L 5 KR 364/22

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 35 KR 960/21
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 364/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Im Einzelfall kann sich ein Anspruch auf Kostenübernahme für eine kieferorthopädische Behandlung mittels sog. Aligner/Invisalign-Methode aus § 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2, § 28 Abs. 2 Satz 1, § 29 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 2a SGB V ergeben. Dies ist dann gegeben, wenn konventionelle Methoden (wie eine festsitzende Multiband-/Multibracket-Apparatur oder ein herausnehmbares FKO-Gerät) wegen einer schwersten Behinderung (GdB 100) und einer schweren Kiefer- und Zahnfehlstellung sich als ungeeignet erweisen und den besonderen behinderungsbedingten Belangen des Versicherten widersprechen.
2. Dass es sich bei der Aligner/Invisalign-Methode um eine neue Behandlungsmethode im Sinne von § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V handelt, für die es (bisher) keine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses gibt, steht als einfachgesetzlicher Leitungsausschluss der Leistungsgewährung nicht entgegen, wenn sich der Verweis auf die herkömmlichen Behandlungsmethoden und die damit einhergehende Ablehnung der Aligner/Invisalign-Methode als mit dem Benachteiligungsverbot wegen Behinderung gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und den Regelungen über die Gewährung von Gesundheitsdiensten gemäß Art. 25 der UN-Behindertenrechtskonvention als unvereinbar erweist.

 

I. Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 09.08.2022 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Die Beteiligten des Berufungsverfahrens streiten um die Kostenübernahme für eine kieferorthopädische Behandlung mittels sog. Aligner-Therapie.

Die 2009 geborene Klägerin leidet am Phelan-McDermid-Syndrom, einer genetisch bedingten globalen Entwicklungsstörung, einhergehend mit schwerer geistiger Behinderung, fehlender Sprachentwicklung und neuromuskulären Symptomen. Bei ihr besteht ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den Merkzeichen G, aG, H und RF. Sie hat den Pflegegrad 5 und leidet unter einer schweren Kiefer- und Zahnfehlstellung (KIG-Einstufung A5).

1.
Unter Vorlage eines kieferorthopädischen (KFO-)Behandlungsplanes des Zahnarztes und Kieferorthopäden H vom 09.10.2020 beantragte die Klägerin, vertreten durch ihre Mutter, zunächst die Kostenübernahme für eine kieferorthopädische Behandlung mit voraussichtlichen Gesamtkosten i.H.v. 3.919,60 Euro, die die Beklagte mit Bescheid vom 27.10.2020 bewilligte.

Mit auf den 16.08.2020 datiertem Schreiben (Eingang bei der Beklagten am 28.10.2020) beantragte H unter Vorlage eines KFO-Behandlungsplanes vom 12.10.2020 die Kostenübernahme der kieferorthopädischen Behandlung der Klägerin mittels Aligner-Therapie mit voraussichtlichen Gesamtkosten i.H.v. 6.591,14 Euro. Dabei verwies er auf ihre besondere gesundheitliche Situation, darauf, dass die Behandlung aus medizinischen und nicht aus ästhetischen Gründen durchgeführt werden solle sowie darauf, dass Behandlungsalternativen zur kausalen Behebung des Problems nicht vorhanden seien.

Der daraufhin von der Beklagten beauftragte Medizinische Dienst der Krankenkassen in Bayern (MDK Bayern) kam in seiner zahnmedizinischen Begutachtung nach Aktenlage vom 09.12.2020 (übermittelt am 15.12.2020) zu dem Ergebnis, dass die kieferorthopädische Behandlung der Klägerin mittels Aligner-Therapie nicht zu befürworten sei. Die Korrektur der vorliegenden Bisslage mit Alignern sei mechanisch nicht möglich. Die im Behandlungsplan angegebenen Ziele könnten damit mechanisch nicht erreicht werden. Die Bisslage könne grundsätzlich chirurgisch korrigiert werden oder mittels Zahnextraktionen. Eine Kompromissbehandlung sei auch mit konventionellen Mitteln möglich. Die KIG-Einstufung A5 von H wurde bestätigt und zudem wurden die KIG-Einstufungen S4, E5 und D5 festgestellt.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 28.12.2020 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Die Invisalign-Technik zähle zu den außervertraglichen Leistungen und sei im Ersatzkassenvertrag Zahnärzte (EKV-Z) nicht geregelt, weil im Rahmen einer vertragszahnärztlichen kieferorthopädischen Behandlung eine ausreichende und zweckmäßige Versorgung mit herausnehmbaren und/oder festsitzenden Behandlungsgeräten, auf die der Gutachter in seiner Stellungnahme hingewiesen habe, sichergestellt sei.

