Feststellungen hinsichtlich eines Jahre zurückliegenden Drogenkonsums und hinsichtlich des damaligen Tagesablaufs eines Probanden handelt es sich um nicht-medizinische Anknüpfungstatsachen (ebenso hinsichtlich des gegenwärtigen Tagesablaufs eines Probanden). Es gibt für die Frage, ob die entsprechenden Angaben richtig oder falsch sind, schließlich kein medizinisches Messinstrument oder Messverfahren. Denn selbst die modernsten Messmethoden von Suchtmitteln und ihren Abbauprodukten reichen im Regelfall nicht Jahre zurück.

 

Vielmehr muss die Überprüfung der entsprechenden Angaben durch richterliche Beweiswürdigung erfolgen (näher dazu Bender/Häcker/Schwerz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 5.Auflage, 2021, Randnummern 585 ff). Eine Medizinerin ist aber kein Richter. Eine Ärztin darf nie richterliche Aufgaben wahrnehmen und selbst nicht-medizinische Tatsachen ermitteln oder ohne entsprechende ausdrückliche richterliche Anordnung derartige Angaben als sicher annehmen. Das muss vielmehr immer das Gericht selbst tun und hierzu den nicht-medizinischen Sachverhalt feststellen. Nur wenn das SG der Sachverständigen auf dieser Basis ausdrücklich die nicht-medizinischen Tatsachen als Anknüpfungstatsachen vorgegeben (oder mindestens deren Wahr-Unterstellung aufgegeben) hätte, hätte die Sachverständige ihr Gutachten auf dieser Basis erstatten dürfen. Sie hätte daher nach der Erhebung der Anamnese und Untersuchung des Klägers um richterliche Klärung ersuchen müssen, wie mit dessen Angaben zum Tageablauf zu verfahren sei – so wie es das übliche gerichtliche Übersendungsschreiben der Akten und zum Drogenkonsum ausdrücklich anordnet.

 

Des Weiteren ist es ein erheblicher – und die Verwertbarkeit des Gutachtens erkennbar einschränkender – Mangel, dass Frau L. die Erhebung der o.g. Anamnese nicht vollständig dokumentiert hat. Sie hat weder die Antworten des Klägers noch ihre eigenen Fragen im Wortlaut aufgezeichnet noch konnte sie dies nachträglich ergänzen. Das aber macht eine Überprüfung ihres Vorgehens durch das erkennende Gericht und nachfolgende Instanzen wie auch für die Beteiligten unmöglich (vgl. zur entsprechenden Anforderung an ein gerichtliches Protokoll einer Zeugenvernehmung: Treuer/Schönberg/Treuer, Leitfaden zur Zeugenvernehmung, 2010, Seiten 52 und 53, sowie Bender/Häcker/Sxchwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 5. Auflage 2021, Randnummern 1647 ff).

 

Noch schwerer wiegt der von Frau L. – sogar in voller Absicht - begangene-  Fehler, dass sie die eigens für das Gutachten angeforderte Patientendokumentation des den Kläger langjährig behandelnden Psychiaters P. nicht abwartete, sondern ihr Gutachten ohne dessen Berücksichtigung abschloss. Nur unter sorgfältiger Auswertung dieser Unterlagen wäre ein seriöses Gutachten aber überhaupt möglich gewesen. Das musste Frau L. als Psychiaterin eigentlich auch klar sein. Für das SG war dieser Fehler auch offensichtlich, denn Frau L. hat diesen Punkt ausdrücklich in ihrem Gutachten eingeräumt.

 

Auch der eigene neurologisch-psychiatrische Befund, den Frau L. selbst erhoben hat, ist unvollständig und zum Teil gerichtlich unverwertbar. Ganz generell gilt nämlich für das psychiatrische Gutachten nach dem Stand der einschlägigen Leitlinien (AWMF-Register Nummer 051-029 überarbeitete Fassung von 12/2019), das bei der gutachterlichen Untersuchung bei psychischen und psychosomatischen Störungen eine Beschwerdevalidierung grundsätzlich dazu gehört. Das kann aber nur durch validierte Testverfahren geschehen, deren Funktion für Gericht und Beteiligte nachvollziehbar erklärt und die lege artis angewandt werden.

 

Stattdessen finden sich im Gutachten von L. eine Vielzahl von Untersuchungen des neurologisch- psychiatrischen Fachgebiets, deren Bedeutung für die gerichtlichen Beweisfragen sie aber weder erklärt noch hinsichtlich ihrer Messgenauigkeit, Belastbarkeit und Fälschungssicherheit für das Gericht und die Beteiligten hinreichend erläutert. Die Vielzahl dieser Testungen erzeugt dabei auf den ersten Blick zwar den Anschein großer wissenschaftlicher Genauigkeit. Es ist aber zu berücksichtigen, dass diese Testverfahren im Wesentlichen nur auf gutachterlich unüberprüfbaren Eigenangaben des Probanden beruhen und damit keine fälschungssicheren Aussagen erlauben.

 

Das gilt auch für die von Frau L. verwendeten Testungen. Die insofern im Gutachten von Frau L. widergegebenen Erläuterungen enthalten nämlich keine Daten zur Messgenauigkeit, Belastbarkeit und Fälschungssicherheit dieser Tests. Das aber wäre nach dem allgemeinen Prinzip jeder wissenschaftlich redlichen Vorgehensweise zwingend erforderlich gewesen, um das Gericht in die Lage zu versetzen, sich auf der Grundlage des Gutachtens ein eigenes Urteil zu bilden. Die allgemeinen Ermittlungen des erkennenden Gerichts zu Qualitätsanforderungen sozialmedizinischer Gutachten, auf die insofern Bezug genommen wird, haben insofern ergeben, dass der Messfehler der o.g. Messverfahren erheblich ist und ihre Ergebnisse daher oft nur eine Scheingenauigkeit vorspiegeln.

