L 5 KR 1137/23

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 7 KR 433/21
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 1137/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

 

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 20.09.2023 wird zurückgewiesen.

 

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits im Berufungsverfahren.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Der Streitwert wird endgültig auf 651,37 Euro festgesetzt.

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten um die Höhe eines Festzuschusses für Zahnersatz.

 

Der Kläger ist der Ehemann der am 00.00.0000 im Alter von 71 Jahren verstorbenen Frau V. (im Folgenden: Versicherte). Diese war bis zu ihrem Tod bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.

 

Die Versicherte beantragte unter Vorlage zweier Heil- und Kostenpläne des Zahnarztes U. vom 12.11.2020 bei der Beklagten die Kostenübernahme für einen Zahnersatz. Die Beklagte beauftragte am 27.11.2020 den Zahnarzt G. mit der Erstellung eines Gutachtens.

 

G. kam in seinem Gutachten vom 08.12.2020 zu dem Ergebnis, dass die Planung den Richtlinien entspreche und der Behandlungsplan befürwortet werde. Die Beklagte bewilligte daraufhin mit Bescheid vom 16.12.2020 den vorgelegten Heil- und Kostenplan. Zugleich wies sie darauf hin, dass die Versicherte kein vollständiges Bonusheft habe. Sie – die Beklagte – beteilige sich daher mit 60 Prozent an den Kosten des Zahnersatzes.

 

Die Versicherte erhob dagegen Widerspruch und machte geltend, in ihrem Bonusheft fehle lediglich ein einziger Stempel in den letzten 10 Jahren für das Jahr 2019. Bei ihr hätten jedoch besondere Umstände vorgelegen, die die Durchführung eines Zahnvorsorgetermins verhindert hätten. Sie sei im Frühjahr 2019 schwer an Krebs erkrankt. Sie habe sich zwei lebensgefährdenden Operationen unterziehen müssen. Die Erkrankung, Behandlung, Rehabilitation, Nachsorge usw. hätten sich über das ganze Jahr 2019 hingezogen, so dass ein Zahnvorsorgetermin nicht möglich gewesen sei. Sie habe Anfang März in F. (S.), wo sie überwintert habe, einen Schlaganfall erlitten. Während des achttägigen Krankenhausaufenthaltes dort sei ein Magenkarzinom festgestellt worden. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland sei sie kurzfristig zur weiteren Diagnostik bis Ende März 2019 in der L. in I. stationär aufgenommen worden. Dort habe sie auch eine beidseitige Lungenembolie erlitten. Am 15.04.2019 sei eine präoperative Chemotherapie aufgenommen worden. Im Juni sei sie dann wegen der ebenfalls bestehenden COPD im J. in R. in stationärer Behandlung gewesen. Ende Juni 2019 sei dann im Rahmen eines stationären Aufenthaltes in der L. die Magen-OP erfolgt; es seien der Magen, die Gallenblase und ein Lymphknoten entnommen worden. Nachfolgend sei ihre Lunge kollabiert, so dass sie zehn Tage in ein künstliches Koma versetzt worden sei. Sie habe sieben Wochen auf der Intensivstation behandelt und künstlich beatmet werden müssen. Nach dem Klinikaufenthalt sei sie im September 2019 in einer Anschlussheilbehandlung in C. gewesen. Danach habe sie sich „zurück ins Leben kämpfen“ müssen. Sie habe 15 kg Gewicht verloren gehabt, sei sauerstoffpflichtig gewesen, habe an Übelkeit, Schwindel, Appetitlosigkeit, Erschöpfungszuständen und innerer Unruhe gelitten. Sie habe das Laufen und vor allem das Essen neu erlernen müssen, habe insbesondere unter häufigen Durchfällen gelitten. Zusätzlich habe sie zum Dezember 2019 an Erkältungsinfekten gelitten, der starke Husten habe zu einem Narbenbruch geführt. Zudem sei zu betonen, dass sie – nachgewiesen durch entsprechende Bonushefte – seit dem Jahr 1989 lediglich in den Jahren 1993 und 2019 die erforderlichen zahnärztlichen Untersuchungen nicht habe durchführen lassen.