Am 18.01.2021 rief H bei der Beklagten an, und wies darauf hin, dass die Krankheit der Klägerin eine Behandlung mittels Multiband-Apparatur ausschließe. Es könne nur eine Therapie mittels Aligner erfolgen (Aktenvermerk der Beklagten vom 18.01.2021). Mit Widerspruch vom 19.01.2021 (bei der Beklagten eingegangen am 21.01.2021) wandte sich auch die Mutter der Klägerin gegen die Entscheidung vom 28.12.2020.

Mit E-Mail vom 05.02.2021 reichte H eine ausführliche ärztliche Stellungnahme (wohl versehentlich datiert auf den "16.08.2021") ein. Die Behauptungen der Gutachterin, eine Aligner-Therapie würde "deutlich länger andauern" und "die therapeutischen Ziele können damit mechanisch nicht erreicht werden", seien schlicht nicht haltbar. Dafür gebe es zahllose Gegenbeispiele und Urteile. Eine Aligner-Therapie sei für die Klägerin und ihre Mutter das einzig praktikable Therapiemittel. Die Patientin akzeptiere kaum Fremdkörper im Mund. Eine konventionelle aktive Platte oder ein funktionskieferorthopädisches (FKO-)Gerät würde nicht getragen werden. Eine Multiband-Apparatur sähe er äußerst kritisch bzw. unter keinen Umständen als praktikabel an. Erstens weil diese Apparatur äußerst pflegeintensiv sei und bei der Patientin bereits die normalen Mundhygienemaßnahmen von der Mutter äußerst schwierig umgesetzt werden könnten. Zweitens sei die festsitzende Apparatur relativ reparatur- und SOS-anfällig (Druckstellen, Verrutschen und Stiche der Bogen, Bracketverlust, ...). Drittens müsste alle 4-8 Wochen der Bogen gewechselt werden; es sei jedoch keine Compliance ohne Narkose möglich, was aus nachvollziehbaren Gründen ebenfalls nicht praktikabel und ethisch vertretbar wäre. Die Klägerin müsse für jede zahnärztliche und kieferorthopädische Intervention und Inspektion in eine Intubationsnarkose (ITN) versetzt werden. Die Aligner hingegen könne die Mutter der Klägerin zuhause einsetzen und wechseln. Sie lägen wie eine "zweite Haut" auf den Zähnen an und reduzierten das Fremdkörpergefühl auf ein Minimum. Die Therapie sei für die Verbesserung der Kau- sowie der Myofunktion nötig. Der ursprüngliche Kassenplan sei mit konventionellen Apparaturen beantragt worden, da Aligner nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) enthalten seien. Um dennoch eine zeitnahe Genehmigung einzuholen, habe er es für am sinnvollsten erachtet, den konventionellen Plan einzureichen und anschließend über einen privaten Heilkostenplan eine Aligner-Therapie zu beantragen. Das Gutachten des MDK sei eine völlige Ausblendung der tatsächlichen schwierigen Umstände des schweren Falles und der damit einhergehenden Ausnahmesituation.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.05.2021 hielt die Beklagte an ihrer Auffassung fest. Bei der Aligner-Therapie handele es sich um eine neue Behandlungsmethode. Eine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesauschusses (G-BA) liege nicht vor. Die Krankenasse dürfe daher keine Kosten für die kieferorthopädische Behandlung mittels Aligner-Therapie übernehmen. Der MDK habe darüber hinaus auf die Methoden der konventionellen kieferorthopädischen Behandlung verwiesen. Diese sei bereits mit Bescheid vom 27.10.2020 bewilligt worden.