 

Dabei sind gerade bei psychologischen Tests, die allein oder überwiegend auf Eigenangaben der Probanden beruhen, noch über die Frage der Messgenauigkeit hinaus weitere zusätzliche Bedingungen wichtig. Zum einen nämlich muss die Sachverständige dem Gericht das jeweilige Messverfahren (also insbesondere die dabei verwandten Fragen) so genau erklären, dass das Gericht selbst überprüfen kann, ob bei dem jeweiligen Test die fundamentalen rechtsstaatlichen Regeln beachtet werden, also insbesondere keine Suggestivfragen verwandt werden. Diese machen die Ergebnisse derartiger Test nämlich sonst uU unverwertbar (vgl. näher Bender/Hächer/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht 5. Auflage 2021, Randnummern 1008 ff).

 

Zum anderen muss auch (und gerade) eine medizinische Sachverständige, die psychologische Testungen verwendet (und dabei wie Frau L. als Neurologin und Psychiaterin über keine gerichtsbekannte psychologische Zusatzqualifikation verfügt) nachprüfbar dokumentieren und in seinem Gutachten für das Gericht und für die Beteiligten erläutern, ob die von den Entwicklern der jeweiligen Tests definierten Voraussetzungen der Testung nach den Maßstäben der psychologischen Wissenschaft von ihm genau eingehalten wurden, also z.B. die bestimmungsgemäßen Zeitvorgaben sowie Maßnahmen zum Schutz der Testung vor einer Beeinflussung durch Dritte, ferner Vorgaben für die  Ausbildung bzgl. der testenden Person und schließlich die Vorgaben für die wissenschaftlich korrekte Auswertung sowie Einordnung der Messergebnisse lege artis.

 

Die allgemeine Approbation als Ärztin bzw. die Qualifikation als Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie reicht dazu für psychologische Testungen in Gerichtsgutachten nämlich nicht aus (ebenso wenig wie ein allgemeiner psychologischer Studienabschluss). Vielmehr bedarf es für den Einsatz psychologischer Testungen zu Zwecken gerichtlicher Gutachten insoweit einer nachgewiesenen Qualifikation in forensischer Psychologie. Das hat die Sachverständige P. in den allgemeinen Ermittlungen des erkennenden Gerichts zu Qualitätsanforderungen für sozialmedizinische Gutachten überzeugend dargelegt. Auf ihre Ausführungen wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen.

 

Entsprechende Angeben fehlen im Gutachten von Frau L. bezüglich sämtlicher von ihr verwandten Testmethoden und auch zu ihrer eigenen Person. Sie hat das i.Ü. auch im Berufungsverfahren trotz ausdrücklicher Nachfrage des erkennenden Gerichts nicht ergänzt. Ihr Gutachten ist daher auch insoweit weder nachvollziehbar noch verwertbar.

 

Schließlich hätte Frau L. angesichts der zu klärenden Frage des Bestehens und Verlaufs einer Suchterkrankung beim Kläger unter allen Umständen wenigstens die heutige Drogenbelastung des Klägers durch objektive Messungen der Konzentrationen von Suchtmitteln und deren Abbauprodukten in Blut, Urin und ggf. auch in den Haaren des Klägers nachprüfen müssen. Nur anhand dessen wäre zu klären gewesen, ob und ggf. welche Suchtmittel der Kläger ggf. heute und u.U. auch (soweit die Messungen technisch zurückreichen) seit wann in welchen Konzentrationen einnimmt. Ohne derartige Messungen ist ein Gutachten zu dieser Fragestellung wissenschaftlich wertlos.

 

Das alles konnte und musste auch das SG erkennen. Denn gerade Suchterkrankungen sind dadurch gekennzeichnet, dass Betroffene versuchen, sie vor sich selbst und anderen zu verbergen (Dissimulation) – sei es aus Scham, sei es aus nachvollziehbarer Angst vor den sonst eintretenden Konsequenzen (z.B. Fahrverbot, Arbeitsplatzverlust). Nicht nur für verkehrsmedizinische Gutachten, sondern auch für sozialmedizinische Fragestellungen ist daher, wie oben gezeigt, erst durch die genaue Analyse von objektiven Messwerten eine seriöse Begutachtung möglich.

 

Das Phänomen der Dissimulation bei Suchterkrankungen ist ein allgemeiner und gerichtsbekannter Erfahrungssatz, der zu diesen Krankheitsbildern gehört und der auch für den Kläger gilt. Dieser Erfahrungssatz ist erst recht bei einer Psychiaterin wie Frau L. als bekannt vorauszusetzen. Umso unverständlicher ist es, dass sie auf solche Messungen verzichtet hat und das SG nicht um die Erhebung der Fremdanamnese mindestens durch Zeugenvernehmung der Ehefrau des Klägers ersuchte. Dabei müsste Frau L. als erfahrene Psychiaterin eigentlich wissen, dass gerade bei der Begutachtung von Suchterkrankungen eine solche Fremdanamnese der nächsten Angehörigen unverzichtbar ist, weil sich eine Suchtkrankheit mit ihren gravierenden Folgen praktisch nie auf Dauer vor den nächsten Angehörigen verbergen lässt.

 

Auch dem SG hätte – eigentlich von Anfang an – klar sein müssen, dass diese extrem komplexe medizinische Fragestellung des Umfangs und genauen Verlaufs der Suchterkrankung des Klägers ohne diese Messungen sowie ohne die gesamte Krankheitsgeschichte des Klägers und insbesondere ohne die Primärdokumentation aller Therapien und stationären Behandlungen unmöglich seriös zu beantworten ist, ebenso wenig wie ohne Anhörung von ihm selbst und seines persönlichen Umfeldes.