 

Zum Nachweis legte die Versicherte eine Kopie ihres Bonusheftes vor, das jährliche Zahngesundheitsuntersuchungen in den Jahren 2005 bis 2020 mit Ausnahme des Jahres 2019 nachweist. Zudem übersandte sie eine Bescheinigung des Zahnarztes U., wonach sie am 21.10.2019 und 09.12.2019 Untersuchungstermine vereinbart hatte, diese aber wegen ihrer schweren Erkrankung habe absagen müssen. Ihre Hausärztin X. bestätigte zudem, dass die Versicherte auf Grund ihrer schweren Krebserkrankung 2019 nicht in der Lage gewesen sei, zu reinen Vorsorgemaßnahmen das Haus zu verlassen.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.05.2021 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch der Versicherten als unbegründet zurück. Die Festsetzung des Festzuschusses sei entsprechend der Festzuschussrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) erfolgt. Es sei kein Bonus berücksichtigt worden. Die Voraussetzungen der Härtefallregelungen des § 55 Abs. 2 und 3 SGB V seien nicht erfüllt gewesen. Der Gesetzgeber habe kein Ermessen vorgesehen, wenn während der letzten fünf Jahre nicht in jedem Kalenderjahr die Vorsorgeuntersuchung durchgeführt worden sei.

 

Am 28.05.2021 hat die Versicherte vor dem Sozialgericht I. Klage erhoben. Sie hat ihre Ausführungen aus dem Widerspruchsverfahren widerholt und vertieft. Die von ihr durchlittenen Erkrankungen im Jahr 2019 stellten einen Ausnahmefall i.S.d. § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V dar.

 

Nachdem die Versicherte am 00.00.0000 verstorben war, hat der Ehemann als Alleinerbe seiner Ehefrau das Verfahren fortgeführt.

 

Der Kläger hat beantragt,

 

unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 16.12.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2021 die Beklagte zu verpflichten, den Antrag auf die Gewährung von Festzuschüssen im Hinblick auf deren Höhe unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Sie hat die Ausführungen im Widerspruchsbescheid für zutreffend gehalten. Die Bonusregelung zur Erhöhung der Festzuschüsse sei zwar zum 01.10.2021 (gemeint wohl: „2020“) versichertenfreundlicher gestaltet worden. Demnach bleibe in begründeten Ausnahmefällen ein einmaliges Versäumnis einer Vorsorgeuntersuchung folgenlos und wirke sich auf die Erhöhung der Festzuschüsse nicht aus. Eine Vorgabe möglicher Ausnahmetatbestände erfolge in der Vorschrift nicht. Beispielhaft könne eine akute, schwere Erkrankung angeführt werden. Es gelte aber zu beachten, dass sich die Neuregelung auf Grund des ausdrücklichen Bezugs auf § 55 Abs. 1 Satz 5 SGB V ausschließlich auf die zusätzliche Erhöhung der Festzuschüsse um weitere 5% beziehe. Sofern die Zahnvorsorgeuntersuchung also in den letzten fünf Kalenderjahren vor Behandlungsbeginn versäumt worden sein sollte, sei eine Erhöhung der Festzuschüsse ausgeschlossen. Das Versäumen könne daher nur dann folgenlos bleiben, wenn für die letzten fünf Jahre ein lückenloser Nachweis erbracht sei. Zudem sei darauf hinzuweisen, dass auch bis zu dem Beginn der Erkrankung der Verstorbenen im März 2019 die Möglichkeit der zahnärztlichen Untersuchung bestanden habe, diese aber nicht genutzt worden sei.

 

Auf Anforderung des Gerichts hat der Kläger die Rechnung des Zahnarztes U. vom 19.02.2021 über Gesamtkosten i.H.v. 6.184,60 Euro vorgelegt. Danach betrug der Festzuschuss 2.605,48 Euro, der Eigenanteil 3.579,12 Euro. Darüber hinaus hat er eine Kopie eines Kontoauszuges der Eheleute vorgelegt, wonach der Eigenanteil an der prothetischen Versorgung am 08.03.2021 an den behandelnden Zahnarzt überwiesen wurde.

 

Auf Nachfrage des Gerichts hat der Kläger sein Begehren konkretisiert und die Erstattung eines weiteren Betrages von 651,37 Euro geltend gemacht.

 

Mit Urteil vom 20.09.2023 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, den Antrag auf die Gewährung von Festzuschüssen im Hinblick auf deren Höhe unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden. Entgegen der Auffassung der Beklagten setze § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V nicht voraus, dass die einmalige Versäumung eines zahnärztlichen Vorsorgeuntersuchungstermins in den Jahren sechs bis zehn vor Behandlungsbeginn erfolgt sei und die Untersuchungen in den fünf Jahren vor Behandlungsbeginn nicht versäumt worden seien. Dies ergebe sich schon nicht aus dem Wortlaut der Norm. Aus der Historie und den Gesetzesmaterialien lasse sich ein solches Verständnis ebenfalls nicht ableiten. Auch die Systematik, insbesondere der Vergleich mit § 55 Abs. 1 S. 4 und 5 SGB V spreche gegen die Auffassung der Beklagten. Überdies komme nach den Schilderungen des Krankheitsverlaufes der Versicherten im Jahr 2019 ein Ausnahmefall i.S.d. § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V in Betracht. Das Vorliegen eines solchen habe die Beklagte auch nicht bestritten. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache hat das Sozialgericht überdies die Berufung zugelassen.