2.
Gegen die vorgenannten Verwaltungsentscheidungen (Zugang des Widerspruchbescheids am 28.05.2021) hat die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten am 28.06.2021 Klage zum Sozialgericht München (SG) erheben lassen und den Anspruch auf Kostenübernahme der Aligner-Therapie auf die Vorschrift des § 2 Abs. 1a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) gestützt. Bei der Klägerin liege eine wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vor, wie sie der Gesetzgeber in § 2 Abs. 1a SGB V normiert habe. Das Phelan-McDermid-Syndrom, von dem es weltweit nur ca. 1.000 diagnostizierte Fälle gebe, äußere sich bei der Klägerin als eine primär genetisch bedingte globale Entwicklungsstörung, die mit schwerer geistiger Behinderung, mangelnder Sprachentwicklung und ausgeprägter Muskelhypotonie einhergehe. Sie könne weder verbal kommunizieren, noch stehen oder gehen und ohne Hilfsmittel nicht selbstständig sitzen. Dies bedinge die Besonderheit im Rahmen einer zahnmedizinischen Behandlung: Die Klägerin könne bei einer Behandlung nicht mitwirken. Eine schwere Zahn- und Kieferfehlstellung betreffe viele Menschen. Die Behandlung einer solchen Zahn- und Kieferfehlstellung bei der Klägerin sei aufgrund der Erkrankung am Phelan-McDermid-Syndrom nicht vergleichbar mit der Behandlung einer Person, die nicht an diesem Syndrom erkrankt sei. Dies habe das Gutachten des MDK Bayern verkannt. Der große Vorteil der gewünschten Behandlungsmethode liege in der Mundhygienefähigkeit, da die Aligner herausgenommen werden könnten. Dies sei gerade bei motorisch beeinträchtigen Patienten ein großer Vorteil, der Zahnschädigungen vorbeuge. Die konventionelle Behandlung sei bei der Klägerin nur durch massiven Einsatz von Narkose möglich. Tatsächlich müsse jeder Behandlungsschritt sowie jeder der vom MD vorgeschlagenen "engmaschigen" Kontrolltermine in Narkose erfolgen. Eine Einstellung der festen Apparatur in Narkose mache keinen Sinn, da jegliches Feedback unmöglich sei. Der Zahnarzt sei bei der Einstellung einer festen Apparatur zumindest auf eine körperliche Reaktion angewiesen, da er wissen müsse, ob die geänderte Einstellung noch erträglich sei. Eine solche Reaktion könne unter Narkose nicht erfolgen. Diese Einstellung übernehme bei Alignern der Computer, der insoweit passgenauer arbeiten könne. Eine ITN sei lediglich ca. jährlich notwendig, da auch die Aligner-Therapie eine regelmäßige Überwachung, Diagnostik und Zwischenauswertungen erfordere und zudem sog. Case Refinements mit virtueller Planung von Korrekturschienen. Schließlich sei nach § 2a SGB V den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen (Klagebegründung vom 09.12.2021 und Schriftsatz vom 08.02.2022).

Die Beklagte hat auf ihre bisherige Argumentation verwiesen (Erwiderung vom 10.01.2022).

Im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage am 26.07.2022 hat die Kammervorsitzende zum Ausdruck gebracht, dass sie das Klagebegehren für begründet hält. Zur Möglichkeit der Entscheidung durch Gerichtsbescheid wurden die Beteiligten angehört. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

Mit Schriftsatz vom 01.08.2022 hat die Beklagte an ihrer Haltung festgehalten.

Mit Gerichtsbescheid vom 09.08.2022 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung der ablehnenden Verwaltungsentscheidungen verurteilt, die Kosten für die Aligner-Therapie der Klägerin zu übernehmen. Die Klägerin habe in ihrem Einzelfall Anspruch auf eine kieferorthopädische Behandlung mittels Aligner-Methode gem. §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, 28 Abs. 2 Satz 1, 29 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 2a SGB V, wonach den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist. Auf die Einzelheiten der ausführlichen Begründung wird Bezug genommen.

3.
Gegen den am 10.08.2022 zugestellten Gerichtsbescheid vom 09.08.2022 hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 01.09.2022 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen darauf verwiesen, dass eine Anspruchsgrundlage für die begehrte Leistung nicht erkennbar sei. Aus § 2a SGB V sei kein Anspruch ableitbar, da es sich (nur) um eine Auslegungsregel handele. Selbst wenn eine andere Art der Korrektur der Zahnfehlstellung der Klägerin nicht in Betracht kommen sollte, könne dies nicht zu einer Leistungsverpflichtung der GKV führen. Denn damit würde einerseits die Anerkennung dieser Methode durch die Hintertür akzeptiert und andererseits dem "amorphen" § 2a SGB V zu viel Gewicht eingeräumt werden (Berufungsbegründung vom 19.09.2022).