 

Spätestens aber bei Eingang des Gutachtens von Frau L. hätte das SG all das erkennen und Abhilfe schaffen müssen. Wie dargelegt, hätte es dazu ergänzend Befunde und Akten beiziehen und den Kläger sowie (mindestens) dessen Ehefrau als Auskunftsperson bzw. als Zeugin anhören müssen. Das gilt im Minimum sowohl zum Umfang des seit dem 27.03.2020 bestehenden Alkohol- und Medikamentenkonsums des Klägers als auch zu den vom Kläger geltend gemachten Einschränkungen im täglichen Leben, weil sich nur so die für die Höhe des GdB streitentscheidende Frage nach dem Ausmaß der Suchterkrankung und der daraus folgenden Teilhabe-Einschränkung beurteilen lässt – zumal die Bildung des Gesamt-GdB, wie das SG insofern zutreffend betont, – am Ende eine richterliche und keine medizinische Aufgabe ist. Schließlich sind auch die Feststellungen über den Jahren zurück liegenden Suchtmittelkonsum und den damaligen Tagesablauf des Klägers Anknüpfungstatsachen, für die es kein in Frage kommendes rückwirkendes medizinisches Messinstrument gibt.

 

Schon deswegen hätte das SG für richterliche Aufklärung in Form einer Befragung des Klägers und von Zeugen aus seinem persönlichen Umfeld sowie sodann für Ergänzung des mangelhaften Gutachtens durch Frau L. oder – besser – für ein neues wissenschaftlich verwertbares Gutachten sorgen müssen.

 

Dass die Beteiligten dazu erstinstanzlich noch keinen Beweisantrag stellten (den die Bevollmächtigten des Klägers nun in der zweiten Instanz formgerecht nachgeholt haben), ist i.Ü. keine Rechtfertigung dafür, dass das SG von dieser sich aufdrängenden Möglichkeit der Beweiserhebung absah. Denn das SG hat den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und ist dabei an Beweisanträge der Beteiligten gemäß § 103 S. 2 SGG nicht gebunden. Schließlich dient die Amtsermittlung im sozialgerichtlichen Verfahrens nicht zuletzt auch den Interessen der Allgemeinheit an einem korrekten Sozialrechtsvollzug Da sich das SG aber stattdessen im Wesentlichen allein auf das lückenhafte und qualitativ unzureichende Gutachtern von Frau L. stützte, das es sich in vollem Umfang zu eigen machte (was nur bei einem perfekten Gutachten rechtlich nicht zu beanstanden ist), muss sich das SG auch alle Mängel des Gutachtens von Frau L. zurechnen lassen.

 

Dabei war auf der Grundlage des Gutachtens von Frau L. nach den überzeugenden Darlegungen von Frau S., die sich das erkennende Gericht in vollem Umfang zu eigen macht, eine gerichtliche Entscheidung nicht zu verantworten.

 

Auch das orthopädische Zusatz-Gutachten von Y. hilft insofern nicht weiter. Denn es ist naturgemäß auf das rein somatische Gebiet beschränkt und leidet i.Ü. – wie von den Bevollmächtigten des Klägers zutreffend hervorgehoben – an erheblichen Qualitätsmängeln Über die von den Klägerbevollmächtigten geltend gemachten Punkte hinaus ist aber vor allem zu bemängeln, dass das Gutachten von Y. hinsichtlich der vorgeschlagenen Einzel-GdB in sich widersprüchlich ist. Er schlägt nämlich bzgl. der Funktionssysteme obere bzw. untere Gliedmaßen jeweils einen Einzel-GdB von 20 vor, schreibt aber dazu jeweils ausdrücklich dass dieser Wert „als nicht voll erfüllt anzusehen ist“. Da die GdB-Bewertung aber nun einmal nur in 10-Schritten vorgenommen werden darf, würde das bedeuten, dass der Wert von 20 eben nicht erfüllt ist, so dass der jeweilige Einzel-GdB bei 10 läge. Was Y. nun wirklich meint, ist unklar. Dennoch hat Frau L. die von ihm genannten 20-er Werte mit der obigen Formulierung, sie seien „als nicht voll erfüllt anzusehen“, wörtlich übernommen (ohne sich i.Ü. mit etwaigen Überschneidungen oder Verstärkungen zwischen den einzelnen orthopädischen und den psychiatrischen Leiden des Klägers auch nur ansatzweise auseinander zu setzen). Das gleiche gilt für das SG, das sich diese Widersprüchlichkeit der von ihm eingeholten und für den Gerichtsbescheid uneingeschränkt zugrunde gelegten Gutachten daher zurechnen lassen muss.

 

Schließlich durfte das SG den Kläger nicht entgegen des Gebots aus § 105 SGG, der einen Gerichtsbescheid ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter nur bei geklärtem Sachverhalt und Sachen ohne besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten zulässt, seinen gesetzlichen Richtern i.S.d. Art 101 Grundgesetz entziehen. Denn gerade die besondere Lebenserfahrung der ehrenamtlichen Richter, die sich in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts insbesondere aus dem Verfahren ihrer Berufung gemäß § 13 SGG in Verbindung mit § 14 Abs. 3 SGG ergibt, hätte die oben dargelegten Fehler in der Beweiserhebung- und Würdigung, die dem SG anzulasten sind, gewiss verhindert – wenn sie denn vom SG beteiligt worden wären.

 

II. Die aufgezeigten Verfahrensmängel sind wesentlich. Es kann auch vom erkennenden Gericht nicht ohne weitere Beweiserhebung in der Sache entschieden werden.

 

Denn wie oben dargelegt, ist das Gutachten von Frau L. für derartige Feststellungen keine tragfähige Grundlage. Das gilt auch für die ergänzende Stellungnahme von Frau L. die das erkennende Gericht im Berufungsverfahren von ihr eingeholt hat. Denn auch darin ist Frau L. nicht seriös auf die Komplexität der hiesigen Beweisfragen eingegangen, ebenso wenig wie auf Qualitäts-Erfordernisse, die sich für ihre Begutachtung nach den o.g. Kriterien ergeben. Vielmehr hat Frau L. lediglich auf den Abschlussbericht der zwischenzeitlichen stationären Behandlung des Klägers Bezug genommen und darauf aufbauend ihre Einschätzung nochmals bekräftigt. Sie den stationären Verlauf gar nicht im Detail gewürdigt und insbesondere nicht die dort erhobenen Befunde kritisch analysiert. Insbesondere mit der hier im Raum stehenden Problematik der Dissimulation und den ggf. für einen Alkohol- und Drogenkonsum in Betracht kommenden objektiven Messwerten hat sie sich aber gar nicht auseinandergesetzt, ebenso wenig wie mit dem erforderlichen Abgleich der Angaben mit den Beobachtungen des sozialen Umfelds des Klägers. Obwohl ihr dabei das Gutachten von E. vorlag, ist Frau L. der streitentscheidenden Frage damit nicht gerecht geworden.