 

Gegen das der Beklagten am 05.12.2023 zugestellte Urteil hat diese am 20.12.2023 Berufung eingelegt. Es gelte zu beachten, dass sich die Regelung des § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V aufgrund des ausdrücklichen Bezugs auf § 55 Abs. 1 Satz 5 SGB V ausschließlich auf die zusätzliche Erhöhung der Festzuschüsse um weitere 5 % beziehe. Sollte die Zahnvorsorgeuntersuchung also in den letzten fünf Kalenderjahren vor Behandlungsbeginn versäumt worden sein, so sei eine Erhöhung der Festzuschüsse ausgeschlossen. Folglich könne das Versäumen einer Zahnvorsorgeuntersuchung in den letzten zehn Jahren erst folgenlos bleiben, sofern für die letzten fünf Kalenderjahre vor Behandlungsbeginn ein lückenloser Nachweis erbracht werden könne. Dem entsprechend habe der Gesetzgeber kein Ermessen vorgesehen, wenn während der letzten fünf Jahre nicht in jedem Kalenderjahr die Vorsorgeuntersuchung durchgeführt worden sei. Diese Auffassung werde auch durch die Ausführungen der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung auf deren Homepage gestützt: Danach greife die Ausnahmeregelung des § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V nur für den sog. großen Bonus nach zehn Jahren. Lägen die Voraussetzungen für den kleinen Bonusanspruch nach fünf Jahren nicht vor, greife die Regelung hingegen nicht. Es müsse immer die lückenlose Inanspruchnahme der Untersuchungen für mindestens fünf Jahre unmittelbar vor der Behandlung nachgewiesen werden können. Diese Auffassung sei auch durch das SG München in einem Gerichtsbescheid vom 28.12.2022, Az: S 61 KR 1010/22 bestätigt worden.

 

Zudem sei ein Ausnahmefall i.S.d. § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V vorliegend nicht erkennbar. Die Verstorbene habe sich im Jahr 2019 bis einschließlich März in S. aufgehalten. Danach sei es zu folgenden stationären Aufenthalten gekommen:

 

• 20.03. – 29.03.2019: Krankenhausaufenthalt

• 07.06. – 11.06.2019: Krankenhausaufenthalt

• 24.06. – 28.08.2019: Krankenhausaufenthalt

• 02.09. – 23.09.2019: Rehabilitationsmaßnahme

• 23.10.2019: vorstationäre Krankenhausbehandlung

 

Es habe ausweislich der der Beklagten vorliegenden Pflegegutachten (vom 07.05.2019 und vom 18.10.2019) für die Verstorbene sehr wohl die Möglichkeit bestanden, ambulante ärztliche Termine wahrzunehmen. So habe sie im September 2019 angegeben, dass sie ihren Hausarzt zweimal monatlich, den Onkologen einmal im Quartal, die Diabetologin einmal im Monat und den Orthopäden einmal im Quartal in Begleitung aufsuche. Ganz offensichtlich sei die Verstorbene im Jahr 2019 damit gesundheitlich durchaus in der Lage gewesen, zwischen dem Auslandsaufenthalt, den Krankenhausaufenthalten und der Rehabilitationsmaßnahme Ärzte verschiedener Fachrichtungen allein oder in Begleitung zur ambulanten Behandlung aufzusuchen. Gleiches wäre daher auch bei der Zahnvorsorgeuntersuchung möglich gewesen. Zudem könne eine Zahnvorsorgeuntersuchung in Ausnahmefällen auch als Hausbesuch durchgeführt werden.

 

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

 

das Urteil des Sozialgerichts I. vom 20.09.2023 abzuändern und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt sinngemäß,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Insbesondere stelle die über zehn Monate bestehende krankheitsbedingte Unmöglichkeit der Wahrnehmung eines Vorsorgetermins durch die Verstorbene einen Ausnahmefall i.S.d. § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V dar.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten ist Gegenstand der Beratung gewesen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat kann gem. §§ 153 Abs. 1 i.V.m. 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich alle Beteiligten zuvor hiermit einverstanden erklärt haben.

 

Die vom Sozialgericht nach § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG zugelassene und form- und fristgerecht i.S.d. § 151 SGG eingelegte Berufung der Beklagten ist auch im Übrigen zulässig, jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsbescheidungsklage des Klägers i.S.d. § 54 Abs. 1. S. 1 SGG stattgegeben. Der Kläger ist durch den streitgegenständlichen Bescheid vom 16.12.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2021, mit dem die Beklagte die Gewährung höherer Festzuschüsse als 60 Prozent der nach § 57 Abs. 1 S. 6 und Abs. 2 S. 5, 6 SGG festgesetzten Beträge abgelehnt hat, beschwert i.S.d. § 54 Abs. 2 SGG. Nach dem Tod seiner Ehefrau ist er insbesondere klagebefugt, weil die Möglichkeit besteht, dass ihm als Rechtsnachfolger der geltend gemachte Anspruch zusteht. Die Ablehnung von Festzuschüssen i.H.v. weiteren 15 Prozentpunkten über den bereits gewährten erweist sich als rechtswidrig.