In ihrer Berufungserwiderung vom 14.10.2022 hat die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten die Meinung vertreten, dass die Berufung die Begriffe der ausgeschlossenen Leistungen und der nicht vom G-BA anerkannten Leistungen vermenge. Das SG habe nicht verkannt, dass die Aligner-Therapie keine vertragszahnärztliche Leistung sei. Nachdem auf Grund der ausführlichen Stellungnahme des behandelnden Kieferorthopäden H ausreichend belegt sei, dass im Fall der Klägerin auf Grund ihrer Behinderung eine konventionelle Therapie mittels Multiband-Apparatur nicht durchführbar und auch nicht vertretbar sei, sei die begehrte Aligner-Therapie damit wirksam, zweckmäßig und notwendig. Unter Hinzurechnung der Kosten für die vielen notwendigen Narkosen bei einer Multiband-Versorgung sei anzunehmen, dass die begehrte Aligner-Therapie sich im gleichen Kostenrahmen bewege, so dass auch die Wirtschaftlichkeit gewahrt bleibe. Die Beklagte hingegen verweise die Klägerin weiterhin auf eine untaugliche Behandlungsmethode und gebe mit der herabwürdigenden Formulierung "amorph" an, dass der Regelung des § 2a SGB V im Falle einer Aufrechterhaltung der Entscheidung "zu viel Gewicht" eingeräumt werde. Dieser Sichtweise auf die Interessen und Bedürfnisse behinderter Menschen sei eine deutliche Absage zu erteilen.

Mit Schriftsatz vom 07.12.2022 hat die Beklagte nochmals ihre ablehnende Haltung wiederholt. Es sei "absurd", die Zahnfehlstellung der Klägerin als eine notstandsähnliche Extremsituation im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V zu sehen.

Die in der mündlichen Verhandlung am 25.06.2024 (ebenfalls) erschienene Mutter der Klägerin hat auf Nachfrage erklärt, dass inzwischen während des laufenden Rechtsstreits die Aligner-Therapie begonnen worden sei und gute Erfolge zeige. Bislang habe der behandelnde Zahnarzt keine Rechnung gestellt. Er habe auch nicht erwartet, dass in dem besonderen Fall der Klägerin die Leistungen abgelehnt werden könnten und habe insoweit "auf seine eigene Kappe" die Behandlung begonnen.

Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 09.08.2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Im Übrigen wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25.06.2024 sowie die Prozessakten des LSG (L 5 KR 364/22) und des SG (S 35 KR 960/21) und die Verwaltungsakten der Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 09.08.2022 ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), aber unbegründet.

Die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 28.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.05.2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat in ihrem besonderen Einzelfall Anspruch auf Kostenübernahme durch die Beklagte für die begehrte kieferorthopädische Behandlung mittels sog. Aligner-Methode gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2, § 28 Abs. 2 Satz 1, § 29 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 2a SGB V (dazu 1.). Dass es sich bei der Aligner-Methode um eine "neue", bisher nicht empfohlene Behandlungsmethode im Sinne von § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V handelt, steht dem Anspruch der Klägerin gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2, Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und Art. 25 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 03.05.2008 (Behindertenrechts-konvention, UN-BRK), in Deutschland in Kraft seit 01.01.2019, nicht entgegen (dazu 2.).

1. Anspruch aus § 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2, § 28 Abs. 2 Satz 1, § 29 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 2a SGB V

Grundlage der rechtlichen Beurteilung sind zunächst die Vorschriften der § 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2, § 28 Abs. 2 Satz 1 und § 29 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 2a SGB V. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB V die zahnärztliche Behandlung. Nach § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB V zählt die kieferorthopädische Behandlung zur zahnärztlichen Behandlung. Da die Klägerin das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, kommt der Leistungsausschluss wegen Alters mit Ausnahmeregelung nach § 28 Abs. 2 Satz 6 und Satz 7 SGB V vorliegend nicht zum Tragen.

Weiter konkretisiert § 29 SGB V den Anspruch auf zahnärztliche Behandlung in Form der kieferorthopädischen Behandlung. Gemäß dessen Absatz 1 haben Versicherte Anspruch auf kieferorthopädische Versorgung in medizinisch begründeten Indikationsgruppen, bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht.