Auch in den Verwaltungsakten findet sich zur medizinischen Beweislage nichts Verwertbares, weil der Beklagte für seine Entscheidungsfindung ebenfalls kein Gutachten eingeholt hat, sondern sich auf die Auswertung von Befundberichten beschränkte. Das aber ist, wie oben gezeigt, angesichts des komplexen Krankheitsbildes des Klägers nicht ausreichend.

Rechtlich ist für die Ermittlungen nämlich von Folgendem auszugehen: Nach § 2 SGB IX in seiner aktuellen Fassung Behinderungen anzuerkennen bei Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Abs. 1 Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach Abs. 1 Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben (Abs. 2 Satz 1).

Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft von den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden festgestellt, § 152 Abs. 1 Satz 1 und Satz 5 SGB IX. Die weitere Präzisierung ergibt sich aus der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (VersMedV, BGBl. I S. 2412) sowie insbesondere den VMG gemäß der Anlage zu § 2 der VersMedV.

Die Bemessung des Gesamt-GdB ist in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl. nur BSG, Urteil v. 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R, Rn. 30 m.w.N. aus der Rspr.). In einem ersten Schritt sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. In einem zweiten Schritt sind diese den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann, in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB, in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der maßgebliche Gesamt-GdB zu bilden (BSG, Urteil v. 30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R, juris Rn. 18 m.w.N.). Außerdem sind nach Teil A Nr. 3b VMG bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der VMG feste GdB-Werte angegeben sind (BSG, Urteil v. 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R, Rn. 25).

Die anspruchsbegründenden Tatsachen - d. h. vor allem die medizinische Diagnosen - müssen dabei für das Schwerbehindertenrecht im sogenannten Vollbeweis fälschungssicher erhoben werden und auf Dauer (d. h. mehr als sechs Monate) vorliegen. Hierfür ist ein der Gewissheit nahekommender Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich (BSG vom 27.03.1958 - 8 RV 387/55; Urteil vom 15.12.2016 - B 9 V 3/15 R, juris Rn 26). Diese volle Überzeugung wird nur dann als gegeben angesehen, wenn eine Wahrscheinlichkeit besteht, die nach der Lebenserfahrung praktisch der Gewissheit gleichkommt, weil sie bei jedem vernünftigen, die Lebensverhältnisse klar überschauenden Menschen keine Zweifel mehr bestehen lässt (BSG vom 27.04.1972 - 2 RU 147/71,; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128 Rn. 3b m.w.N.).

Die zur Feststellung dieser Voraussetzungen erforderlichen medizinischen Ermittlungen müssen daher gerichtlich durchgeführt werden. Es handelt sich dabei um umfangreiche Ermittlungen, die entsprechend dem auch für die Auslegung des § 159 SGG heranzuziehenden Rechtsgedanken des § 130 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung sowohl unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie als auch des Erhalts beider Tatsacheninstanzen die Aufhebung und Zurückverweisung an das SG gebieten (so auch LSG NRW im Urteil L 8 R 264/07 a. a. O.). Andernfalls bestünde nicht zuletzt die Gefahr, dass die Sozialgerichte zu schlichten Durchlaufstationen degradiert werden.

Das erkennende Gericht hat daher von dem ihm in § 159 SGG eingeräumten Ermessen unter Abwägung der Interessen der Beteiligten sowie der Allgemeinheit an einer höchstrichterlichen Klärung der dabei streitentscheidenden Grundsatzfragen im entschiedenen Sinne durch Zurückverweisung bei gleichzeitiger Zulassung der Revision Gebrauch gemacht.

 

III. Anordnungen gemäß § 159 Abs. 2 SGG an das SG

Folgendes wird das SG nachzuholen haben (jeweils nach entsprechender Befreiung von Schweigepflichten seitens der Betroffenen, soweit erforderlich):

 

1. Beiziehen der Renten- und anfordern der Personalakten des Klägers verbunden mit einer Arbeitgeberanfrage bei den Arbeitgebern des Klägers danach, inwieweit dieser seit dem 27.03.2020 den an ihn am Arbeitsplatz gestellten Anforderungen gerecht geworden ist und/oder ob es insoweit dienstlich aufgefallen ist, dass er Suchtmittel konsumiert hat, ggf. in welchem Umfang,

2. Anfordern der vollständigen Primärbefunde über die medizinischen Behandlungen und Therapien des Klägers seit dessen Verschlimmerungsantrag, bei Unklarheiten und Lücken in diesen Dokumentationen Vernehmung der entsprechenden Ärzte/Therapeuten als Zeugen,

3. Anfordern eines vollständigen Leistungsverzeichnisses der Krankenversicherung des Klägers über alle ihm gewährten Leistungen sowie eines unverschlüsselten Rentenversicherungsverlaufs des Klägers,

4. Vernehmung des Klägers zu seinem Drogenkonsum und üblichen Tagesablauf seit dem 27.03.2020 sowie zu den von ihm angegebenen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit im täglichen Leben sowie zum gleichen Beweisthema Vernehmung der Ehefrau des Klägers und des vom Kläger benannten Zeugen