 

A. Der Kläger ist prozessführungsbefugt. Er ist zwar nicht Sonderrechtsnachfolger seiner verstorbenen Ehefrau geworden (dazu unter I.). Er kann den Anspruch jedoch als Gesamtrechtsnachfolger geltend machen (dazu unter II.).

 

I. Nach dem Tod seiner Ehefrau ist der Kläger in Bezug auf den hier streitigen Anspruch nicht Sonderrechtsnachfolger nach § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB I geworden. Danach stehen beim Tode der berechtigten Person fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen an erster Stelle dem Ehegatten zu, wenn dieser mit der berechtigten Person zur Zeit ihres Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat. Vorliegend hat der Kläger als Ehemann der Versicherten zwar zum Zeitpunkt ihres Todes mit dieser in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. In Streit steht vorliegend jedoch keine laufende Geldleistung.

 

„Laufend“ ist eine Geldleistung grundsätzlich dann, wenn sie regelmäßig wiederkehrend für bestimmte Zeitabschnitte gezahlt wird (vgl. Groth in jurisPK-SGB I, 4. Auflage 2024, § 56 Rn. 15, Stand: 15.06.2024). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 26.09.2006 – B 1 KR 1/06 R Rn. 11; Urteil vom 03.07.2012 – B 1 KR 6/11 R Rn.11; Urteil vom 08.09.2015 – B 1 KR 14/14 R Rn. 24; Beschluss vom 01.04.2019 – B 1 KR 1/19 B Rn. 8) können zwar auch Kostenerstattungsansprüche nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 13 Abs. 3 S. 1 SGB V) als laufende Geldleistungen angesehen werden. Erforderlich ist aber, dass der Kostenerstattungsanspruch über mehrere Zeitabschnitte selbst beschaffte Leistungen betrifft. An letzterer Voraussetzung fehlt es vorliegend. Denn ausweislich der vorgelegten Rechnung vom 19.02.2021 wurde die streitige zahnprothetische Behandlung der Versicherten im Zeitraum vom 10.12.2020 bis zum 19.01.2021 durchgeführt. Sie erstreckte sich damit zwar faktisch über zwei Abrechnungsquartale. Sie erfolgte aber insgesamt nur über einen Zeitraum von etwas mehr als einem Monat und wurde mit einer einzigen Gesamtrechnung abgerechnet. Eine Vorfinanzierung für eine sich über einen gewissen Zeitraum erstreckende Gesamtbehandlung erfolgte damit gerade nicht.

 

II. Der Kläger ist jedoch Gesamtrechtsnachfolger gemäß § 58 SGB I i.V.m. § 1922 BGB seiner verstorbenen Ehefrau geworden. Er hat insoweit einen Erbschein des AG R. vom 17.05.2022 vorgelegt, der ihn als Alleinerbe der Versicherten ausweist. Als solcher ist er zur weiteren Geltendmachung des durch die Versicherte bereits eingeklagten Anspruchs berechtigt.

 

B. Die Voraussetzungen des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V sind erfüllt. Danach sind, sofern eine Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Vorliegend sind der Versicherten durch die Ablehnung der Beklagten, einen weiteren Anteil i.H.v. 15 Prozent als Festzuschuss zu zahlen, Kosten i.H.v. 651,37 Euro entstanden. Die Notwendigkeit der zahnprothetischen Behandlung steht zwischen den Beteiligten nicht in Streit; sie entsprach nach dem Gutachten des G. insbesondere den Richtlinien und wurde insgesamt von der Beklagten genehmigt. Die Beklagte hat die Zahlung des weiteren Anteils auch zu Unrecht abgelehnt.