Nach den gemäß § 29 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4, § 92 Abs. 1 SGB V beschlossenen "Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für die kieferorthopädische Behandlung" (i.d.F. vom 04.06.2003 und vom 24.09.2003, in Kraft getreten am 01.01.2004) ist nach Ziff. B. 2. für eine Behandlung zulasten der GKV eine Einstufung mindestens in den Behandlungsbedarfsgrad 3 der Indikationsgruppen erforderlich.

So liegt der Fall hier: Bei der schwerbehinderten (GdB 100) und unter einer schweren Kiefer- und Zahnfehlstellung leidenden Klägerin ist die Zuordnung zu den kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG) A5, S4, E5 und D5 gegeben (zahnmedizinische Begutachtung des MDK vom 09.12.2020), die jeweils über dem Behandlungsbedarfsgrad 3 liegen. Dementsprechend wurde die kieferorthopädische Behandlung der Klägerin mit Bescheid vom 27.10.2020 bewilligt. Die grundsätzliche Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung sowie der grundsätzliche Anspruch darauf sind daher zwischen den Beteiligten unstrittig. Hiervon ist auch das SG in der angefochtenen Entscheidung ausgegangen.

Zutreffend hat das SG auch § 2a SGBV, wonach den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist, als weitere Anspruchsgrundlage (i.V.m. den o. g. leistungsrechtlichen Vorschriften) für das Begehren der Klägerin herangezogen. Zwar wird § 2a SGB V (nur) als "Auslegungshilfe" zur Konkretisierung des verfassungsrechtlich verankerten Verbots der Benachteiligung behinderter Menschen in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Leistungsrecht der GKV angesehen, die einen gesetzlichen Leistungsausschluss nicht zu überwinden vermag (BSG, Urteil vom 06.03.2012 - B 1 KR 10/11 R, BSGE 110, 94 = BeckRS 2012, 69634, Rn. 12 m.w.N.). Den "besonderen Belangen" Rechnung zu tragen, bedeutet zudem nicht, jegliche Leistung zu jedem Zeitpunkt zur Verfügung zu stellen. § 2a SGB V verpflichtet jedoch, auf die Belange der behinderten oder chronisch kranken Menschen besonders zu achten, d. h. auch im Sinne einer individuellen Medizin dem jeweils individuellen Gesundheitsproblem volle Aufmerksamkeit zu schenken (Plagemann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. Stand: 15.06.2020, § 2a SGB V Rn. 25, m.w.N.). Eine Leistung der GKV ist danach weder ausreichend noch zweckmäßig oder bedarfsgerecht, wenn sie nach Art, Inhalt, Umfang und den Umständen der Leistungserbringung nicht den besonderen Belangen des Leistungsberechtigten entspricht, z. B. wenn sie bestehende Unvereinbarkeiten verschiedener Arzneimittel oder sonstiger Therapiearten nicht beachtet (vgl. Plagemann, a.a.O., Rn. 20).

So liegt der Fall hier: Nach dem durch die Beklagte in der mündlichen Verhandlung letztlich nicht mehr bestrittenen Vortrag des Bevollmächtigten der Klägerin und vor allem der zahnärztlich-kieferorthopädischen Stellungnahme des H vom 05.02.2021 ist der Senat davon überzeugt, dass im besonderen Fall der Klägerin die Aligner-Versorgung das einzig geeignete und praktikable Therapiemittel ist. Konventionelle Methoden (wie eine festsitzende Multiband-/Multibracket-Apparatur oder ein herausnehmbares FKO-Gerät) sind für die Klägerin wegen ihren schweren Erkrankung/Behinderung ungeeignet und würden ihren besonderen behinderungsbedingten Belangen geradezu widersprechen. Die vom MD als Behandlungsalternative genannten Zahnextraktionen widersprechen dem Anspruch der Klägerin auf kieferorthopädische Behandlung und sind zudem ethisch nicht vertretbar vor dem Hintergrund einer möglichen Behandlung mit der Aligner-Methode. Der Senat ist daher der Auffassung, dass im speziellen Fall der Klägerin viel dafür spricht, dass sich die "Auslegungshilfe" des § 2a SGB V vorliegend ausnahmsweise zu einem Anspruch auf die begehrte Aligner-Versorgung verdichtet. Er verkennt dabei nicht, dass es für die Aligner/Invisalign-Methode als neue Behandlungsmethode (bislang) keine Empfehlung des G-BA gibt (dazu sogleich). Vorliegend erfolgt die Aligner-Versorgung jedoch ausschließlich aus zwingenden medizinischen, nicht aus Gründen des Komforts oder der Ästhetik/Diskretion oder gar - wie im Fall des LSG NRW (Beschluss vom 24.05.2017 - L 1 KR 660/15, juris Rn. 24) - aus Rücksichtnahme auf sportliche Aktivitäten des Zahnpatienten. Es liegt auf der Hand, dass es für diese Fallgruppen keinen positiven Beschluss des G-BA gibt und zukünftig wohl auch nicht geben wird.