5. Sodann Vorgabe von richterlichen Feststellungen zum Drogenkonsum und Tagesablauf des Klägers seit dem 27.03.2020 als Anknüpfungstatsachen für ein gerichtliches Sachverständigengutachten gemäß § 106 Abs 2 Nr 4 SGG mindestens auf dem (Haupt-)Fachgebiet Psychiatrie (mit Zusatzqualifikation in Sozialmedizin oder gleichwertigem medizinischen Brückenfach) zu folgenden Beweisfragen auf Basis der VMG und dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft:

a) In welchem Gesundheits- bzw. Krankheitszustand befand sich der Kläger seit dem 27.03.2020 auf Dauer dh für mindestens 6 Monate, seit – ggf. gestaffelt? (Beweisgrad an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit)

b) Welche Teilhabeeinschränkungen ergaben sich aus den unter a) genannten Erkrankungen seit dem 27.03.2020 auf Dauer und welchen Einzelgrad der Behinderung iSd VMG erreichen die jeweiligen Erkrankungen auf ihrem Funktionsgebiet - ggf gestaffelt (Beweisgrad: an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit)?

c) Liegen zwischen den jeweiligen Funktionsstörungen des Klägers. seit dem 27.03.2020 bezogen auf Teilhabeeinschränkungen Überschneidungen, Wechselwirkungen oder Verstärkungen vor, ggf. inwiefern (Beweisgrad an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit)?

d) Für den Fall, dass keine einzelne Funktionsstörung des Klägers. iSd Fragen a) und b) einen Einzelgrad der Behinderung von mindesten 50 erreicht: Ist der Kläger durch die Gesamtwirkung der bei ihm ggf. auf Dauer seit dem Verschlimmerungsantrag vom 27.03.2020 bestehenden Erkrankungen in gleicher Weise an der Teilhabe gehindert wie ein Mensch, der allein wegen einer Einzelerkrankung auf dem Funktionsgebiet des bei dem Kläger führenden Leiden einen Grad der Behinderung von 50 hat (Beweisgrad an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit)?

e) Welchen Gesamt-GdB halten Sie für den Kläger. ab dem Verschlimmerungsantrag vom 27.03.2020 medizinisch für angemessen (Beweisgrad an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit)?

f) In welchem Gesundheitszustand wird sich der Kläger unter In-Anspruch-Nehmen der medizinisch gebotenen und nicht mit unzumutbaren Nebenwirkungen verbundenen Therapien voraussichtlich auf Dauer weiterhin befinden und welcher GdB folgt daraus (Beweisgrad: überwiegende Wahrscheinlichkeit)?

 

Spätestens nach Eingang des Gutachtens wird das SG auch zu erwägen haben, ob es die vom gerichtlichen Sachverständigen gemachten Angaben nochmals mit denen behandelnder Ärzte abgleicht (insbesondere denen des langjährigen Psychiaters des Klägers P.) und diese dazu in einem gerichtlichen Termin persönlich anhört.

 

Dass ein solches Vorgehen – gerade auch als Korrektiv sonst drohender Fehlbeurteilungen komplexer seelischer Krankheitsbilder wie dem bei dem Kläger in Rede stehenden sinnvoll und geboten ist, belegen die Erfahrungen des erkennenden Gerichts, wie beispielhaft im Verfahren L 13 SB 21/23, das zuvor ebenfalls bei dem SG Köln anhängig war und dessen erstinstanzlicher Entscheidung ebenfalls ein – mangelhaftes - Gutachten zugrunde lag, das eine Dissimulation verkannt hatte. Dieses Protokoll wird hier deswegen exemplarisch im Wortlaut wiedergegen:

 

  • Der Kläger, ausgewiesen durch seinen Personalausweis im Beistand von Herrn xxx der Berichterstatter weist darauf hin, dass sich die Beklagte wegen Erkrankung der Sachbearbeiterin entschuldigt habe.
  • als Zeuge Herr xxx

 

Der Kläger erklärt:

„Ich entbinde meinen Arzt, Herrn xxxx, von seiner ärztlichen Schweigepflicht.“

Sodann wird der Zeuge xxxx hereingebeten und wie folgt vernommen:

 

Vorab überreicht er die vom ihm mitgebrachten Fremdbefunde und die den Kläger betreffende Korrespondenz aus der Patientendatei, die vom Berichterstatter zur Akte genommen wird, mit dem Versprechen, dem Zeugen die Originale nach Fertigung gerichtlicher Kopien zurückzureichen.

 

Sodann wird der Zeuge zunächst zur Person vernommen….

Zur Sache:

„Ich behandele den Kläger seit dem Jahr 2018, im Dezember. Der Kläger ist erstmals im Dezember 2018 zu mir gekommen, mit den Symptomen eines depressiven Syndroms. Das heißt Schwindel, Panikattacken - alles was dazu gehört. Der damals erhobene Befund war der, dass der Patient zu allen Qualitäten orientiert war, in der Stimmung depressiv bis subdepressiv und im Antrieb erheblich reduziert, der Affekt war verflacht. Es gab keinen Anhalt für eine Psychose und auch nicht zur Suizidalität. Bei der Erstbehandlung wurde die Möglichkeit und die Motivation des Patienten zu einer psychotherapeutischen Behandlung besprochen.

 

Gleichzeitig habe ich mit Einverständnis des Patienten Medikamente verordnet und zwar handelte sich um Citanopram 10 mg und Prometazin 10 mg, jeweils morgens und abends. Später habe ich die Medikation am Abend auf Metazapin verändert. Zunächst 15 dann 30 mg. Die erstmalige Änderung war im Dezember ´19. Das Metazapin ist ein a-typisches Antidepressivum und wird auch als Schlafmittel verwandt. Er hat mir auch von seinen Schlafproblemen berichtet. Zunächst war die Arbeitsdiagnose eine mittelgradige Depression mit akutem Zustand. ICDF 32.1, später dann F.33.1, was eine rezidivierende depressive Störung bedeutet. Die Möglichkeit einer Psychotherapie hat sich im Sinne einer niederfrequenten Psychotherapie, nicht im Sinne einer tiefenpsychologischen Therapie verwirklicht. Das führe ich selbst durch, denn ich bin selbst zugelassener Psychotherapeut. Das seit 32 Jahren. Ich möchte noch ergänzen, dass die Therapie deswegen niederfrequent durchgeführt wird, weil sich neurotische Anteile in seiner Krankheitsgeschichte nicht eruieren lassen und sie daher stützend durchgeführt wird. Es handelt sich nämlich um eine reaktive Depression als Reaktion auf die diversen Krankheiten und die damit zusammenhängenden Schmerzen, insbesondere und weitere Folgen, ebenfalls die familiären und sozialen Zusammenhänge. Ich beziehe mich auf die damals erhobene ausführliche Anamnese, wie sie auch in den Akten des Gerichts dokumentiert ist. Am Anfang fanden natürlich probatorische Sitzungen statt mit Fragestellungen, ob eine Therapie überhaupt möglich ist. Die stützenden Sitzungen muss man sich so vorstellen, als die Zeit vom 50 Minuten, die allerdings auch gesplittet werden kann, etwa alle 2 Monate bis einmal im Quartal. Zunächst wird der Status erhoben und dann das Gespräch geführt.“