 

Der Anspruch auf die Gewährung von Festzuschüssen richtet sich nach § 55 Abs. 1 SGB V, hier anzuwenden in der ab 01.10.2020 geltenden Fassung. Die Norm lautet:

 

Versicherte haben nach den Vorgaben in den Sätzen 2 bis 7 Anspruch auf befundbezogene Festzuschüsse bei einer medizinisch notwendigen Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen (zahnärztliche und zahntechnische Leistungen) in den Fällen, in denen eine zahnprothetische Versorgung notwendig ist und die geplante Versorgung einer Methode entspricht, die gemäß § 135 Abs. 1 anerkannt ist. Die Festzuschüsse umfassen 60 Prozent der nach § 57 Abs. 1 Satz 6 und Absatz 2 Satz 5 und 6 festgesetzten Beträge für die jeweilige Regelversorgung. Für eigene Bemühungen zur Gesunderhaltung der Zähne erhöhen sich die Festzuschüsse nach Satz 2 auf 70 Prozent. Die Erhöhung entfällt, wenn der Gebisszustand des Versicherten regelmäßige Zahnpflege nicht erkennen lässt und der Versicherte während der letzten fünf Jahre vor Beginn der Behandlung

  1. die Untersuchungen nach § 22 Abs. 1 nicht in jedem Kalenderhalbjahr in Anspruch genommen hat und
  2. sich nach Vollendung des 18. Lebensjahres nicht wenigstens einmal in jedem Kalenderjahr hat zahnärztlich untersuchen lassen.

 

Die Festzuschüsse nach Satz 2 erhöhen sich auf 75 Prozent, wenn der Versicherte seine Zähne regelmäßig gepflegt und in den letzten zehn Kalenderjahren vor Beginn der Behandlung die Untersuchungen nach Satz 4 Nr. 1 und 2 ohne Unterbrechung in Anspruch genommen hat. In begründeten Ausnahmefällen können die Krankenkassen abweichend von Satz 5 die Festzuschüsse nach Satz 2 auf 75 Prozent erhöhen, wenn der Versicherte seine Zähne regelmäßig gepflegt und in den letzten zehn Jahren vor Beginn der Behandlungen die Untersuchungen nach Satz 4 Nummer 1 und 2 nur mit einer einmaligen Unterbrechung in Anspruch genommen hat.

 

Dass die Versicherte dem Grunde nach einen Anspruch auf die Gewährung der Festzuschüsse hatte, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Die Beteiligten streiten vielmehr allein um die Höhe der zu gewährenden Festzuschüsse. Insbesondere geht es um die Frage, ob das einmalige Versäumnis der Durchführung eine Zahnvorsorgeuntersuchung im Jahr 2019 unberücksichtigt bleiben kann.

 

C. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V sind vorliegend erfüllt. Die Verstorbene hatte insbesondere in den letzten zehn Jahren vor Beginn der Behandlungen die Untersuchungen nach Satz 4 Nummer 1 und 2 nur mit einer einmaligen Unterbrechung in Anspruch genommen (dazu unter I.). Es liegt überdies auch ein begründeter Ausnahmefall vor (dazu unter II.).

 

I. Die Erhöhung der Festzuschüsse von 60 auf 75 Prozent setzt tatbestandlich zunächst die regelmäßige Zahnpflege – die zwischen den Beteiligten unstreitig ist – sowie darüber hinaus voraus, dass in den letzten zehn Jahren vor Beginn der Behandlungen die Untersuchungen nach Satz 4 Nummer 1 und 2 nur mit einer einmaligen Unterbrechung in Anspruch genommen wurden. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist es danach für den Anspruch nicht erforderlich, dass das einmalige Versäumnis einer Vorsorgeuntersuchung mehr als fünf Jahre zurückliegt. Auch eine (einjährige) Vorsorgelücke in den letzten fünf Jahren vor Antragstellung erfüllt die tatbestandlichen Vorrausetzungen (so auch Blöcher in Hauck/Noftz, SGB V, § 55 Rn. 68 <Stand: Mai 2022>).

 

1.) Der Wortlaut des § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V stützt die Auffassung der Beklagten nicht. Dort heißt es, dass lediglich ein einmaliges Versäumnis der Vorsorgeuntersuchung „in den letzten zehn Jahren vor Behandlungsbeginn“ erfolgt sein darf. Eine nähere Eingrenzung, dass das Versäumnis mehr als fünf Jahre zurückliegen müsse, ist der Formulierung hingegen nicht zu entnehmen.

 