2. Kein Ausschluss nach § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V

Bei der Aligner/Invisalign-Methode handelt es sich um eine "neue" Behandlungsmethode im Sinne von § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V, für die es (bisher) keine Empfehlung des G-BA gibt (vgl. auch LSG NRW, Beschluss vom 24.05.2027, a.a.O., Rn. 33). Auch dem erkennenden Senat ist nicht bekannt, dass überhaupt ein entsprechendes Antragsverfahren beim G-BA anhängig wäre. Das Benachteiligungsverbot wegen Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) (dazu a.) und die Regelungen über die Gewährung von Zugang zu Gesundheitsdiensten nach Art. 25 UN-BRK (dazu b.) überwinden jedoch im speziellen Fall der Klägerin diesen einfachgesetzlichen Leitungsausschluss (dazu c.).

a. Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden; eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen ist nur zulässig, wenn dafür zwingende Gründe vorliegen. Untersagt sind auf die Behinderung bezogene Ungleichbehandlungen, die für den behinderten Menschen zu einem Nachteil führen. Eine nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verbotene Benachteiligung liegt nicht nur bei Maßnahmen vor, die die Situation von Behinderten wegen der Behinderung verschlechtern. Eine Benachteiligung kann auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten gegeben sein, wenn dieser Ausschluss nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird. Untersagt sind alle Ungleichbehandlungen, die für Menschen mit Behinderungen zu einem Nachteil führen. Erfasst werden auch mittelbare Benachteiligungen, bei denen sich der Ausschluss von Betätigungsmöglichkeiten nicht als Ziel, sondern als Nebenfolge einer Maßnahme darstellt (BVerfG, Beschluss vom 30.01.2020 - 2 BvR 1005/18, juris Rn. 35; m.w.N.).

Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG beinhaltet außer einem Benachteiligungsverbot auch einen Förderauftrag. Er vermittelt einen Anspruch auf die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe nach Maßgabe der verfügbaren finanziellen, personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten (BVerfG, a.a.O., Rn. 35; Beschluss vom 29.01.2019 - 2 BvC 62/14, juris Rn. 56 m.w.N.). Verbreitet wird Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ein Paradigmenwechsel entnommen: Der tradierte sozialstaatlich-rehabilitative Umgang mit behinderten Menschen durch Fürsorge, die das Risiko der Entmündigung und Bevormundung in sich trägt, wird durch einen Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung ersetzt, bei dem nicht nur die benachteiligte Minderheit angesprochen, sondern auch die Mehrheitsgesellschaft in die Verantwortung genommen wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.01.2020, a.a.O., Rn. 36, m.w.N.).

Schließlich ist das Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Grundrecht und zugleich objektive Wertentscheidung. Aus ihm folgt - über das sich aus dem Wortlaut unmittelbar ergebende Verbot der Benachteiligung hinaus - im Zusammenwirken mit speziellen Freiheitsrechten, dass der Staat eine besondere Verantwortung für behinderte Menschen trägt (BVerfG, Beschluss vom 30.01.2020, a.a.O., Rn. 37). Zudem kann sich der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten (zuletzt: BVerfG, Beschluss vom 16.12.2021 - 1 BvR 1541/20, juris Rn. 97). Zu solchen Konstellationen gehört neben der als gezielten Angriff auf die Menschenwürde zu wertenden Ausgrenzung von Personen wegen einer Behinderung die Situation, dass mit einer Benachteiligung wegen Behinderung Gefahren für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter einhergehen, was insbesondere der Fall ist, wenn der Schutz des Lebens in Rede steht (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Darüber hinaus kann sich eine konkrete Handlungspflicht auch in Situationen struktureller Ungleichheit ergeben. Die Schutzbedürftigkeit ist gemindert, wenn die Betroffenen die zumutbare Möglichkeit haben, sich vor einer Schädigung selbst zu schützen oder ihr auszuweichen. Sie hängt zudem von Art, Nähe und Ausmaß der in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorfindlichen oder drohenden Benachteiligungen ab (BVerfG, Beschluss vom 16.12.2021, a.a.O., Rn. 97 m.w.N. zur verfassungsrechtlichen Rechtsprechung).