 

Befragt zu seinem Eindruck vom Kläger hinsichtlich seiner Entwicklung erklärt der Zeuge:

„Ich würde sagen, es gab Phasen von Euphorie, vor allem, als der Kläger in einer neuen Beziehung war, zu Beginn. Diese Beziehung ist dann im Jahr 2020 allerdings auch schon schnell wieder auseinandergegangen. Zusammengekommen mit der neuen Partnerin - was auch eine längere Phase der Annäherung und auch mit Höhen und Tiefen war – ist der Kläger im Jahr 2020 und dann nach relativ kurzer Zeit schon wieder geschieden worden. Danach ging es ihm dann deutlich schlechter. Es ist allerdings nicht sicher zu sagen, was hier eigentlich Ursache und Wirkung ist. D. h. ob die Trennung Ursache der Verschlechterung war oder die Gesundheitssituation des Klägers als Ursache für die Trennung. Ich möchte noch dazu sagen, dass nach meinem Eindruck in der Persönlichkeitsstruktur des Klägers eine Ambivalenz vorliegt, in dem Sinne, dass er sich einerseits sehr stark nach Verschmelzung und Nähe sehnt, dies aber andererseits nicht zulassen kann. D.h. dass ihm eine solche Nähe auch Angst macht. Was dann letztlich auch eine Abwehr der Nähe hervorruft bis hin zu einer Zerstörung der Beziehung.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob der Zustand des Klägers heute eher schlechter zu bewerten sei als zu Beginn der Behandlung erklärt der Zeuge:

„Ich würde sagen: eher schlechter. Dazu ist allerdings auch noch zu erwähnen, dass es im letzten Jahr beim Kläger einen Hörsturz gab. Ich habe hier notiert:  im März 23. Psychische Dekompensation. Die Kur, die der Kläger gemacht hat, war allerdings vorher. Ich habe den Kläger damals auch krankgeschrieben. Ich habe notiert, dass neben dem Hörsturz und Schwindel auch noch Halswirbelsäulenbeschwerden bestanden. Der Zustand hat sich dann etwas gebessert, allerdings ist nach meinen Unterlagen der Tinnitus gleichgeblieben. Später im Juli ist dann der Halswirbelsäulenbefund vom MRT gekommen und zwar ist das eine Arthrose.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters wie der Umstand zu werten sei, dass der Kläger trotz der beschriebenen Schwierigkeiten noch vollschichtig arbeitet, und ob die Arbeit ggf. eine schützende Funktion habe oder ob der Kläger auf Kosten der Gesundheit arbeite, erklärt der Zeuge:

„Zu bedenken ist, dass es sich damals um eine akute Situation handelte und der Kläger tatsächlich arbeitsunfähig war. Später ist er dann wieder arbeiten gegangen. Es hat sich eine gewisse Annäherung an die zweite geschiedene Ehefrau ergeben, sodass die beiden fast wieder zusammen sind. Das ist allerdings auch wechselhaft und schwierig. Es ist schwer einzuschätzen, ob es dem Kläger jetzt bessergeht. Es ist mal so, mal so. Der Kläger hat auch selbst erkannt, dass die Arbeit für ihn eine stabilisierende Funktion hat. Er hat mir berichtet, dass es ihm zuhause nicht bessergehe, dass er dort grübele und nicht Schlaf finde. Auch ist das alleine leben für ihn schwierig. Er lebt allerdings tatsächlich alleine und nicht mit der früheren Frau zusammen, sie sehen sich nur gelegentlich. Wie vorhin beschrieben, mit Blick auf die dargelegten Ausführungen zur Ambivalenz in der Persönlichkeit des Klägers hat diese Beziehung zugleich auch eine für ihn stabilisierende Funktion. Ich möchte allerdings nicht falsch verstanden werden in dem Sinne, dass der Kläger beziehungsunfähig sei. Zu bedenken ist auch, dass seine frühere Frau, von der gerade sprach, ihrerseits in ihrer Persönlichkeit nicht einfach ist.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob der Zeuge Zweifel daran habe, ob der Kläger die von ihm verordneten Medikamente nehme, erklärt er:

„Ich habe daran keinen Zweifel. Er meldet sich regelmäßig, wenn die Medikamente verbraucht sind und nach meinem Eindruck nimmt er die regelmäßig.“

 

Der Zeuge fährt fort:

„Ich möchte noch ergänzen, dass ich natürlich auch Patienten habe, die eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zum Beispiel begehren, wo ich als behandelnder Arzt Zweifel am medizinischen Hintergrund habe. Bei dem Kläger ist es jedoch umgekehrt. Er ist immer wieder mit Beschwerden gekommen und hat keine entsprechenden Bescheinigungen verlangt. Nur dann wenn es gar nicht mehr ging, sich krankschreiben lassen und auch nur dann, wenn ich es ausdrücklich selber empfohlen habe. Ich habe keine Zweifel an dem, was er vorbringt auch nicht an der Objektivität seiner Beschwerden. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass er eher dissimuliert. Er hat erkannt, dass er ohne die Arbeit keine andere Perspektive hat und dass es ihm bessergeht, wenn er weiterarbeitet. Die Arbeit ist sozusagen für ihn eine wichtige psychische Prothese.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob der Kläger das Gutachten von Herrn Dr. YYYY mit ihm besprochen habe, erklärt der Zeuge:

„Er hat das mitgebracht und ich habe es kurz überflogen. Ich möchte hier keine Kritik am Kollegen üben, aber letztlich aus meiner Sicht als behandelnder Arzt ist es hinsichtlich der Beurteilung ein Unding, den Kläger so einzuschätzen. Mit Unding meine ich allerdings nur, dass es in der kurzen Zeit sehr schwierig ist, einen Probanden so einzuschätzen. Ich meine, dass es besser wäre, wenn die Probanden mehrere Male von den Gutachtern gesehen würden.“

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob es aus Sicht des Zeugen noch etwas Wichtiges zum Kläger und seiner Behandlung zu ergänzen gäbe, erklärt der Zeuge:

„Ja, das ist der Fall. Ich möchte noch aus den Gesprächen mit dem Kläger ergänzen, dass er sich sehr frustriert fühlt und auch nicht wertgeschätzt, vor dem Hintergrund, dass er seit seinem 18. Lebensjahr, seit er nach Deutschland kam, ununterbrochen arbeitet. Teilweise war auch eine Rückkehr in die Türkei ein Thema. Aber auch dort sieht er für sich keine Perspektive und es fehlt ihm an einer Wertschätzung.“

 

Auf Nachfrage des Klägerbevollmächtigten, ob dem Zeugen von Seiten des Klägers über Kontakte zu Arbeitskollegen oder sonstigen Bekannten oder Freunden berichtet wurde, erklärt der Zeuge:

„Nein. Nach meiner Einschätzung ist mit der Erkrankung auch ein erheblicher sozialer Rückzug verbunden, zumindest solche Tendenzen.“

 

Der Kläger erklärt, befragt vom Berichterstatter, ob das vom Zeugen soeben Gesagte auch seinem persönlichen Eindruck entspreche:

„Ja, das stimmt.“

 

Der Zeuge erklärt noch ergänzend und resümierend:

„In dem, was ich sagte, kommt auch die Resignation des Klägers zum Ausdruck, in dem Sinne, dass er es so empfindet nicht gesehen zu werden, auch im Vergleich zu anderen, die möglicherweise erheblich geringere Beschwerden haben und in ihren jeweiligen Anträgen auf Schwerbehinderung oder Sonstigen Erfolg haben.“

 

Die Erklärungen des Zeugen und des Klägers sowie seines Bevollmächtigten werden laut diktiert und genehmigt. Auf nochmaliges Vorspielen wird allseits verzichtet. Anträge auf Vereidigung des Zeugen werden nicht gestellt.

 

Der Berichterstatter weist darauf hin, dass die Erklärungen des Zeugen auch für ihn ausgesprochen aufschlussreich und glaubhaft erscheinen und einen anderes Bild vom Kläger ergeben.

 

Der Berichterstatter weist darauf hin, dass ein neues Gutachten vom Amts wegen eingeholt werden soll, weil das Gutachten von Herrn Dr. YYYY aus gerichtlicher Sicht nicht überzeugt. Auch die dort durchgeführten Testungen ergeben nur eine Scheinobjektivität und nach den glaubhaften Erklärungen des Zeugen ist ein zutreffendes Bild von der Persönlichkeit und der Erkrankung des Klägers bislang sachverständig nicht erhoben worden.

 

Auf Nachfrage des Berichterstatters an den Kläger und den anwesenden Zeugen, ob zur Begutachtung ein Dolmetscher für die türkische Sprache hinzugezogen werden solle, erklärt der Kläger:

„Ich kann deutsch. Es ist nur manchmal so, dass ich auch auf Türkisch keine Worte finde. Das hat nichts mit der Sprache zu tun, ich brauche keinen Dolmetscher.“

 

Der anwesende Zeuge bestätigt, dass die Therapie ohne sprachliche Schwierigkeiten aus Sicht der deutsch-türkischen Sprachübersetzung durchgeführt werden könne.

 

Der Kläger erklärt, indem er den Berichterstatter anblickt:

„Manchmal möchte ich gar nicht leben, manchmal kann ich noch nicht mal oder möchte ich noch nicht mal sprechen.“

 

Abschließend macht der Berichterstatter zur vollständigen Erledigung des Rechtsstreits folgenden Vergleichsvorschlag:

 

Mit Blick darauf, dass die Erklärungen des gehörten Zeugen glaubhaft waren und auch der Kläger einen persönlich glaubwürdigen Eindruck macht, erscheint es dem Berichterstatter plausibel, dass beim Kläger tatsächlich eine erhebliche Einschränkung der Gestaltungs- und Erlebnisfähigkeit in dem Ausmaß vorliegt, dass allein die Bewertung der psychischen Erkrankung mit einem Grad der Behinderung von 50 angemessen sein dürfte. Hinzu kommt, dass auch die Tinnitus-Erkrankung des Klägers, die sich nach den Erklärungen des gehörten Zeugen im letzten Jahr nach dem erlebten Hörsturz deutlich verschlechtert hat, wohl zu gering bewertet ist. Insoweit liegt auch noch kein gerichtliches Gutachten vor. Mit Rücksicht darauf, dass eine erneute gerichtliche Beweiserhebung durch ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten sowie ein weiteres Hals-Nasen-Ohrenärztliches Gutachten unter Auswertung der vorhandenen Akten und Befunde aller Wahrscheinlichkeit nach mindestens noch ein weiteres Jahr dauern würde und mindestens noch 5000 bis 6000 € kosten würde, regt der Berichterstatter an, dass die Beklagte beim Kläger mit Wirkung ab heutigen Tage, d. h. dem 19.01.2024, einen Gesamtgrad der Behinderung von 50 anerkennt und die Kosten der Beteiligten gegeneinander aufgehoben werden. „

 

An diesem Beispiel zeigt sich: Erst durch die unmittelbare Begegnung mit den betroffenen Menschen von Angesicht zu Angesicht ist es für das Gericht möglich, seiner Aufgabe gerecht zu werden, die Angaben eines Sachverständigen anhand externer Quellen zu überprüfen um zu einem eigenen Urteil zu gelangen (oder – besser noch -  zu einem sachgerechten Vergleichsvorschlag). Ein solches Vorgehen (das i.Ü. auch erhebliche Kosten einsparen kann) sollte daher sozialgerichtlicher Standard sein, und das nicht erst in der zweiten Instanz.