2.) Auch den Gesetzesmaterialien kann die Einschränkung, wie sie von der Beklagten vertreten wird, nicht entnommen werden. § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V in der hier maßgeblichen Fassung vom 06.05.2019 wurde durch das Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung (Terminservice- und Versorgungsgesetz – TSVG, BGBl. I 2019, S. 646) mit Wirkung zum 01.10.2020 eingeführt. In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt, dass die Bonusregelung zur Erhöhung des Festzuschusses für Zahnersatz versichertenfreundlicher ausgestaltet werden solle (vgl. BT-Drs. 19/8351, S. 217). Zwar verweist der Gesetzgeber auf die bislang geltende Rechtslage und führt aus, dass die versicherte Person bisher nur dann einen Anspruch auf einen weiteren Bonus über die vorhergehende Erhöhung hinaus habe, wenn er regelmäßig seine Zähne gepflegt und in den letzten zehn Kalenderjahren vor Behandlungsbeginn die Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig in Anspruch genommen habe. Allein die Erwähnung des weiteren Bonus über die vorhergehende Erhöhung hinaus bedeutet aber nicht, dass auch nach der gesetzlichen Neuregelung ein Festzuschuss von 75 Prozent nur dann erfolgen soll, wenn die Vorrausetzung eines Zuschusses i.H.v. 70 Prozent vorliegen. § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V ist vielmehr als eigenständiger Tatbestand zu verstehen, der Versicherten bei Erfüllung der dort genannten Voraussetzungen einen autonomen Anspruch auf den 75-prozentigen Festzuschuss eröffnen sollte, unabhängig davon, ob die Voraussetzungen für den 70-prozentigen Zuschuss nach § 55 Abs. 1 S. 3, 4 SGB V erfüllt wurden oder nicht. Dafür spricht schon, dass der Gesetzgeber bei Einführung des Satzes 6 zum 01.10.2020 auch den Wortlaut des Satzes 5 geändert hat: Während Satz 5 in der bis zum 30.09.2020 geltenden Fassung noch von einer Erhöhung um weitere 10 vom Hundert sprach, wurde in der ab 01.10.2020 geltenden Fassung der Betrag von 75 Prozent festgeschrieben. Die Abhängigkeit von der ersten Erhöhung wurde damit sprachlich aufgehoben. Im Übrigen wäre es auch anders nicht zu erklären, warum der Gesetzgeber weder im Gesetzeswortlaut noch in der Begründung explizit darauf hingewiesen hat, dass das Versäumnis der Vorsorgeuntersuchung mehr als fünf Jahre zurückliegen müsse, anstatt sich für die Formulierung „in den letzten zehn Jahren“ zu entscheiden.

 

3.) Ein anderes Ergebnis ist auch der Gesetzessystematik nicht zu entnehmen. Zwar sieht § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V ausdrücklich eine Erhöhung der Festzuschüsse auf 75 Prozent abweichend von Satz 5, nicht aber auch von den Sätzen 3 und 4 vor, in denen die Erhöhung auf 70 Prozent geregelt ist. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass die Voraussetzungen der Sätze 3 und 4, also u.a. ein lückenloser Nachweis über Vorsorgeuntersuchungen in den letzten fünf Jahren, kumulativ zu den in Satz 6 genannten vorliegen müssten. Die Formulierung „abweichend von Satz 5“ ist vielmehr im Zusammenhang mit der Angabe zur Höhe der Festzuschüsse, nämlich 75 Prozent, zu lesen. Deren grundsätzliche Gewährung regelt allein Satz 5, so dass auch nur eine abweichende Reglung von dieser Vorschrift getroffen werden musste.

 

4.) Sinn und Zweck der zum 01.10.2020 neu eingeführten Reglung war es, die Bonusregelung zur Erhöhung des Festzuschusses für Zahnersatz versichertenfreundlicher auszugestalten. In begründeten Ausnahmefällen soll zukünftig ein einmaliges Versäumen einer Vorsorgeuntersuchung folgenlos bleiben (so der Wortlaut der Gesetzesbegründung, vgl. BT-Drs. 19/8351, S. 217). Eine versichertenfreundlichere Regelung wird aber nur erreicht, wenn sich bei einem Blick ins Gesetz auch für einen juristischen Laien unmittelbar erschließt, unter welchen Voraussetzungen er Anspruch auf die begehrte Leistung hat. Dieses Ziel wird nur dann erreicht, wenn entsprechend dem Wortlaut der Regelung ein einmaliges Versäumnis innerhalb der vorausgegangen zehn Jahre – gleich in welchem Jahr – als folgenlos angesehen werden kann.

 

5.) Soweit die Beklagte für ihre Rechtsauffassung auf die Homepage der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) sowie auf einen Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München verweist, führt dies zu keinem anderen Ergebnis.

 

a) Die KZBV führt auf ihrer Informationsseite zu Festzuschüssen bei Zahnersatz (https://www.kzbv.de/festzuschuesse-zum-zahnersatz.37.de.html) Folgendes aus:

 

Die Ausnahmeregelung greift aber nur für den sog. großen Bonus nach 10 Jahren. Liegen die Voraussetzungen für den kleinen Bonusanspruch nach 5 Jahren nicht vor, greift die Regelung nicht. Es muss daher immer die lückenlose Inanspruchnahme der Untersuchungen für mindestens 5 Jahre unmittelbar vor der Behandlung nachgewiesen werden können.

 

Inhaltlich stützt dies zwar die Auffassung der Beklagten. Letztlich handelt es sich aber hierbei lediglich um die Rechtsauffassung der KZBV, der keinerlei Bindungswirkung zukommt.