b. Neben der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist auch die UN-BRK bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen. Die Konvention behandelt den Anspruch auf Gleichbehandlung und das Schutzgebot gegen die Benachteiligung wegen einer Behinderung, die auch in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG enthalten sind. Das Grundgesetz lässt sich ohne weiteres entsprechend auslegen. In der Sache geht auch die Konvention über den deutschen Grundrechtsschutz nicht hinaus (BVerfG, Beschluss vom 16.12.2021, a.a.O., Rn. 102; Beschluss vom 30.01.2020, a.a.O., Rn. 40; jeweils m.w.N. zur verfassungsrechtlichen Rechtsprechung).

Nach Art. 1 Abs. 1 UN-BRK zielt die Konvention darauf, "den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern." Die Vertragsstaaten sind nach Art. 25 BRK insbesondere verpflichtet, Menschen mit Behinderung einen in jeder Hinsicht diskriminierungsfreien Zugang zu der für sie notwendigen Gesundheitsversorgung zu verschaffen. Das entspricht im Wesentlichen dem Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG (BVerfG, Beschluss vom 16.12.2021, a.a.O., Rn. 103 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 15.10.2014 - B 12 KR 17/12 R, juris Rn. 30 f.; BSG, Urteil vom 08.03.2016 - B 1 KR 26/15 R, juris Rn. 24; jeweils m.w.N.).

In Art. 25 UN-BRK anerkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Gesundheitsversorgung ist nach Art. 25 Satz 3 Buchst. a UN-BRK in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard wie anderen Menschen zu gewährleisten. Nach Art. 25 Satz 3 Buchst. b UN-BRK bieten die Vertragsstaaten die Gesundheitsleistungen an, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden. Schließlich ist nach Art. 25 Satz 3 Buchst. f UN-BRK dafür zu sorgen, dass Gesundheitsleistungen nicht aufgrund von Behinderung vorenthalten werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.12.2021, a.a.O., Rn. 106, m.w.N.).

c. Nach diesen Maßstäben erweist sich der Verweis der Beklagten auf die herkömmlichen Behandlungsmethoden und die damit einhergehende Ablehnung der Aligner-Methode (Bescheid der Beklagten vom 28.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.05.2021) als mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und Art. 25 UN-BRK unvereinbar.

Dem legt der Senat zunächst das bei der Klägerin vorliegende Phelan-McDermid-Syndrom als Grundleiden und ihre globale Entwicklungsstörung zugrunde, welche bei der Klägerin mit einer schweren geistigen Behinderung, fehlender Sprachentwicklung und neuromuskulären Symptomen einhergeht und den höchstmöglichen GdB von 100 bedingt. Wie bereits das SG konnte auch der Senat in der mündlichen Verhandlung am 25.06.2024 sich vom Ausmaß der Erkrankung der Klägerin ein Bild machen und feststellen, dass die Klägerin weder verbal kommunizieren, noch stehen oder gehen und ohne Hilfsmittel nicht selbstständig sitzen kann. Dass die ablehnende Entscheidung der Beklagten nicht wegen der Schwerbehinderung der Klägerin erfolgt, ist unerheblich, weil - wie oben aufgezeigt - Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG auch mittelbare Benachteiligungen, die sich als (bloße) Nebenfolge der angegriffenen Maßnahme darstellen, erfasst. Mit den besonderen behinderungsbedingten zahntechnisch-kieferorthopädischen Belangen und Erfordernissen setzt sich die Beklagte in den streitgegenständlichen Verwaltungsentscheidungen indes nicht einmal ansatzweise auseinander. Sie verkennt demgemäß, dass - wie oben unter 1. erläutert - nach der zahnärztlichen Stellungnahme des H vom 05.02.2021 die Aligner-Versorgung das einzig geeignete und praktikable Therapiemittel ist und eine Behandlung mit konventionellen Methoden (wie Multiband-/Multibracket-Apparatur oder FKO-Gerät) bei der Klägerin ungeeignet ist. Die fachliche Einschätzung des H hält der Senat auch deshalb für überzeugend, weil es sich bei H um den behandelnden Zahnarzt und Kieferorthopäden der Klägerin handelt und er sich ausführlich mit den Vor- und Nachteilen der verschiedenen Behandlungsmethoden auseinandergesetzt hat. Demgegenüber beschränkt sich die (nur) nach Aktenlage erstellte Stellungnahme des MDK Bayern vom 15.12.2020 lediglich auf den Vorhalt gegenüber H, warum er zunächst am 09.10.2020 einen Antrag auf Kostenübernahme mittels konventioneller Behandlungsmethoden gestellt hat und auf die formelhafte Feststellung, dass "Die Bisslage grundsätzlich chirurgisch korrigiert werden [kann] oder mittels Zahnextraktionen. Eine Kompromissbehandlung ist auch mit konventionellen Mitteln möglich."