 

Dabei ist dem erkennenden Gericht bewusst, dass die hiermit verlangten tatrichterlichen Anstrengungen unter den erstinstanzlich in NRW üblichen Bedingungen mit einer Belastung von rund 600 Verfahren pro Richterstelle nicht zu leisten sind, zumal sich die Lage in der Sozialgerichtsbarkeit von NRW durch die Vorgabe einer weiteren Einsparung von 20 % des Personals seitens der Justizverwaltung weiter verschärfen wird. Die (bundes-)gesetzlichen Vorgaben der Aufklärung des Sachverhalts mit dem Ziel der Gewinnung einer an Sicherheit grenzenden Gewissheit sind aber nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts für die Sozialgerichte maßgeblich – unabhängig von der jeweiligen Haushaltslage. Daher ist der Haushaltsgesetzgeber des Landes NRW stets verpflichtet, die Sozialgerichte auch in NRW so auszustatten, dass sie ihren bundesgesetzlichen Aufgaben in der vom Bundessozialgericht vorgegebenen Weise nachkommen können.

 

IV. Für die Zulassung der Revision ist die Erwägung maßgeblich, dass die Vorgaben, die dem SG hier gemäß § 159 Abs. 2 SGG erteilt wurden, insofern grundsätzliche Bedeutung haben, als sie auf einer zum Teil von der bisherigen Gerichtspraxis abweichenden Auslegung revisiblen Rechts, nämlich der §§ 103, 106, 128 SGG beruhen. Dabei geht es um die Auslegung der vorgenannten Normen des Bundesrechts und die danach zugrunde zu legenden Maßstäbe für medizinische Sachverständigengutachten nach den VMG sowie ihre richterliche Vorbereitung und Auswertung.

 

Betroffen sind dabei zwar insofern auch Tatfragen, für die grundsätzlich das erkennende Gericht in NRW als letzte Tatsacheninstanz zuständig ist. In Tatfragen von allgemeiner Natur im Sinne von Erfahrungssätzen oder von Qualitätsmaßstäben hat die höchstrichterliche Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte jedoch bereits klargestellt, dass auch ein Revisionsgericht hierzu – generellen – Beweis erheben darf und muss, wenn es dies für geboten erachtet. Dies ist so bereits durch den Bundesgerichtshof (BGH) in der mit den hiesigen Fragen vergleichbaren Frage nach den allgemeinen Qualitätsanforderungen an aussagepsychologische Gutachten geschehen und hat zu der Beweisaufnahme und dem Urteil des BGH vom 30.07.1999 – 1 StR 618/98 – geführt. Mit dieser Rechtsprechung – der sich i.Ü. auch das BSG angeschlossen hat, vgl. zuletzt Urteil vom 15.12.2016 – B 9 V 3/15 R – hat der BGH eine grundlegende Klärung der Qualitätsansprüche für psychologische Gutachten herbeigeführt, ähnlich der Klärung, die hier mit diesem (und weiteren für die Zulassung der Revision vorgesehenen Parallelverfahren) angestrebt wird. Mit der Zulassung der Revision ist dabei gleichzeitig der Weg zu einer höchstrichterlichen Beurteilung der hier nach § 159 Abs 2 SGG formulierten Beweisfragen eröffnet.

 

Damit verbunden ist die Hoffnung, dass das BSG – soweit möglich -  generelle Vorgaben dazu macht, in welchen Fällen zur Vorbereitung eines Gutachtens die Primärbefunde beizuziehen und/oder die behandelnden Ärzte in verstärktem Maße persönlich zu hören sind, ggf. z.B. weil die Angaben aus den Behandlungskontexten zunehmend unzuverlässig sind (wozu allerdings bislang valide Daten fehlen, weswegen das erkennende Gericht die beabsichtige Befragung einer repräsentativen Gruppe von Sachverständigen beabsichtigt hatte, die hier jedoch bislang an der Gerichtsverwaltung von NRW scheiterte).

 

Dass das erkennende Gericht dabei den Weg der konsentierten Einzelrichtentscheidung gewählt hat, hängt damit zusammen, dass der erkennende Senat seit rund drei Jahren keinen regulären Vorsitzenden hat, sondern im drei-Monats-Wechsel von unterschiedlichen Senatsvorsitzenden vertretungsweise geschleppt wird, so dass es im erkennenden Senat keinen festen Spruchkörper gibt.

 

V. Die im Tenor enthaltene Kostenentscheidung ist rein deklarativer Natur. Denn durch die Zurückverweisung ist der erstinstanzliche Gerichtsbescheid – einschließlich seiner Kostentscheidung – aufgehoben und das Verfahren in den Zustand vor dem aufgehobenen Urteil zurückversetzt. Das SG wird bei Abschluss des Verfahrens von Amts wegen gemäß § 193 SGG über die Kosten des gesamten Verfahrens zu entscheiden haben.

 

[1] Der Text verwendet zur besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum, es sind jedoch alle Ge­schlechter gemeint.

[2] Z.B. Ebert, H.: Divergierende Einschätzung des Leistungsvermögens von Rentenklägem in Gutachten des Rentenversicherers und der Sozialgerichte bei Anträgen auf Erwerbsminderungsrente. Dissertation Hamburg, 2010.

[3] Vgl. dazu Rau/Gaidzik/Schiltenwolf, Vergütung medizinischer Sachverständigengutachten nach dem JVEG - Deutsche Bundesländer im Vergleich, MedSach 2018, 50 ff.; ähnl. schon Widder/Gaidzik, Leistungsgerechte Vergütung nach dem Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz, MedSach 2005. 127 ff.

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