 

b) Und auch der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München (vom 28.12.2022 – S 61 KR 1010/22) ist zur Stützung der Rechtsauffassung der Beklagten nicht ergiebig. Auch wenn das Sozialgericht der Auffassung der Beklagten möglicherweise gefolgt sein sollte, so macht es in der zitierten Entscheidung jedenfalls keinerlei Ausführungen zu der hier streitigen Rechtsfrage und setzt sich mit der Problematik in keinster Weise auseinander. Es stellt lediglich fest, dass die Voraussetzungen für den niedrigeren Bonus nicht vorlägen und führt sodann aus, dass keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich seien, dass der dortigen Klägerin aus gesundheitlichen Gründen eine zahnärztliche Untersuchung im streitigen Jahr unmöglich gewesen sei. Letztere Ausführungen lassen – anders als es die Beklagte meint – vielmehr darauf schließen, dass bei Darlegung ausreichender gesundheitlicher Gründe das Sozialgericht den höheren Zuschuss möglicherweise doch zugesprochen hätte.

 

II. Des Weiteren lag auch ein begründeter Ausnahmefall i.S.d. § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V vor. Die Versicherte war aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert, im Jahr 2019 eine zahnärztliche Vorsorgeuntersuchung durchführen zu lassen.

 

1.) Bei der gesetzlichen Formulierung „begründeter Ausnahmefall“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass vorliegend eine sog. Kopplungsvorschrift vorliegt, in der unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen miteinander kombiniert werden. Zwar wird in einem solchen Fall der Ermessensspielraum der Verwaltung erheblich eingeschränkt, weil z.T. die gleichen Erwägungen im Rahmen der Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs und bei der Ermessensausübung anzustellen sind (vgl. dazu Groth in jurisPK-SGB I, 4. Auflage 2024, § 39 Rn. 27 <Stand: 15.06.2024>). Ein solches Ergebnis ist aber hinzunehmen, weil nicht ausgeschlossen ist, dass im Rahmen der Einzelfallprüfung noch ergänzende Gesichtspunkte bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen sind.

 

2.) Im hier zu entscheidenden Fall ist das Vorliegen eines begründeten Ausnahmefalles zu bejahen. Wann ein solcher vorliegt, ist gesetzlich nicht näher geregelt. Auch die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 19/8351, S. 217) ist zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs unergiebig. Jedenfalls fallen hierunter aber Sachverhaltskonstellationen, in denen sich die einmalige Unterbrechung der Kontrolluntersuchungen nicht auf ein Versäumnis der versicherten Person zurückführen lässt (vgl. dazu Blöcher in Hauck/Noftz, SGB V, § 55 Rn. 68 <Stand: Mai 2022>). Die Beklagte hat selbst eingeräumt, dass sie einen begründeten Ausnahmefall grundsätzlich bei Vorliegen gesundheitlicher Einschränkungen für gegeben halten würde. Dem ist zuzustimmen, weil gerade bei schweren, langwierigen Erkrankungen die Durchführung einer zahnärztlichen Vorsorgeuntersuchung ggf. nicht möglich sein kann.

 

Gesundheitliche Einschränkungen sind aber nicht nur dann als ein begründeter Ausnahmefall anzusehen, wenn der versicherten Person eine Vorsorgeuntersuchung an allen 365 Tagen innerhalb eines Kalenderjahres nachgewiesen unmöglich war. Ein solches Erfordernis dürfte die Nachweispflicht der Versicherten überspannen, weil in einem solchen Fall für jeden einzelnen Tag ein ärztliches Attest benötigt würde. Ausreichen muss es vielmehr, dass die versicherte Person das Vorliegen einer schweren Erkrankung in einem im Hinblick auf ihre Dauer relevanten Zeitraum nachweist, so dass sich bei objektiver Sichtweise einem neutralen Beurteiler erschließt, dass eine Vorsorgeuntersuchung nicht oder nur unter weiterer Gefährdung oder Beeinträchtigung der Gesundheit möglich bzw. unzumutbar gewesen wäre. In zeitlicher Hinsicht ist dabei zu berücksichtigen, dass nach der gesetzlichen Regelung des § 55 Abs. 1 S. 4 Nr. 2 SGB V das Kalenderjahr zur Durchführung der Vorsorgeuntersuchung vollständig ausgeschöpft werden kann. Aus diesem Grunde dürfte es beispielsweise unzulässig sein, Versicherte, die in der zweiten Jahreshälfte schwer erkranken, auf die Möglichkeit der Vorsorgeuntersuchung in der ersten Jahreshälfte zu verweisen.