Als weiterer wesentlicher und besonderer Umstand kommt hinzu, dass die Klägerin bei einer zahnmedizinischen Behandlung nicht (aktiv) mitwirken kann und für jede zahnärztliche und kieferorthopädische Intervention und Inspektion in Narkose versetzt werden muss, was mit zusätzlichen, u.U. nicht unerheblichen, gesundheitlichen Risiken verbunden ist. Wie die Mitglieder des Senats aus eigener persönlicher Anschauung wissen, ist eine Einstellung und Nachjustierung der herkömmlichen Behandlungsmethoden (festsitzende Multiband-/Multibracket-Apparatur oder herausnehmbares FKO-Gerät) nur möglich, wenn der Patient sich verbal mitteilen oder zumindest körperlich kommunizieren kann, ob die Apparatur sitzt und ihre Einstellung (noch) erträglich ist. Diese Rückkopplung mit dem Zahnarzt ist der Klägerin nicht möglich. Dabei wird nicht übersehen, dass die Klägerin auch im Falle der begehrten Behandlungsmethode bei jeder zahnärztlich/kieferorthopä-dischen Intervention in Narkose versetzt werden müsste und auch die Aligner-Therapie eine regelmäßige Überwachung und Nachsorge erfordert. Wie die Klägerin unter Bezugnahme auf H überzeugend hat vorgetragen lassen, ist die Überwachung- und Nachsorgefrequenz mit dem jeweiligen Erfordernis der Narkose bei der Aligner-Methode jedoch ungleich niedriger (ca. einmal im Jahr) als bei herkömmlichen Behandlungsmethoden mit Kontrollterminen ca. alle 4 bis 8 Wochen. Ergänzend nimmt der Senat insoweit Bezug auf die Ausführungen des SG im Gerichtsbescheid vom 09.08.2022 (S. 7, 2. Absatz bis S. 9, 1. Absatz), die er sich zustimmend zu Eigen macht (§ 153 Abs. 2 SGG). Nach Auffassung des Senats befindet sich daher die Klägerin in einer Situation ausgeprägter Schutzbedürftigkeit, in der mit der Vorenthaltung der begehrten Leistung und dem Verweis auf herkömmliche Behandlungsmethoden eine Gefahr für ihr grundgesetzlich geschütztes Recht auf Leben nicht ausgeschlossen werden kann, und die es rechtfertigt, dass sich der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nach den oben genannten Grundsätzen vorliegend zu einer konkreten Schutzpflicht verdichtet. Jedes andere Ergebnis ist vor diesem Hintergrund weder medizinisch-ethisch noch juristisch vertretbar.

Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass er für Wirtschaftlichkeitserwägungen (§ 12 SGB V) keinen Raum sieht, nachdem die herkömmlichen Behandlungsmethoden im Vergleich zur begehrten Aligner-Therapie keine gleich geeigneten Methoden sind (vgl. dazu BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R, BeckRS 2022, 37810, Rn. 52 ff.).

Nach alledem konnte die Berufung keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis der erst- und zweitinstanzlichen Entscheidung in der Hauptsache.

Gründe zur Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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