 

Nach diesen Grundsätzen war im vorliegenden Fall bei der Versicherten vom Vorliegen eines begründeten Ausnahmefalles i.S. einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung auszugehen. Die Versicherte hatte sich zunächst seit Beginn des Jahres 2019 in S. aufgehalten, wo sie Anfang März einen Schlaganfall erlitt und anschließend ein Magenkarzinom diagnostiziert wurde. Nach Rückkehr folgte ein stationärer Krankenhausaufenthalt zur weiteren Diagnostik in der Zeit vom 20.03. bis zum 29.03.2019, während dessen sie eine Lungenembolie erlitt. Ab dem 15.04.2019 begann der erste von vier Zyklen einer Chemotherapie. In der Zeit vom 07.06. bis zum 11.06.2019 erfolgte ein weiterer stationärer Krankenhausaufenthalt, bei dem die COPD der Versicherten behandelt wurde. Ab dem 24.06. bis zum 28.08.2019 erfolgte ebenfalls stationär die Totalentnahme des Magens, der Gallenblase und eines Lymphknotens, wobei es zu Komplikationen kam, so dass die Versicherte 10 Tage in ein künstliches Koma versetzt wurde und sieben Wochen auf der Intensivstation lag. An den stationären Krankenhausaufenthalt schloss sich vom 02.09. bis zum 23.09.2019 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme an. In der Folgezeit litt die Klägerin am sog. Dumpingsyndrom mit Übelkeit, Schwindel, Appetitlosigkeit, Erschöpfungszuständen und innerer Unruhe bei einem Gewichtsverlust von 15 kg. Im Dezember 2019 kam überdies ein Erkältungsinfekt hinzu, der auf Grund starken Hustens zu einem Narbenbruch der OP-Narbe führte.

 

Angesichts der bei der Versicherten im Jahr 2019 vorliegenden Erkrankungen mit erheblichen körperlichen Auswirkungen erscheint es unmittelbar nachvollziehbar, dass sie in diesem Jahr eine zahnärztliche Vorsorgeuntersuchung versäumte. Ihre Unfähigkeit, zu reinen Vorsorgemaßnahmen das Haus zu verlassen, wird auch von ihrer Hausärztin glaubhaft bestätigt (Attest vom 06.01.2021).

 

Wenn die Beklagte hiergegen anführt, dass die Klägerin ausweislich ihrer Angaben im Rahmen der Pflegebegutachtung sehr wohl zumindest in Begleitung zu Arztbesuchen in der Lage gewesen sei, so lässt diese Auffassung den Unterschied zwischen akut erforderlichen, zu kurativen Zwecken durchgeführten Arztbesuchen und reinen Vorsorgemaßnahmen außer Acht. Letztere treten naturgemäß angesichts einer schweren Krebserkrankung in den Hintergrund, wenn zahlreiche, dringende Behandlungsmaßnahmen schon viel Zeit und Kraft der Erkrankten in Anspruch nehmen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Verstorbene trotz ihrer Erkrankung zweimal einen Termin (am 21.10.2019 und 09.12.2019) zur Durchführung der Vorsorgeuntersuchung bei ihrem Zahnarzt vereinbart hatte (Bescheinigung vom 05.01.2021), diese letztlich aber auf Grund ihrer Erkrankung absagen musste. Der Verweis der Beklagten darauf, dass in Ausnahmefällen eine Vorsorgeuntersuchung auch als Hausbesuch durchgeführt werden könne, verkennt, dass der letzte geplante Vorsorgetermin am 09.12.2019 war. Angesichts der bevorstehenden Feiertage und des Jahresendes, vor dem viele Versicherte noch die notwendige Vorsorgeuntersuchung durchführen lassen wollen, erscheint es auch unwahrscheinlich, dass ein Hausbesuch noch möglich gewesen wäre.

 

III. Lagen damit die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V vor, so war die Verurteilung der Beklagten im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens zu einer Neubescheidung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts durch das Sozialgericht nicht zu beanstanden.

 

D. Der Vorschlag zur Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 183 S. 2 SGG und § 154 Abs. 2 VwGO. Insbesondere war das Verfahren für den Kläger nicht nach § 183 S. 1 SGG kostenfrei, weil eine Sonderrechtsnachfolge i.S.d. § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB I nicht vorliegt (s.o.).

 

Eine Kostenfreiheit nach § 183 S. 2 SGG liegt ebenfalls nicht vor, weil die Versicherte bereits am 00.00.0000 und damit noch während des erstinstanzlichen Verfahrens verstorben ist. Das Berufungsverfahren war daher nicht mehr von der Kostenprivilegierung des § 183 S. 2 SGG umfasst.

 

E. Gründe für die Zulassung der Revision i.S.d. § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

 

F. Der Vorschlag zur Festsetzung des Streitwertes für das Berufungsverfahren beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 52 Abs. 1 und 3 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 GKG.

 

Rechtskraft
Aus
Saved